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Beachtenswert und als Anknüpfungspunkt für unsere Arbeit grundlegend bleiben Lohmeyers aus seiner kultgeschichtlichen Betrachtung erwachsene Thesen zur Menschensohn-Christologie und zu Jesu priesterlich-messianischem Wirken. Er wirkt als exorzistischer Kämpfer gegen die dämonischen Kräfte von Sünde, Tod und Teufel. Nach der beginnenden Auswertung der Qumran-Funde hat G. Friedrich88 den Ansatz Lohmeyers aufgenommen. Allerdings beschränkt Friedrich sich auf eine Untersuchung der Wirksamkeit der Hochpriesterchristologie des Urchristentums bei den synoptischen Evangelisten, lässt also offen, ob seine Ergebnisse über die redaktionsgeschichtliche Frage hinaus einen Beitrag zur Darstellung des irdischen Jesus geben können. Dennoch weist Friedrich, die Ansätze Lohmeyers verstärkend, auf die entscheidenden Punkte, von denen her die kultgeschichtliche Betrachtung zu einem klareren Bild des irdischen Jesus vorstoßen kann: Grundlegend sind für Friedrich – im ausdrücklichen Anschluss an K.L. Schmidt89 – die Dämonengeschichten. Jesus sei Exorzist, in Aufnahme der klassischen Priesterfunktion, nämlich der Bekämpfung des dämonischen Einflusses auf den Menschen in Unreinheit, Krankheit und Sünde.90 Dabei gelte: „Jesus ist für ihn (scil. den Geist des Besessenen) nicht irgendein Zauberer, sondern der eschatologische Bezwinger der dämonischen Mächte, der über die bösen Geister Vollmacht hat.“91 Friedrich weist damit indirekt auf die Notwendigkeit, vom kultgeschichtlichen Ansatz her die antidämonische Macht der Priester im Gegenüber zu den von der Institution ‚Kult‘ unabhängigen Formen ‚Magie‘ oder ‚Zauber‘ zu bestimmen. Die alte Sohn-Gottes-Christologie bezieht sich nach Friedrich auf diesen priesterlich-messianischen, antidämonischen Kontext.92 Ebenfalls in den Bahnen der älteren kultgeschichtlichen Betrachtung steht Friedrichs Versuch, Jesu Taufe vom Taufverständnis des Urchristentum als Einführung in den Priesterstand zu verstehen.93 Jesu Taufe sei Weihe zum eschatologischen Hohenpriester; der Geistbesitz sei Salbungsgabe an den eschatologischen Hohenpriester, der so den Dämonen in der Versuchung wirksam widerstehen und das eschatologische Erlassjahr der Befreiung aller ‚Bessessenen‘ ausrufen könne.94 In Anknüpfung an Lohmeyer deutet Friedrich schließlich den Themenkomplex ‚Jesus und der Tempel‘ als Kampf des eschatologischen Hohenpriesters um den Gottesdienst der Endzeit. Christologisch stehe hier der Priestermessias gegen den Anspruch, davidische Tradition erfüllen zu müssen.95 Die Menschensohn-Christologie trennt Friedrich deutlicher als Lohmeyer vom Ansatz der Priestermessianität, obgleich in der Leidenslehre des Johannesevangeliums und des Hebräerbriefes diese Verbindung ausdrücklich gezogen zu sein scheint.
Dass die Gestalt des Hohenpriesters in Traditionen des frühen Judentums messianisch geprägt wurde, gibt für W. Grundmann – im Gegenüber zur klassischen These vom hellenistischen Ursprung – den traditionsgeschichtlichen Anknüpfungspunkt für die Sohn-Christologie der Synoptiker.96 Grundlage sind vor allem TLevi Kapp. 4 und 18, sowie TJuda Kap. 21. Der Hohepriester ist himmlischer Kultdiener und steht im Gegenüber zu Juda in der Würde des himmlischen Königtums; ihm ist geöffnet der Zugang zur himmlisch-eschatologischen Seinsweise der sündlosen Paradiesexistenz.97
Ganz deutlich weist Grundmann darauf hin, dass der Zugang zum himmlischen Königtum und die damit verbundene Sohnes-Christologie erst vor dem Hintergrund der Hochpriester-Lehre ihre Bedeutung gewinnt. Allerdings will Grundmann – mit Jeremias98 – den traditionsgeschichtlichen Zugang zu diesem Komplex in der παῖς-Lehre sehen.99 Die alte Vater-Sohn-Lehre Jesu reduziert Grundmann mit W. Manson auf einen Ausdruck Jesu „persönlichen, religiösen Bewusstseins“.100 Die Gottesknecht-Christologie gehe auf den Irdischen zurück. Da auch der Gottesknecht im Judentum als messianischer Hoherpriester verstanden werden konnte, bezeugten die Evangelien „… die Ineinssetzung von Gottessohn und Gottesknecht, und zwar auf der Grundlage des Nenners ‚messianischer Hoherpriester‘“.101
Diese etwas mathematisch errechnete traditionsgeschichtliche Entwicklung – Sohnbewusstsein, Weg als Gottesknecht und Menschensohn, Umsetzung der Gottesknecht-Lehre, unter Einwirkung der Tradition vom messianischen Hohenpriester als Sohn, zur Sohn-Lehre – würde plausibler, wenn der innere Zusammenhang deutlicher aufgewiesen werden könnte. Dies kann nur so geschehen, dass man die Implikationen der Sohn-Lehre bei Jesus ernstnimmt: Mit ihr ist ein Zugang zum Vater umschrieben, ein direktes Treten in seine heilige Nähe. Dies ist aber auch das Grundanliegen der Hochpriestertradition, die diesen als Intimus Gottes zeichnet. So ist zu fragen, ob die Sohn-Lehre nicht von Anfang die Zugangsberechtigung zur heiligen, himmlischen Nähe Gottes meint und an sich schon immer am Modell der Gottesbegegnung des Hohenpriesters orientiert ist.
In den Arbeiten von Lohmeyer und Friedrich klingt die Frage nach dem Verhältnis von Kultus und πρᾶξις an. Der Kultus ist die öffentliche Institution, welche die Welt verwaltet; dazu gehört auch der Hintergrundsbereich der Welt, biblisch gesprochen der himmlische Teil der Schöpfung. Seit Thompson102 und Mowinckel103 ist es zum Gemeingut der Forschung geworden, das Funktionieren des Kultus vor dem Hintergrund eines ‚magischen‘ Weltbildes zu sehen: Der Kultus regelt das Beziehungsfeld, in dem alles Sein miteinander verbunden ist, im Sinne einer ‚positiven‘ Ordnung. Kultus ist so Ausdruck und Garant einer guten kosmischen und sozialen Ordnung. Der kultisch-rituelle Vollzug bedeutet eine ontologisch wirksame Größe, die negative Schadenskräfte bannt und durch Reaktivierung der Schöpfungsordnung Heil mehrt.104 Auch die Entsühnung, als eine im Alten Orient grundlegende Funktion des Kultes, beruht auf der von der den Kult schützenden obersten Gottheit geschaffenen Möglichkeit, durch rituellen Vollzug Schadenskräfte, welche Unreinheit und Sünde auf Menschen bringen, zurückzuweisen.105
Religionsgeschichtlich scheint der Kult als öffentliche Ordnungsinstitution auf einen Schamanismus zurückzugehen, dessen Wirksamkeit man auch im Bereich des Vorderen Orient und in der biblischen Tradition meint nachweisen zu können.106 Andererseits wird Kultus offenbar ständig begleitet von mehr ‚privateren‘ Formen, die in den vom Kultus verwalteten Bereich eingreifen und sich dem Verdacht der ‚Magie‘ aussetzen.107 Die auch magisch, d. h. auch außerhalb des Kultus, verwendbare Macht des Kultus liegt in der in ihm gehüteten Tradition über das Geheimnis der Schöpfung, ‚was sie im Innersten zusammenhält‘. Vor allem der heilige Name der Gottheit, die Kenntnis dessen, wie sie die Schöpfung geordnet und Himmlisches und Irdisches aufeinander bezogen hat, bilden das Kultgeheimnis. Der Kultus partizipiert so an der gebietenden Schöpfungsmacht der den Kultus haltenden Gottheit.108
Wenn Jesus außerhalb des offiziellen jüdischen Kultus auf die Ebene des himmlischen Schöpfungshintergrundes vorstößt – dies tut er als Exorzist, Bekämpfer von Sünde, Tod und Teufel und in dem von Jeremias als Anspruch auf Weltvollendung umrissenen Zusammenhang –, kommt die diesen Anspruch haltende Christologie in das Kraftfeld der Auseinandersetzung von Kultus und Magie zu stehen. Wenn Jesus von den Dämonen der ‚Heilige Gottes‘ genannt wird, so führt dies vor die Frage, ob er eine Hochpriester-ähnliche Gestalt ist, die in einer eschatologischen und von Gott legitimierten Weise am irdischen Kult vorbei sich vom himmlischen Schöpfungshintergrund aus in die irdischen Dinge einmischt; oder ob er Magier ist, der das Kultgeheimnis unlegitimiert missbraucht.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich mit einer gewissen Notwendigkeit das von M. Smith angeschlagene Thema „Jesus the Magician“.109 Wie der kultgeschichtlichen Betrachtung in der Linie Deissmann/Bertram/K.L. Schmidt/Lohmeyer geht es Smith um einen einheitlichen Ansatz der neutestamentlichen Traditionsbildung, die in ihren wesentlichen Elementen auf den irdischen Jesus zurückgehe. Dazu gehören nach Smith die das Gemeindeleben in seiner ‚vertikalen‘ Ausrichtung bestimmenden Sakramente Taufe und Abendmahl samt ihrer Grundinterpretation. Ferner die Christologie, in der Jesu sich als himmlisches Wesen sehe. Hintergrund für diesen einheitlichen Ansatz ist Smith Rekurs auf das ‚magische‘ Weltbild, welches in Palästina und allgemein im hellenistischen Raum grundlegend sei und religiös ähnliche Ausdrucksformen suche, so dass für Smith Zauberpapyri und Zaubermystik des Judentums (Sefer Ha-Razim) aus motivgeschichtlichen Gründen nebeneinander stehen.
Mit den älteren ‚Kultgeschichtlern‘ verbindet Smith auch der antiliberale Impetus bei der Rekonstruktion einer Christologie schon des irdischen Jesus: „Moreover, the fundamental antithesis, that between ‚the Christ of faith‘ as a mythological figure and ‚the Jesus of history‘ as preacher free of mythological presuppositions, is anachronistic. Where in ancient Palestine would one find a man whose understanding of the world and of himself was not mythological?“110
Im Rahmen eines mythologischen Weltbildes, das wesentlich auf ein Reich himmlischer Zwischenwesen zugeordnet sei, trete Jesus als Wundertäter auf. Gegen die liberale Forschung gilt nach Smith, dass die Wunder, nicht die Lehre Jesu das Ursprüngliche sind. Die Lehre sei bei Jesus esoterische Belehrung des Magiers, während das gesamte halachische Material sekundär in die Jesustradition gekommen sei.111 Jesus sei von Haus unnomistisch; seine Wirksamkeit als Magier gipfele in der sakramental bewirkten Befreiung vom Gesetz. Die Taufe sei bei Jesus geheimer Ritus eines ekstatisch-visionären Eingangs in die himmlische βασιλεία, in der die Tora nicht gelte und von der der Aufsteigende somit befreit werde.112 Das Abendmahl bewirke magische Vereinigung der Teilnehmer mit dem Kultgott, mit dem der Magier sich identifiziere.113 Das Johannesevangelium enthalte wahrscheinlich in Sprüchen der Abschiedsreden über ‚Liebe‘ und ‚Einheit‘ esoterische Abendmahlsworte des Kultstifters.114 Die Vollmacht des Magiers bestehe in dem von ihm kontrollierten Umgang mit der Geisterwelt. Hierin, in der Spannung von Geistbesitz und Besessenheit, liege von Anfang an der Ausgangspunkt für Auseinandersetzungen, die sein Wirken als dämonische Besessenheit eines Magiers oder als theologisch legitime Begabung mit dem Gottesgeist deuten.115
Grundlage ist für Smith auf alle Fälle die magische Kategorie der Vergottung durch Gewinnung eines göttlichen Geistes als πάρεδρος, wie sie die Tauf- und Versuchungsgeschichte andeuten würden.116 Aus der frühen christlichen Tradition einer exorzistischen Benutzung des Jesusnamens werde deutlich: „Such use of the name of course depends on the supposition that the person named is a supernatural power. We have here another form of the notion of Jesus presupposed by the exorcism stories – the notion that he is, or is united with, a supernatural being, so that even his name is a power.“117
Als solches Wesen, das sich zu den κρείττονα γένη gehörig wisse, sei Jesus θεῖος, υἱὸς θεοῦ, θεός, hebr./aram. gehöre er zu den בני אלהים, sei im Sinne apokalyptischer Mythologie himmlischer בר נשא. Wie das geheime Taufsakrament nach Smith magisch eine halluzinatorische Himmelsreise erschließe, so sei Jesus selbst in seinem Geistbesitz/seiner Besessenheit zum magisch-ekstatischen Umgang mit der himmlischen Welt befähigt; diese historische Tatsache spreche noch aus den Überlieferungen des Joh.ev. (3,13), aus dem Hymnus Phil 2,5-11 und aus 2. Kor 12,2-5. „Jesus appears in the gospels as one who knows the world of spirits. This was the age old claim of the goetes, and shamans were also famous for their ascents into the heavens. It was also the claim of the Jewish magician who put together The Book of Secrets (SHR).“118 Die nachösterliche Verehrung des Auferstandenen und Erhöhten bedeute eine Fortsetzung des halluzinatorischen Umgangs der Jünger mit ihrem nun ganz in die Welt des πνεῦμα eingegangenen Meisters, also eine Fortsetzung der spirituellen Übungen, die sie der Irdische gelehrt habe.119
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Smith ist hier nicht möglich.120 Smiths Arbeiten markieren u. a. den extremen Endpunkt einer einheitlich-kultgeschichtlichen Betrachtung der Jesus-Tradition und des Neuen Testaments. Die himmlische Dimension, die für das kultische Weltempfinden so charakteristisch ist, erschlösse sich nicht erst der Kultfrömmigkeit der Gemeinde, sondern schon der irdische Jesus verstände sich als himmlisches Wesen, insofern er sich und seinen Jüngern magisch-rituellen Zugang zum Himmel verschaffte. Der Kultgott, der als himmlisches Wesen das Sakrament stifte, sei der irdische Jesus.
Damit ist deutlich, dass Smith Jesus radikal hellenisiert, ja paganisiert: Das sakramentale Denken hellenistischer Magie hätte auch Jesus erreicht. Damit wird Jesus ganz von der jüdischen Tradition getrennt, mit Teilen von ihr – so mit der häufiger erwähnten Zauberschrift ‚Buch der Geheimnisse‘121 – insofern zu vergleichen, als sich auch hier das heidnisch-magische Denken zeige.
Damit ist die einheitlich-kultgeschichtliche Betrachtung von ihrem hellenistischen Ende her durchgeführt. Diese Lösung ist historisch sehr unwahrscheinlich. Denn das Thema ‚Reich Gottes‘ und der Kampf gegen ‚Sünde, Tod und Teufel‘ markieren Bindungen Jesu an die Kulttradition des Judentums. Der Himmel, zu dem die βασιλεία in enger Beziehung steht, ist nicht das heidnische Pantheon, sondern der Bereich der heiligen Nähe des Gottes Israels. Nicht Liberalismus, sondern eine eschatologische Befähigung, dem heiligen Willen Gottes ohne Tora genügen zu können, sind hier Zielpunkte. Man kann den Zugang zum Himmel, sofern man darin einen inneren Kern der Botschaft Jesu sehen will, nicht an der Apokalyptik vorbei religionsgeschichtlich bestimmen.
Die in der übrigen kultgeschichtlichen Forschung angedeutete Richtung, Jesu Vollmacht aus einer eschatologischen und ins Himmlische reichenden Vollendung des jüdischen Kultes, Jesus als himmlisch-eschatologischen Hohenpriester zu sehen, hat die historische Wahrscheinlichkeit auf ihrer Seite.
C) Zusammenfassung und Ausblick
Jesus als den Erhöhten zu verehren, das war nicht erst eine neue Perspektive der Urgemeinde, sondern diese Betrachtung Jesu geht im Kern zurück auf ihn selbst: So lautet die gemeinsame Grundthese des hier aufgenommenen Teils der kultgeschichtlichen Richtung.
Bertram sprach von einer immanenten kultischen Bedeutung, die Jesus seinen Worten und Taten gäbe, indem er ihnen eine übergeschichtliche, kultisch repräsentierbare Bedeutung zumesse. Bertram verstand diese übergeschichtliche Bedeutung in einem idealistischen, platonisierenden Sinn. Historisch-traditionsgeschichtlich bleibt damit diese von Bertram gespürte immanente kultische Bedeutung des irdischen Jesus unerklärt.
K.L. Schmidts Hinweis auf die chasidische Traditionsbildung ist unter phänomenologischen Gesichtspunkten wertvoll; traditionsgeschichtlich zeigt sie, dass das Bild des zwischen Himmel und Erde mittelnden Hohenpriesters im chasidischen Judentum die Gestalt des schon zu Lebzeiten als über-irdischer Figur verehrten Zaddik prägt. Die kultgeschichtlich angegangene Frage nach dem schon als Irdischer erhöhten, himmlischen Jesus wird seit Schmidt darüber hinaus mit der Bedeutung der Vision(en) für Jesus verbunden.
Diese bei Schmidt stark von der systematischen Fragestellung ‚Eschatologie und Mystik‘ aus geforderte Bedeutung des Visionären bei Jesus wird neuerdings von Müller und Smith in den Mittelpunkt ihres Jesus-Bildes gerückt. Traditionsgeschichtlich bindet Müller den Visionär Jesus, der Einblick in die himmlischen Prozesse hat, an die alttestamentliche Prophetie; die von Müller zurückgewiesene christologische Bedeutung der Vision Lk 10,18 wird jedoch von ihrem Inhalt gefordert, weil es um einen Bereich geht, in dem sonst der rechtlich legitimierte Kultus ordnend eingreift.
Smith deutet den visionären Jesus einseitig von magischen Praktiken der hellenistischen Zauberpapyri her und unterschiebt dem Heimatmilieu Jesu in Galiläa massiv paganisierende Tendenzen.
Angesichts dieser Situation scheint es immer noch verheißungsvoll zu sein, solche christologischen und historischen Ausblendungen durch eine Beleuchtung mit den Fragestellungen und Ergebnissen der älteren Arbeiten von Jeremias und Lohmeyer auszugleichen. Ihnen sind in der Folgezeit G. Friedrich und W. Grundmann gefolgt.
Jeremias wies deutlich hin auf die Rezeption der Kultmotive, ja der Kultideologie der Tempelpriesterschaft in den verschiedenen Gruppen des frühen Judentums. Wenn der Tempel die Schöpfung verwaltet, so stellt Jesu Anspruch auf Vollendung der Welt und Überleitung zur Neuschöpfung ihn in eine Hochpriester-ähnliche Position. Seine Herrschaft über die in der Neuschöpfung vollendete Welt ist begründet in seiner zwischen Himmel und Erde mittelnden Hochpriesterschaft. Sie reißt beide Schöpfungsteile aus ihrer heilsgeschichtlich sekundären Entfremdung heraus.
Noch stärker als Jeremias betont Lohmeyer: Jesus tritt auf mit dem Anspruch des himmlischen, eschatologischen Hohenpriesters. Als Menschensohn ‚verortet‘ er die Schöpfung eschatologisch. Diese neue ‚Verortung‘ beginnt damit, dass die himmlische Basileia, das himmlische Haus Gottes, durch Jesus zugänglich wird.
Jeremias und Lohmeyer messen der überlieferungsgeschichtlichen Echtheits-Prüfung in diesem Zusammenhang keine ausgeführte Beachtung zu. So bleibt die Frage offen, ob in dem auf Jesus zurückgehenden Kern der Menschensohn-Tradition ein Hochpriester-ähnlicher Anspruch zu sehen ist, der im kultgeschichtlichen Sinne auf die eschatologische Neuvereinigung der Schöpfung zielt. Nicht mehr der Tempel, sondern der Menschensohn hat Vollmacht, Sünde zu vergeben und gegen die anti-kultischen Negativ-Kräfte, Sünde, Tod und Teufel, anzugehen. Gibt Jesus als Menschensohn der eschatologischen Neuschöpfung ihren zentrierenden Haltepunkt?
G. Friedrich und W. Grundmann gehen stärker auf die Hochpriester-Tradition bestimmter jüdischer Kreise ein, in denen man einen messianischen Erlöser erwartet, der hochpriesterliche Züge trägt und als solcher Sohn Gottes heißt. Dabei bedarf insbesondere das komplizierte traditionsgeschichtliche Schema von Grundmann der Überprüfung: Ist die Vater-Sohn-Beziehung Jesu zu Gott nicht von vornherein am Modell hochpriesterlichen Tretens vor die Heiligkeit Gottes orientiert?
Damit ergibt sich folgende Aufgabe für diese Untersuchung: Es sind zunächst innerhalb des frühen Judentums Grundlinien der Rezeption des vom Tempel ausgehenden Anspruchs auf Zentrierung der Welt und auf eine heilsame Verbindung der Schöpfungshälften Himmel und Erde aufzuzeigen. Wenn die genannte Forschungsrichtung etwas Richtiges gesehen hat mit ihrer These, dass Jesus als Visionär, als Menschensohn und Sohn des Vaters, als charismatischer Exorzist, als chasidischer Hoherpriester dem Kult von Jerusalem gegenübertrete, dann muss diese Rezeption des Kultanspruchs durch Jesus traditionsgeschichtlich eingebunden werden in eine oder mehrere der Rezeptionslinien des frühen Judentums.
Wir werden dazu im zweiten Hauptteil drei Linien der Rezeption kultischen Zentrierungs- und Mittleranspruchs im frühen Judentum unterscheiden: eine proto-rabbinische, eine apokalyptische, und eine charismatisch-‚praktische‘. Ein dritter Hauptteil wird die Rezeption des Himmel und Erde umfassenden, zwischen den getrennten Schöpfungsräumen mittelnden Anspruchs des Tempels durch Jesus darstellen. Dabei wird die Frage nach dem Verhältnis Jesu zu den jüdischen Rezeptionslinien erörtert. Vor diesem Hintergrund soll ferner eine präzisere Bestimmung der Menschensohn- und der Sohn-Lehre Jesu dargestellt werden, die beide die innere Mitte des Auftretens des irdischen Jesus erschließen. Er hat Zugang zum Himmel, den an die Heiligkeit Gottes stoßenden Grenzbereich der Transzendenz, als Sohn des Vaters; und darauf aufbauend: Er vereint die Schöpfung eschatologisch neu durch seinen Tod, als Menschensohn.
A) Der Tempel als Schnittpunkt der Schöpfung und das Problem seiner Substitution
Religionsgeschichtlich gehören Schöpfungserzählungen in den Bereich kultischer Daseinssicherung: Wer die Zusammenhänge kennt, die einst die gute Schöpfungsordnung gegenüber dem Chaos oder dem unvordenklichen Nichts abgrenzten, kann auch in der Gegenwart durch Rezitation und Symbolisierung diesen guten Urzustand repräsentieren. Diese Zusammenhänge von Kultus und Mythos gelten von den primitiven Kulturen des ganzen Erdballs bis hin zu den Hochkulturen des Alten Orients.1
Die Bezeichnung Gottes als des Herrn der Schöpfung aus Himmel und Erde ist eine im Kultus formulierte Aussage des beschreibenden Gotteslobs.2 Die nachexilische Theokratie geht ganz von der zentralen Bedeutung des Tempels und seines Rituals aus: Entsprechend ist in P das Zentrum der Erwählungsgeschichte, die Einrichtung des Stiftshütten-Kultes, gerahmt durch die Lehre von der Schöpfung am Anfang. Andersherum betrachtet, kann man sagen, dass die die biblische Tradition endgültig prägende Fassung durch P die Schöpfung bezieht auf ihren Schnittpunkt im Jerusalemer Kult.3
Die von G. von Rad scharf formulierte Frage nach der theologischen Bedeutung der Schöpfungslehre4 kann, zumindest nicht für die nachexilische Zeit, durch eine Gegenüberstellung des alten, geschichtlich orientierten Jahwe-Glaubens und des kanaanäischen Naturdenkens beantwortet werden. Sowohl die ganze Institution des Wohntempels, samt seiner kosmischen Bedeutung, als auch die Rede von Jahwe als Himmelsgott wird zweifellos ursprünglich kanaanäisches Erbe sein; jedoch ist die Vorstellung schon für Jes 6 ganz selbstverständlich, dass der Gott Israels in einem an den Himmel angrenzenden Bereich wohnt und dass dieses sein Wohnen durch den Tempel in die Schöpfung aus Himmel und Erde hineinreicht.
Der Himmel ist für das nachexilische Judentum kultisch reine Sphäre, da die in ihm präsente Heiligkeit Gottes dies fordert.5 J. Jeremias6, R. Patai7 und andere8 haben dargestellt, dass für den Juden der Tempel Zugangsort zum Himmel ist, ja dass man, wenn man vom Himmel spricht, sich automatisch in einem Bereich bewegt, der kultisch geregelt und bebildert ist: Gott, Himmel und Tempel bilden eine begriffliche und anschaulich assoziierte Einheit.9 Josephus gibt für die Zeit des Neuen Testaments ein beredtes Beispiel, mit welchen Augen man auf den Tempel sah. Man mag fragen, ob die kosmische Bedeutung, die er, der Priester, der Stiftshütte und ihren Gerätschaften (ant 3,123.180ff.) und der Tempelausrüstung (bell 5,212ff.217f.)10 zumisst, wirklich populär war; jedoch gilt dies von den seine Darstellung des jüdischen Kriegs prägenden Bemerkungen über den Tempel, auf den sich die Zeloten verließen und der auch für ihn als innerster Kern der drei Größen Volk, Stadt und Tempel Gottes Gegenwart und Eingreifen in die Geschichte darstellt. Bell 4,318.323f. wird geradezu die σωτηρία Israels auf das Leben und die Kultfähigkeit des Hohenpriesters zurückgeführt; sein Tod leitet das Unheil ein. Gott hat seine Diener, die den dem ganzen Weltall zugeordneten Gottesdienst geleitet haben, im Tode hinweggerafft, bevor er das entweihte Heiligtum der Reinigung durch das Feuer preisgab.
Die von den Zeloten erwartete Epiphanie Gottes im Tempel gehört zur volkstümlichen Tempelanschauung bereits des 2.Makk (3,24-30). Ist hier Gottes Eingreifen an den Tempelort gebunden, so ist in 3.Makk die Diaspora einbezogen: Das Geschick der Judenschaft in Ägypten hängt grundsätzlich an der Stellung des Landesherrn Ptolemäus zum Jerusalemer Tempel; als ihm dort der Zutritt zum Allerheiligsten verwehrt wird (1,10ff.), bestraft er die ägyptische Judenschaft (2,25ff.). Diese wiederum wird gerettet durch priesterliches Gebet (6,1ff.), das Gott zum Eingreifen bewegt: Der Himmel öffnet sich und 2 Engel treten den Feinden entgegen (6,18ff.). Der Priester hat in seinem Gebet Zugang zum himmlischen Heiligtum, so dass das heilige Antlitz Gottes, das man traditionell im Tempel schauen konnte (Gen 35,7; Num 6,25; Ps 30,16; 66,1), nun vom Himmel her epiphan wird.
Die Tempelsymbolik „war auf das engste mit den agrarischen Lebensverhältnissen verquickt und von daher tief in der Volksfrömmigkeit verwurzelt, sowie mit den Hoffnungen und Ängsten des menschlichen Alltags verbunden“.11 Die häufigen Wallfahrten auch der Landbevölkerung zum Tempel bezeugen die Geltung des Anspruchs des Tempels auf Vermittlung des Heils an das Volk.12 H. Gese spricht von der intensiven inneren Beteiligung, die zum Vollzug des Kultes gerade in der nachexilischen Konzeption von P gehörte: „Es ist anzunehmen, dass von solchem kultischen Denken her der ganze Lebensbereich geprägt wird.“13







