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Dies scheint der Beginn des Reiseberichtes in Kap 17 anzudeuten. Henoch wird eingangs an einen Ort gebracht, „wo die dort (Befindlichen)21 wie flammendes Feuer sind, und wenn sie wollen, erscheinen sie wie Menschen.“ Ein loderndes Feuer nennt 18,8f. im Zusammenhang einer Thronvision, so dass Beeinflussung durch Ez 1,4f.13f. wahrscheinlich ist. Auch der Sturmwind zu Beginn der Vision begegnet hier wie dort. Der Berg, der bis in den Himmel reicht, erinnert an den ‚sehr hohen Berg‘, von dem aus Ezechiel das auf ihm liegende himmlische Tempelgebäude sieht (40,2ff.).22 17,1 und 17,2 hängen dann so zusammen, dass Henoch auf den Zionsberg entrückt wird bzw. auf den als himmlisches Geheimnis hinter dem Zion liegenden himmlisch-irdischen Ort. Auf dem Zion als Verbindungsort von Himmel und Erde liegt der Zugang zur heiligen Thronwelt Gottes; von hier aus erschließen sich die Schöpfungsgeheimnisse (17,3-10; 33f.), sowie die Geheimnisse der Aufbewahrungsorte in Paradies und Unterwelt.23 Der Zionsberg ist der Punkt, von dem aus sich die Erkenntnis der Schöpfungsgeheimnisse dem Visionär erschließt. Auch 14,8ff. bezeugen dies alte Offenbarungsschema: Der Apokalyptiker empfängt seine Offenbarung vom himmlischen Thron aus. I. Gruenwald sieht hierin eine traditionsgeschichtliche Abhängigkeit von der priesterlich-apokalyptischen Merkaba-Lehre Ezechiels.24
Auch die aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert stammende Tiervision (Kapp. 85-90)25 geht von diesem kultapokalyptischen Offenbarungsverständnis aus. Die rein gebliebenen, weißen Engel führen den kultisch reinen (85,3) Henoch an dem Punkt der Vision, an dem sich der Umschwung zu Gericht und Erlösung eröffnet, auf einen hohen Ort und zeigen ihm einen Turm hoch über der Erde, von dem aus alle anderen Hügel niedrig sind (87,2). Es handelt sich um den Zion als Himmelsberg, um den himmlisch-irdischen Tempel in der Gestalt des Turmes.26 Diese Symbolik wird ausdrücklich in der von diesem Berg und Turm aus anhebenden Vision mit dem Tempel in Verbindung gebracht. Zum 1. Tempel heißt es in 89,50: „Jenes Haus aber wurde groß und breit, und ein hoher und großer Turm wurde für jene Schafe gebaut, jenes Haus war niedrig, aber der Turm war ragend und hoch, und der Herr der Schafe stand auf jenem Turm, und man setzte ihm einen vollen Tisch vor.“ 89,73 heißt es vom 2. Tempel: „Da begannen sie wiederum wie zuvor zu bauen und führten jenen Turm auf, und man nannte ihn den hohen Turm; sie begannen wiederum einen Tisch vor den Turm zu stellen, aber alles Brot auf ihm war befleckt und unrein.“ Das eschatologische Haus ersetzt dann diesen nicht mehr seiner Bestimmung entsprechenden Ort. Ein neues Haus wird sichtbar, in das, als der neuen Basis der Verbindung von Himmel und Erde, der Seher nunmehr hinaufgebracht wird. Der himmlisch-irdische Kultort, der einst ganz in eine neue Verbindung von Himmel und Erde verklärt werden wird, ist der Bezugspunkt des Visionärs, seine Warte27, von der aus er Offenbarung empfängt und von der aus die eschatologischen Heilsprozesse sich entrollen. Die Zehn-Wochen-Apokalypse (93,3-10, 91,12-17)28 verweist auf die Zionsverklärung am Ende eines von Anfang an eschatologisch ausgerichteten Geschichtssummariums: Von Henoch über Noah, den Noahbund und Abraham (Pflanze der Gerechtigkeit) berührt dieser Überblick den Sinai-Bund, welcher durch die Elemente ‚Gottesvision‘29,‘Tora-Gabe‘ und Einrichtung einer ‚Einfriedung‘30 gerahmt ist. Danach nennt der Überblick sofort den salomonischen Tempelbau, bezeichnet als Bau des ‚Hauses der Herrlichkeit und Herrschaft für immer‘ (93,7). Es folgt eine Epoche der Verblendung und des Mangels an Weisheit, aus der nur Elia positiv herausragt; das Haus der Herrschaft wird verbrannt und mit ihm die auserwählte Wurzel (der Gerechtigkeit) zerstreut (93,8). In Zuspitzung des Schemas der Tiersymbolapokalypse (89,73) wird die nachexilische Restauration ganz übersprungen. In die anhaltende Epoche des nachexilischen Abfalls fällt die (gegenwärtige) eschatologische Wende: „Am Ende derselben (der 7. Woche, die durch die verfehlte nachexilische Restauration gekennzeichnet ist) werden die auserwählten Gerechten der ewigen Pflanze der Gerechtigkeit auserwählt werden, um siebenfache Belehrung über seine ganze Schöpfung zu empfangen.“ (93,10)31 Der Umschwung beginnt also als apokalyptische Belehrung der ewigen Pflanze der Gerechtigkeit, also mit einer Neu-Konstituierung der Abrahamkindschaft und der mit dem Haus der Herrschaft verbundenen Wurzel.32 Danach hebt die Zeit der Gerechtigkeit an, in der die Ungerechten und Sünder beseitigt werden (91,12). Am Ende der Zeit der Gerechtigkeit werden die Auserwählten Häuser erwerben und „das Haus des großen Königs wird in Herrlichkeit für immer gebaut werden.“ (91,13)33 Das apokalyptische Wissen als Gabe am Beginn der eschatologischen Zeiten zielt auf die Beseitigung der Ungerechtigkeit und Sünde und wird so selbst zur Voraussetzung des Tempelbaus und seiner eschatologischen Segnungen für eine in einem sündlosen Land wohnende Bürgerschaft.34 Von der Erfüllung der im 1. Tempel angedeuteten, im 2. ganz verfehlten himmlischen Bestimmung des Kultes aus vollzieht sich der Ausblick auf das ewige Ende der Heilsgeschichte: Die ganze Menschheit schaut auf die Zionsherrlichkeit, so dass auf der ganzen Erde alle Gottlosigkeit verschwindet (91,14).35 Dem korrespondiert das Gericht unter den Engeln (91,15), so dass nun im Himmel und auf der Erde die Voraussetzungen gegeben sind für eine neue Schöpfung.36 Ein neuer Himmel wird mit siebenfacher Intensität des Segens37 über der Erde stehen (91,16), die in zahllosen Wochen bis in Ewigkeit ohne Sünde und ganz in Güte und Gerechtigkeit sein wird (91,17).
Die Verklärung der Schöpfung bis in den Himmel hinein geht von dem zu seiner himmlischen Bestimmung gekommenen Zion aus. Sie setzt ein als Belehrung über die Schöpfungsgeheimnisse. Das siebenfache Wissen der Apokalyptiker entspricht der siebenfachen Erleuchtung der eschatologischen Schöpfung und ist damit der erste Ausdruck des eschatologischen Umschwungs. Formal und inhaltlich gibt sich die apokalyptische Offenbarung des 1Hen auch in diesem Stück als Wissen um die geheime Ordnung der Schöpfung und damit als vom Zion ausgehendes Geheimwissen zu erkennen.
Auch die Tiervision (85-90), auf deren Offenbarungsverständnis wir oben bereits hinwiesen,38 bezieht ihren eschatologischen Zielpunkt für den Geschichtsüberblick von Adam bis in die Hasmonäerzeit aus der geschauten Verklärung des Zion. Bis zum Fall der Sterne (= Engel)39, geschildert in 86,1-3, war die Schöpfung in kultisch reiner Ordnung (85). Der Verunreinigung der Schöpfungsordnung durch die Sterne (86,4-6) steuern vier menschengestaltige, weiße, und d. h. reine Engelwesen entgegen (87). Die gefallenen Himmelssöhne werden gefesselt (88) und der verunreinigte Teil der irdischen Schöpfung der Sintflut übergeben. Die Heilsgeschichte wird fortgesetzt mit dem weißen (= reinen) Farren Noah und seinen drei weißen Genossen (Vertreter der übrigen Menschheit). Den vier reinen, menschengestaltigen Engeln, welche den himmlischen Teil der Schöpfung zur kultischen Reinheit zurückbringen,40 entsprechen die vier weißen Farren, welche den kultisch reinen Neubeginn der irdischen Schöpfung bezeichnen. Der Umschwung von der unreinen Zeit der Vermischung in die der Wiederdurchsetzung der Reinheit beginnt irdisch damit, dass Noah in ein Geheimnis eingeweiht wird (89,1). Auch bei ihm begleitet eine Art apokalyptisches Geheimwissen den heilsgeschichtlichen Umschwung. Der weitere Überblick über die Geschichte entspricht ganz der 10-Wochen-Apokalypse. Seit dem Exil untersteht Israel der Fremdherrschaft und damit auch einem ihr entsprechenden himmlischen Element (Fremdgötter, Strafengel, Dämonen [89,59]). Michael wird beauftragt, darüber zu wachen, dass die fremden Hirten nur entsprechend dem Befehl Gottes mit Israel verfahren (89,61-71). Der nachexilische Neubeginn ändert nichts an dieser Lage, weil die Neugründung des Kultbetriebs in Befleckung stecken bleibt (89,73). Mit 90,6ff. steuert die Schilderung auf die anti-hellenistische Erneuerung zu: Nicht von den blinden Kulterneuerern geht der Umschwung aus, sondern von den ‚weißen‘ Schafen, die wieder an die ‚weiße‘ Linie der Geschichte Israels anknüpfen. Michael tritt im makkabäischen Kampf als Helfer der Bedrängten auf (90,14). Bezeichnenderweise besteht seine Hilfe darin, dass der dem Böckchen (einem Makkabäerführer41) „alles“ zeigte. Darauf beginnt das Gericht über die fremden Herrscher, bzw. ihre himmlischen Entsprechungsfiguren: Die Macht geht zu den Schafen über. Zum Gericht wird der Gottesthron in dem lieblichen Land sichtbar, auf dem Zion.42 Gott thront, und Michael tritt vor ihn mit den geöffneten Gerichtsbüchern. Auf dem Zion beginnt also eine himmlisch-irdische Gerichtsszene. Wie die Tiere in den Abgrund geworfen wurden, so werden nun Hirten, Sterne und verblendete Schafe von den 7 ersten Weißen, Erzengeln, in den Abgrund geworfen, der rechts neben dem Haus ist (98,26). Hier klingt deutlich die apokalyptische Zionstopographie von 26f. an. Wie das kosmische Gericht vom Zion ausgeht, so besteht auch die Erlösung in einem Zionsereignis. Das alte Haus wird eingewickelt und zur Seite geschafft.43 Gott selbst bringt ein neues Haus, den eschatologischen Tempel, auf den Zion und wohnt selbst in ihm. In dem durch die Gottesgegenwart eschatologisch verklärten Tempel sind alle zu himmlischer Reinheit gewandelt (90,32).44 Alle Geschöpfe beten die neue Herrlichkeit am Zion an (90,30)45, ja die kultische Gottesschau wird geradezu zur Seinsform der Verklärten (90,35).46 Damit wird auch das apokalyptische Sehen nochmals in Entsprechung gesetzt zum kultischen Sehen der verklärten Gemeinde. In dieser schon endzeitlichen, auf dem verklärten Zion wohnenden, reinen Priestergemeinde wird der Messias geboren, als weißer Farre (90,37: es handelt sich um einen Rückgriff auf die Urzeit, vgl. 85-89,10), in dessen kultisch reine Gestalt sich alle Geschlechter verwandeln (90,38). Die Geschichte kehrt zurück aus der sündhaften Unordnung an ihren reinen und kultisch geordneten Anfang. Bemerkenswert ist der Hinweis auf die messianische Figur. Es ist wohl kaum ein davidischer Messias, sondern eher eine der kultischen, weißen Linie entstammende, priesterliche Erlöser-Gestalt. Ihre Aufgabe ist auch nicht der kriegerische Kampf gegen die Feinde, sondern er ist Anführer der Verklärung. Die Reinheit seiner Gestalt bewirkt, dass seine Gemeinde an seiner Reinheit teilbekommt.
Die Verklärung der Zionsgemeinde ist schließlich auch Hauptmotiv der Bilderreden (37-71).47 Kap. 38 nennt das Thema der ersten Bilderrede und der dann visionär erschlossenen Antworten: Es geht um das Sichtbarwerden der Gemeinde der Gerechten und um die Bestrafung der Sünder. Der Gerechte erscheint vor den Gerechten, wobei das Licht über ihnen leuchten wird, ja, das leuchtende Antlitz der Gerechten, das durch das Zionslicht48 geradezu mit himmlischer Qualität scheint, wird die Sünder wegtreiben, weil sie dieses Licht nicht aushalten können. Kap. 39 führt das in 38 Genannte visionär aus: Henoch schaut die Wohnungen der Gerechten und die Lagerstätte der Heiligen. Es handelt sich um die himmlische Gemeinde der verstorbenen Gerechten, die bei den Engeln, den Heiligen, wohnen und mit ihnen eine Gemeinde bilden (39,4-5). Sie sind die Fürsprecher der irdischen Gemeinde und begleiten ihr irdisches Geschick mit Gebeten. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bilden ihre himmlische Sphäre und sind geradezu Attribute ihrer himmlischen Herrlichkeit (39,5). Was der Kultus der irdischen Gemeinde je und je darbietet,49 ist in der himmlischen Lagerstatt immerwährende Wirklichkeit. Dem Bild der himmlischen Gemeinde, die am Ende der Tage auf dem verklärten Zion sichtbar werden wird, entspricht das Bild von dem Gerechten. Er wohnt direkt unter den Fittichen des Herrn der Geister, also über der Gemeinde aus Gerechten und Engeln (39,6f.). Das Erstrahlen himmlischen Lichtes, von dem in Kap. 38 in Bezug auf die verklärte Zionsgemeinde die Rede war, wird nun als Auszeichnung der zum himmlischen Gottesdienst versammelten Gemeinde gedeutet (39,7). Strukturell stößt man hier besonders deutlich auf den offenbar grundlegenden Dreischritt apokalyptischen Wissens: Kultmotiv, himmlischer Hintergrund, eschatologische Verklärung. Der himmlische Lobpreis ist die besondere Daseinsform der Engel und Gerechten (39,7). Kap. 38 benennt also den Zustand, an dem auch irdisch der im Kultus stets als Geheimnis gewusste, aber bis jetzt nur im Himmel verwirklichte Glanz der Schekina sichtbar werden wird. Wie der Farre in der Tiersymbolapokalypse, so ist hier der Gerechte, bzw. der Auserwählte der Gerechtigkeit, inklusiver Repräsentant der Gemeinde der Endzeit. Er ist jetzt im Himmel eine Art himmlischer Kultleiter, der über den verstorbenen Gerechten, aber auch über den Engeln steht.50 Das Geheimnis dieses Auserwählten der Gerechtigkeit wird hier schon für einen Moment gelüftet: Der Seher Henoch hat Verlangen nach der geschauten himmlischen Wohnung der Gerechten und Heiligen; denn er weiß, dass hier der Ort ist, der ihm schon früher vom Herrn der Geister zugewiesen wurde. So mischt er sich ein in den himmlischen Chor und zitiert das den Engeln obliegende Trishagion. Er hat sein Wissen als einer, der jetzt schon Zugang zur himmlischen Gemeinde hat und damit auch in den Bereich des Auserwählten der Gerechtigkeit gehört. Damit enthüllt 39 visionär, was die Einleitungsrede Kap. 37 voraussetzt: Henoch trägt seine Weisheitsrede vor dem Herrn der Geister vor, also im Zusammenhang einer kultischen Gegenwart Gottes. Als kultische Rede ist sie ausdrücklich ein Generationen verbindendes Sprechen. Urvater und Nachkommen sind verbunden, wenn das Wort ergeht, das vor dem Herrn der Geister vorgetragen wird.51 Diese Generationen verbindende und kosmische Ordnung ausdrückende Rede bedarf aber einer besonderen Legitimation. Wer diese Worte bringt, mit ihnen vom gegenwärtigen Herrn der Geister aus spricht, ist mehr als ein dem gegenwärtigen Geschlecht entsprechender Mensch. Dem Urvater Henoch ist Weisheit und das Los himmlischen Lebens beschieden (37,4). Henoch spricht also schon in Kap. 37 als Himmlischer. Kap. 39 deutet dies als Zugehörigkeit zur himmlischen Gemeinde. Apokalyptisches Wissen ergeht also im 1Hen als kultische Rede und vor dem Hintergrund einer kultisch geordneten und himmlisch gehaltenen Schöpfung.
Kap. 40 enthüllt die Rolle der Erzengel: Sie sind Fürsprecher der Menschen und bringen ihr irdisches Geschick in die Liturgie vor Gott ein. Diese Vermittlung ist unmittelbar bezogen auf das himmlische Gericht, die Verteilung des Reiches und die Zuweisung der himmlischen Wohnungen (Kap. 41). Die Verteilung des Reiches, das Anteilbekommen am Reich, ist in 41,1f. gleichbedeutend mit der Zuweisung einer himmlischen Wohnung bei den Engeln. Das Reich ist ein Reich der Verklärung. Kap. 41 macht in besonderer Weise die Nähe von apokalyptischem Wissen und Verklärungseschatologie deutlich: Die Vereinigung von Himmel und Erde ist Ziel dieser Verklärungseschatologie, ein Vorgang, den der Visionär durch seine Himmelsreise geradezu vorwegnimmt.
45,1 nennt als Thema der zweiten Bilderrede das Schicksal der Sünder. Ihre Sünde besteht im Leugnen dessen, was die apokalyptische Gemeinde ‚weiß‘: Es geht um die Wohnung der Heiligen, also den Zwischenort der verklärten, engelgleichen Gemeinde, und um Gott als den Herrn der Geister.52 Das Geschick der Sünder besteht entsprechend darin, dass sie von dem ausgeschlossen werden, was sie leugnen: Für sie gibt es keine (intramortale)53 Himmelfahrt und keine Herabkunft auf die eschatologisch verklärte Erde: „Sie werden nicht in den Himmel hinaufsteigen und auf die Erde nicht gelangen.“ Damit liegt in 1Hen 45,lf. eine lehrmäßige Zusammenfassung (wenn auch im Negativabdruck) der Erlösungslehre, die sich auch in den älteren Schichten des 1Hen abzeichnete: Die Zuversicht der apokalyptischen Gemeinde kommt aus dem Wissen um die Wohnung der Heiligen und das Verbundensein mit dem Herrn der Geister. Dieses kultspirituale Grundwissen kennen wir aus den Psalmen. Es ist die Andeutung einer Entrückung durch den Tod hindurch, die hier konsequent mit der Zionstheologie verbunden ist. Die Entrückung zur himmlischen Gemeinde ermöglicht eine intensivierte kultische Verbundenheit mit den Himmlischen, weitergehende Gemeinschaft mit der irdischen Gemeinde und die eschatologische Rückkehr auf die verklärte Zionserde.54 Das Wissen der Kultspiritualen wird vor dem Hintergrund der Zionseschatologie ausgeformt. Die Gewissheit um die Entrückung im Tod erscheint als ein Wissen um Wohnungen der heiligen, entrückten, engelgleichen Gemeinde.
Die lehrmäßige, thetische ‚Oberfläche‘ (45,1f.) wird durch 45,3ff. und die Kapp. 46ff. in zwei Schichten begründet und ausgeführt. 46,3ff. beziehen das Wissen um Wohnung, Himmelfahrt und Verklärung auf den Tag, an dem der Auserwählte auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen wird. Die Parallelität des Anfangs in 46,3 und 46,4 legt es nahe, das Gericht als himmlisch-irdische Szene vorzustellen, anhebend gleichsam auf dem in den Himmel ragenden bzw. aus dem Himmel herausragenden Zionsthron.55 Die Wohnungen der (unter den dann Lebenden?) Auserwählten werden zahllos sein, d. h. sie werden alle auf dem Zion wohnen und dort Platz haben.56 Sie werden vereint mit der Gemeinde der himmlischen Auserwählten, indem sie sie sehen und dabei ihr Geist erstarkt. Die Verklärung vollzieht sich im Sehen und als Stärkung des Geistes.57 V. 3 beschreibt also die anabatischen Seite des Vorgangs der Verklärung, während V. 4 die katabatische Seite ausdrückt: Der Auserwählte wird in der Mitte der verklärten Gemeinde wohnen und der Zionssegen wird als ewiger Segen und himmlisches Licht von einem verwandelten Himmel aus über ihnen sein.58 In diesem Vorgang wird auch die Erde verklärt und zu einer einzigen Segensquelle. Die Zionsattribute ‚Quelle des Segens‘59, des ‚Lebens‘60, der ‚Gerechtigkeit‘61, des ‚Lichtes‘62 und der ‚göttlichen Gegenwart‘63 bilden die Grundlage des apokalyptischen Wissens. Der Zionsthronende, der Auserwählte, steht hier in einer kaum noch sichtbaren David-Nachfolge; vielmehr ist er Repräsentant der himmlischen Gerechtigkeit und damit Repräsentant Gottes und der Gemeinde der auserwählten Gerechten. Auf der verklärten Zionserde haben natürlich die Sünder keinen Platz (45,5); für sie steht das Gericht bevor, das sie von der dann verklärten Erde ausschließen wird, während die Gerechten jetzt schon von Gott gesehen werden und sie – mit Heil gesättigt – jetzt schon vor ihm stehen zum kultischen Dienst.64
Kapp. 46ff. vertiefen in verschiedenen Anläufen diese am Zion orientierte Verklärungseschatologie. 46,1 führt die 45,3 angekündigte Gerichtsszene visionär aus. Henoch sieht den Betagten und den Auserwählten mit den Attributen der himmlischen Reinheit. Der Betagte hat ein Haupt weiß wie Wolle und ‚der bei ihm‘ ein Antlitz wie das eines Menschen und zugleich anmutig wie das von einem Engel. Der bei Gott Seiende ist das Urbild der zur engelgleichen Heiligkeit verklärten Gemeinde der Gerechten. Als Repräsentant der Gemeinde ist er nach 46,3 Ursprung ihres himmlischen Wissens.65 Er steht ganz in der himmlischen Gerechtigkeit, und dieser entspricht die irdische Seite seines menschlichen Lebens in Rechtschaffenheit.66 Er ist bei Gott, um vom Zion aus die fremden Herrscher zurückzuweisen: Sie werden in die Finsternis (= Zionsferne) eingehen und nicht von den Toten auferstehen.67 V. 7 trägt nach, dass auch die innerjüdischen Opponenten, die die ‚Sterne des Himmels‘, die Glieder der apokalyptischen Gemeinde,68 richten, aus den Häusern seiner Versammlung und der Gläubigen vertrieben werden, „die da aufbewahrt sind bei dem Herrn der Geister.“ (46,8) Bei der eschatologischen Verklärung der Gemeinde wird sie von Leugnern gereinigt. Die Sünder, mögen sie sich auch zum Gottesvolk rechnen, haben nicht Anteil an der himmlischen Segnung, während für die Gerechten jetzt schon die heiligen Engel vor Gott ihre Gebete darbringen (Kap. 47). ‚Gebet‘ und ‚Blut der Gerechten‘ werden in den Tagen des Endgerichtes vor Gott ihre Wirksamkeit zeigen, in diesen Tagen (des geschichtlichen Weitergangs69) aber sorgen die himmlischen Heiligen dafür, dass Gott ‚Gebet‘ und ‚Blut der Gerechten‘ annimmt. Auch hier ist die Verklärung von Gemeinde, Himmel und Erde eine gegenwärtig verborgene Realität der kultischen Gemeinschaft der leidenden Gemeinde mit den heiligen Engeln.
Nach 48,1 haben die himmlischen Gerechten, Heiligen und Auserwählten einen ‚Brunnen der Gerechtigkeit‘ und viele ‚Brunnen der Weisheit‘. An die Zionstradition erinnern die Wasser, die die Schöpfung erquicken.70 Die Gerechten, die jetzt schon in den himmlischen, paradiesischen Teil des Zion eingegangen sind, bekommen aus diesen wunderbaren Wassern die himmlischen Gaben, die zum Wohnen im Bereich himmlischer Heiligkeit befähigen: ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Weisheit‘. Das kultisch gesegnete Leben ist für die himmlische Zionsgemeinde Wirklichkeit. Mit Kap. 50 werden die in Kapp. 48f. angedeuteten Zionsmotive zu einer Umwandlungslehre ausgeformt: „In jenen Tagen wird eine Umwandlung für die Heiligen und Auserwählten stattfinden.“ (50,1) Immerwährendes Tageslicht wird über ihnen wohnen, dazu Herrlichkeit und Ehre.71 Die Herrlichkeit der Zionsgemeinde wird die Sünder in das Unheil ausstoßen, aber diejenigen, die diese Herrlichkeit sehen und Buße tun, werden dadurch gerettet werden.72 Mit der Verklärung der dann lebenden Gemeinde der Heiligen und Auserwählten einher geht die Rückgabe der Toten aus Erde, Scheol und Hölle (51,1). Der Auserwählte, der auf dem Thron sitzt, wird die Gerechten und Heiligen unter ihnen auswählen; offenbar sind nach 51,2 auch die Heiligen und Gerechten dem Totenreich anheimgegeben und keinesfalls bereits in einen paradiesischen Zwischenzustand eingegangen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist jedoch, dass mit dem Thronen des Auserwählten die Verklärung der Gemeinde einhergeht: Die anderen Berge weichen furchtsam vor dem Zion zurück;73 „alle werden Engel im Himmel werden. Ihr Antlitz wird vor Freude leuchten, weil in jenen Tagen der Auserwählte sich erhoben hat, die Erde wird sich freuen, die Gerechten werden auf ihr wohnen …“ (51,4f.). Durch die Verklärung und Engelwerdung hört der jetzt bestehende, der Schöpfungsordnung nicht entsprechende Auseinanderfall von Himmel und Erde auf; die auf der Erde wohnenden Verklärten wohnen um den himmlisch-irdischen Zionsberg herum.
Die 3. Bilderrede nennt in Kap. 58 die Verklärung der auserwählten Gerechten als Ziel der eschatologischen Seligkeit. Kultische Segensfülle wird ihnen zukommen: ‚herrliches Los‘74, ‚Licht der Sonne‘75, ‚Licht ewigen Lebens‘ (V. 2f.). Ihre Lebenstage als Heilige werden kein Ende haben (V. 3). ‚Licht‘, ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Frieden‘ werden sie finden, ja der Himmel steht ihnen offen: Dort werden sie die Geheimnisse der Gerechtigkeit und das Los des Glaubens finden (V. 4f.). Freilich wird der Himmel nicht wie jetzt ein von der Erde getrennter Raum sein; indem auf der Erde die Finsternis ganz dem Licht weichen muss, so treten Himmel und Erde in eine neue, im ursprünglichen Sinne schöpfungsmäßige Beziehung zueinander. Die in aller Fülle kultisch gesegnete Erde ist der Zielort dieser zionstheologischen Apokalyptik. Nochmals wird deutlich, dass die traditionell kultische Beziehung zur himmlischen Welt, wie sie in besonderer Weise in der Zionstheologie geschichtlich ausgestaltet ist, die apokalyptische Perspektive trägt und allererst ermöglicht. Für diese Art Kultapokalyptik ist es entsprechend charakteristisch, dass in ihr die Segnungen der himmlisch verklärten Erde mit den Geheimnissen der Schöpfungsordnung zu tun haben. Das kultisch segnende Licht über der verklärten Zionsbürgerschaft ist eine Sonderform des in der Schöpfung waltenden Lichtes der Sterne und Blitze (Kap. 59). Kapp. 61ff. entfalten dann wieder im Visionsstil die in 58 in der Form des Makarismus vorangestellte, lehrmäßige Zusammenfassung. Zentralmotiv in 61,4a ist die Enthüllung der himmlisch-irdischen Gemeinschaft der dann verklärten Gemeinde: „Die Auserwählten werden anfangen bei den Auserwählten zu wohnen.“ Dazu bringen die Engel die Maße, mit denen die Geheimnisse der Gerechtigkeit und des Glaubens ergründet werden können, „damit sie (die Gerechten) sich für immer und ewig auf den Namen des Herrn der Geister stützen“ (61,3). ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Glaube‘ sind ebenso himmlische Schöpfungsgeheimnisse wie die Tiefe der Erde. Die verklärende Gemeinschaft mit den Auserwählten beginnt nach 61,1-5 mit der Offenbarung dieses himmlischen Wissens und geht hinüber in die Darstellung des himmlischen Gerichtes. Der Auserwählte wird himmlisch inthronisiert, begleitet von einer akklamierenden Anbetung durch die Himmlischen, die einstimmig, in einem Licht, in Weisheit und im Geist des Lebens geschieht. Dieser das Gericht begleitende einstimmige Lobgesang vereint Himmlische und Irdische (61,8-13).76 Auch das Bild dieser kultischen Gerichtsszene stammt aus der Zionseschatologie: Kap. 62 bringt als Ausführung zur Gerichtsszene die Aufforderung Gottes an die irdischen Könige, auf den Auserwählten zu schauen, wie er auf seinem Thron der Herrlichkeit sitzt.77 Die irdischen Herrscher müssen geradezu in das Lob Gottes und seines Auserwählten einfallen, aber sie werden von der Erde vertilgt. Nun wird der verklärte Endzustand der Gemeinschaft der irdisch-himmlischen Gemeinde aus Heiligen und Auserwählten einkehren. Die Schekina kommt mitten unter sie, und sie werden gesegnete Lebensgemeinschaft mit dem Menschensohn in Ewigkeit haben (62,14). Die verklärte Gemeinde erhält himmlische Kleider der Herrlichkeit und Reinheit. Die Einwohnung der Schekina in der verklärten Gemeinde, (Opfer-)Mahlgemeinschaft mit dem Menschensohn und Bekleidetwerden mit himmlischer ‚Dienstkleidung‘ bilden den Abschluss der zionstheologischen Verklärungslehre.







