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Ergänzt habe ich diese Erkenntnisse dann 2016 durch die Perspektive der Führung, und zwar der Führung durch die Generation der digital-versierten Millenials, auch Generation Y genannt. Denn diese Generation übernimmt nun auch die Führungspositionen in Verkauf und Vertrieb – daher habe ich mich gemeinsam mit Prof. Dr. Florian Feltes in einer großen Studie ausführlich mit der Frage beschäftigt, was passiert, wenn New-Work-Leadership auf Old-School-Führung trifft: am Ende auch eine Machtfrage. Wobei wir wieder beim Thema der (Markt-)Macht wären.
Wer ist der neue Mächtige in Zeiten der digitalen Transformation?
Daher werden wir in dieser aktualisierten 8. Auflage von »Vertrieb geht heute anders« auch fragen, wohin sich die Macht gerade verlagert: Wird Künstliche Intelligenz stärker als menschliche in Verkauf und Vertrieb? Stärker als Kundenintelligenz, stärker als VertriebsIntelligenz? Oder anders: KI vs. VI?
Im Kern geht es hier um eine Machtfrage! Denn im letzten Jahrzehnt hat sich die Macht auf den Märkten massiv weg von den Anbietern bewegt: Zuerst fand eine Bewegung hin zu den Plattformen und Vermittlern, den digitalen, weltweit erreichbaren Schnittstellen, Devices und Handelsportalen statt.
Und von dort hat sich die Marktmacht dann weiter zu den Kunden verlagert, um deren Wünsche die Welt sich mittlerweile dreht. In den früheren Ausgaben dieses Buches haben wir sie die »Kunden 3.0« genannt, um den Übergang in die 4. industrielle Periode zu kennzeichnen. Mittlerweile – so auch in dieser Ausgabe – nennen wir diese Kunden, die jederzeit von jedem Ort aus Zugriff auf Informationen über Produkte und Preise, über Verkaufsmengen und Staffeln, über Vertriebswege und Kaufmöglichkeiten haben, einfach die »neuen Kunden«, die »smarten Kunden« oder die »digitalen Kunden«. Denn die Märkte und Möglichkeiten, Vertrieb und Kunden ändern sich einfach so schnell, dass ich der Ansicht bin, dass »Versionsnummerei« nichts bringt, wir alle müssen ständig und jederzeit beobachten und lernen, uns anpassen und wandeln und – soweit möglich – in Führung gehen, das heißt, den Wandel (Change) aktiv und adaptiv, schnell und vielleicht auch austestend (»agil«) gestalten. Diese Trends haben wir von Buhr & Team und ich als Autor vor rund zehn Jahren erkannt, als ich mich hingesetzt habe, um unter dem Titel »Vertrieb geht heute anders« eine Zusammenfassung meiner Erkenntnisse zu Papier zu bringen. Viele Tausend Leser haben das goutiert und diesem Titel zu zwischenzeitlich acht Auflagen verholfen – im Bereich der Vertriebsbücher eine selten erreichte Zahl. Und dafür danke ich meinen Leserinnen und Lesern sehr.
Algorithmen bestimmen zunehmend den Handel
Und wieder habe ich das Gefühl, dass die Zeiten sich drehen. Dass die Marktmacht sich abermals verlagern wird – und zwar auf die Seite des Algorithmus. Algorithmen und selbstlernende Systeme (Deep Learning, Künstliche Intelligenz) stecken hinter den Schlagworten wie IoT – das Internet der Dinge –, hinter automatisiertem Verkauf und automatisiertem Procurement, hinter Voice Commerce, hinter Chatbots, hinter Shopping-Apps im Auto, hinter Microservices, hinter Dynamic Pricing und Repricern, hinter Data Mining, hinter Predictions (Predictive Analysis), hinter Bild- und Mustererkennung für Retargeting und Remarketing, hinter Digital Signage, hinter Electronic Shelf Labels, hinter elektronischen Smart Shops, hinter intelligenten Wallets, hinter Mobile Payment – so viele neue Entwicklungen wälzen den Vertrieb und Verkauf gerade auf allen Ebenen um. Es wird dazu sicher auch ein neues Buch von mir geben – aber mir war angesichts dieser obigen kurzen Aufzählung, die keineswegs nur ein klingendes »Buzzword-Bingo« ist, sondern die neue Lebenswirklichkeit von uns im Vertrieb stichwortartig zusammenfasst, wichtig, dass wir in dieser neuen Auflage von »Vertrieb geht heute anders« schon diskutieren, wohin die Reise geht. Dass wir thematisieren, wer die Marktmacht künftig in Händen – oder vielmehr in Apps und Algorithmen – halten wird. Momentan sieht es so aus, als ob es nicht der Kunde ist, denn er wird gerade all seiner Daten entkleidet, er wird Data-Mining-Material, Algorithmenfutter, er entmächtigt sich in Teilen selbst.
Hintergrund: Etwas digitales Vokabular
Digital Signage: Unter dieser »digitalen Beschilderung« werden (interaktive) Werbe- und Informationssysteme verstanden, die (z. B. im Groß- und Einzelhandel) Kunden direkt mit Medieninhalten und Werbung – meist cloudbasiert – adressieren und zum Kauf animieren.
Electronic Shelf Sabels: Diese »elektronischen Regaletiketten« finden sich im Einzelhandel und liefern dem Kunden direkt am Produkt Zusatz- und Preisinformationen. Im Zusammenspiel mit Repricern – siehe nächstes Kapitel – können auf diese Weise Preise ähnlich wie im Online-Handel auch sekundengenau an Nachfrage und Lagermenge angepasst und ausgespielt werden.
Procurement: Procurement oder Purchasing ist der englische Ausdruck für Beschaffung, also die Abteilung in (Kunden-)Unternehmen, die sich mit dem professionellen Einkauf und der Beschaffungslogistik von Rohmaterial, Zulieferung oder Handelsware beschäftigt. In diesem Buch geht es meist um Digital Procurement, also die Automatisierung solcher Beschaffungsprozesse unter Einsatz vieler der hier genannten Technologien, was neue Herausforderungen für Akquise und Vertrieb aufwirft.
Und doch dürfen wir nie vergessen, dass es immer nur der Kunde ist, der Geld in unser Unternehmen bringt. Damit setzen wir ihn ins Zentrum dieses Buches, ins Zentrum aller Ideen und Strukturen im Vertrieb. Deshalb sprechen wir auch von Customer Centricity! Unsere gemeinsame Herausforderung: souverän bleiben und uns unterscheiden, Gestalter statt Opfer sein.
Was du von diesem Buch erwarten darfst
Die Frage der Macht- und Einflussverschiebungen in der Marktökonomie können wir in der vorliegenden Ausgabe noch nicht komplett beantworten, dafür verändern sich gerade zum jetzigen Zeitpunkt die genannten Systeme zu schnell. Wir befinden uns gewissermaßen gerade unter dem Türsturz zwischen zwei Räumen, zwei Paradigmen, und werden in den nächsten Jahren den großen Schritt nach vorne wagen (müssen). Die Tür wird aufgestoßen oder auffliegen, und es ist die Tür zu einem Raum, in dem es momentan brodelt. In dem wahre Alchemie passiert: die Transition des Handels und des Vertriebs in ein digital-gestütztes hochkomplexes Konstrukt, in dem immer mehr Vorgänge gemäß schnelllernender Systeme und ständig verfeinerter Algorithmen automatisiert ausgeführt werden. In dem die Grenzen von Verkauf (B2C) und Vertrieb (B2B), von Produktentwicklung und -entstehung, von Marketing und After Sales, von Service und nachhaltiger Weiter- oder Wiederverwendung miteinander verschmelzen. Vertrieb bedeutet dann schon längst nicht mehr nur, Waren an den Mann oder die Frau zu bringen. Sondern er reicht über den ganzen Prozess von der Produktentwicklung und der Markenführung über die Marktvorbereitung, den Verkauf, After-Sales bis hin zum nächsten Zyklus. Und auf der anderen Seite, der Kundenseite, reicht die Customer Journey genauso weit: Der Kunde verlässt uns nie mehr – oder besser: Wir verlassen den Kunden nie mehr. Wir dürfen es schlicht nicht.
In der vorliegenden Auflage können wir gemeinsam nur einen kurzen Blick hinter diese Tür werfen. Wir im Vertrieb stehen an der Türschwelle, mit einem Fuß noch im analogen Raum der klassischen Unternehmen, mit der Hand erst am Türgriff, und fragen: »Wenn alles anders wird, was können wir dann noch wissen und umsetzen?« Denn das »Ende des Verkaufens« ist ja nicht das »Ende des Kaufens«. Gekauft wird immer. Die Frage ist nur, wer kauft wann und was bei wem? Und wie?« Sprechen wir drüber? Prima!
Ganz herzlich, dein

a.buhr@buhr-team.com
Vor Kurzem war ich bei einem dieser neuen, coolen Start-up-Unternehmen eingeladen, um einen Impulsvortrag zu halten und eine Vorstandsrunde zu moderieren. Das läuft ja ganz gut, sage ich zu mir. Coole Zuhörer, gelöste Stimmung, witziges, loftiges Ambiente. Für das Ende der Veranstaltung habe ich noch ein paar Handouts für die Teilnehmer vorbereitet. Eine Routine bei uns. Das Interesse dafür ist zwar da, jedoch höre ich den Chef des Unternehmens sagen: »Andreas, mail doch die Key Points bitte durch, Papier können wir nicht mehr annehmen. Wir sind komplett digital. Papierkörbe gibt es schon seit Weihnachten nicht mehr bei uns«. Ein Grinsen! Bämm! Was kam ich mir oldschool vor. Tatsächlich hatten sie an Weihnachten gemeinsam die Papierkörbe verbrannt. Demonstrativ! Kein Papier mehr. Konsequenter Weg!
Klassische Unternehmen versus Start-ups?
Hast du auch das Gefühl, dass sich die klassischen Unternehmen immer mehr in die Rente des Vergessens verabschieden und wir es täglich mit neuen agilen Start-ups zu tun haben? Dass viele bekannte Unternehmen und Marken mit dem Rücken zur Wand kämpfen und gleichzeitig technologiegetriebene Neugründungen mit Investorengeldern in Milliardenhöhe ausgestattet werden? Eine neue Blase? So einfach ist es nicht. Aber es gibt auch keine andere einfache Antwort. Warum verschwinden die Dinosaurier der Wirtschaft vom Markt?
Dank zahlreicher technischer Möglichkeiten, dank eines veränderten Verbraucherbewusstseins leben wir heute in einer Digital Economy, die wir bisher vielleicht noch liebevoll als »Social Economy« bezeichnet haben, weil für viele von uns »gefühlt« die soziale Interaktion mit anderen Menschen, Plattformnutzern, Kunden, Kollegen im Zentrum stand. (Daher nutzen wir hier auch kurz den Begriff »Social Economy«, obwohl dieser sich im eigentlichen Sinne mit der »sozialen Wirtschaft«, also dem 3. Sektor und dem Non-Profit-Bereich beschäftigt.) Doch müssen wir feststellen, dass der digitale Transformations-prozess eigentlich sehr viel stärker ist als der soziale Prozess, der auf dieser Plattform stattfindet. Lass es mich mal so sagen: Die Digitalisierung ist die eigentliche Disruption, auf dieser »Trägerfrequenz« läuft der soziale Kommunikationsprozess mit. Unbenommen: Darin nimmt der Kunde einen aktiven Part ein. Er beteiligt sich am Serviceprozess oder am Produktgestaltungsprozess, ermöglicht höhere Effektivität und damit Effizienz. Der Kunde als wichtiger Bestandteil des Innovationsprozesses – das war früher undenkbar. Heute fordert er als solcher mehr Aufmerksamkeit, mehr Wertschätzung.
Digital Economy gleich »Social Economy«? Schneller, globaler, erbarmungsloser
Mit der Digital und Social Economy hat eine neue Ära begonnen. Vorbei ist die Zeit, in der Kunden sich gedulden mussten, Wochen, manchmal Monate darauf gewartet haben, dass ihr Pkw, ihre Küche, ihr Sofa lieferbar ist. In der sie Kompromisse eingegangen sind, weil bestimmte Produkte eben nur in dieser Form oder dieser Farbe erhältlich waren. In der sie sich – beinahe brav – danach richteten, wann der Verkäufer für sie Zeit hatte. Der Kunde als König? Naja, regiert haben lange eher Produktentwicklung und Vertrieb. Doch abseits jeder klassischen Zielgruppendefinition, die sich in Grenzen von Alter, Einkommen oder Bildungsniveau bewegt, hat sich ein neuer Kundentyp entwickelt, selbstbewusst und präsent: Der digitale Kunde geduldet sich nicht. Er fordert. Er reagiert nicht. Er agiert. Der Kunde wird selbst zum Experten. Und wenn der Vertrieb nicht aufpasst, hechelt er dem Kunden in naher Zukunft hinterher. Der Kunde wird nicht auf ihn, wird nicht auf uns warten.
Hintergrund
Social Economy: Oft wird damit der Dritte Sektor bzw. Non-Profit-Sektor bezeichnet. Im Kontext dieses Buches ist damit aber gemeint, dass sich alle Wirtschaftsteilnehmer über die digitalen Plattformen und Kanäle gesellschaftlich austauschen, dass diese Art der sozialen Interaktion und Kommunikation prägend für die Fortentwicklung des wirtschaftlichen Geschehens ist.
Sharing Economy: Der Begriff Sharing Economy, seltener auch Share Economy oder Shareconomy, ist ein Sammelbegriff für Firmen, Geschäftsmodelle, Plattformen, Online- und Offline-Communitys und Praktiken, die eine geteilte Nutzung von ganz oder teilweise ungenutzten Ressourcen ermöglichen, z. B. Autos / Autonutzungen, Nutzungen von Flugzeugkapazitäten in der privaten Luftfahrt, Maschinen, Werkzeuge, Spielzeug, Wohnungen etc.
Platform Economy: Aus dem Englischen übersetzt: Die Plattform-Ökonomie oder Plattformwirtschaft bezeichnet die Summe wirtschaftlichen und sozialen Handelns, das durch (Internet-)Plattformen ermöglicht wird. Typischerweise bringen diese Plattformen Nachfrage und Angebote aller Art (Käufe, Verkäufe, Menschen etc.) zusammen (Stichwort: Online-Matchmaker) oder sie bilden Technologie-Frameworks. Bei Weitem die gebräuchlichste Art sind »Transaktionsplattformen«, »digital Matchmakers« (basierend auf: Wikipedia [Englisch])
Mehr als nur neue Vertriebswege
Daher ist die Verunsicherung in vielen Firmen so groß wie zuletzt während der Großen Depression, resümiert der Economic Policy Uncertainty Index. Kaum jemand in den Unternehmen weiß ob der Entwicklungen auf den Märkten und entlang der soziopolitischen Verwerfungen so recht, wo die Reise hingeht. Und das wirkt sich direkt auf den Vertrieb aus.
Denn hinzu kommen die Herausforderungen der neuen Arbeitswelt, der Digitalisierung und Automatisierung der internen Fertigungs-, Abwicklungs- und externen Kommunikationsprozesse, der Künstlichen Intelligenz (KI). Der veränderten Ansprüche der neuen Generationen von Mitarbeitern – der Generationen Y und Z –, die die Unternehmen als Mitarbeiter, als die neuen Führungskräfte und als Kunden bestimmen. Der globalen Trends, wie Virtualisierung, Disruption, Flexibilisierung und Automatisierung. Das ist alles nicht neu. Was neu ist, ist die Geschwindigkeit, mit der diese Trends das Marktumfeld der Unternehmen und die Unternehmen selbst aufmischen.
Acht Prognosen für 2030
Acht Voraussagen für das Jahr 2030 hat das renommierte World Economic Forum (WEF) getroffen, die unsere Volkswirtschaften, also auch dich als Mensch, Unternehmer, Vertriebsleiter, radikal betreffen werden. Hier eine kurze Zusammenfassung der globalen Vorschau des WEF, quasi auf Punktformel gebracht:
•Es gibt keine Produkte mehr, nur noch Dienstleistungen (Services).
•Der Ausstoß von Kohlendioxid kostet weltweit einen (hohen) Preis.
•Es gibt eine Handvoll an Weltmächten – die bisherige Dominanz der USA wird Geschichte sein.
•Medizinische Versorgung verlagert sich vom allgemeinen Gesundheitswesen auf das private Umfeld.
•Fleisch zu essen und die Fleisch-Industrie sind out.
•Die heutigen Flüchtlinge sind die CEOs von morgen.
•Die vielzitierten westlichen Werte werden bis zu den Grenzen ihrer Belastbarkeit ausgetestet.
•Die Menschheit sucht neue Entwicklungsmöglichkeiten außerhalb ihres geliebten, aber unverantwortlich ausgebeuteten Planeten – geht es in Richtung Weltraum?
Aber noch sind die Besiedlung ferner Planeten und der Weltraumhandel wahrlich nicht unser drängendstes Problem. Angesichts neuen Protektionismus und Nationalismus, Mauern und Zollstreit, Brexit und Rohstoff-Ausverkauf, angesichts globaler Verwerfungen, die die Märkte und Volkswirtschaften auch gegenwärtig schon weltweit spüren, greifen in vielen Firmen, kleinen wie großen, Gefühle der Unberechenbarkeit und der Ohnmacht um sich. Wenig bis nichts scheint noch kalkulierbar; mit letzter Sicherheit lässt sich nur sagen, dass die digitale Transformation uns alle in den Unternehmen massiv betrifft – auch den Vertrieb. Nur darf diese »Sicherheit der ständigen Unsicherheit« eines nicht: Zögerlichkeit bei euch auslösen. Denn Zögern ist in den heutigen Märkten gleichbedeutend mit Rückschritt. Das ist ein Tod auf Raten.
Digitale Transformation nach außen und innen
Für viele Unternehmen kommt das Aus zurzeit noch schneller, als sie »Agilität« sagen können, nämlich für diejenigen, die die digitale Transformation zu lange verschlafen haben und sich an modifizierte Technologien und Geschäftsmodelle auf ihren Märkten nicht anpassen konnten. Die neue disruptive Businessmodelle in ihrer Branche entweder ignorieren oder zu spät wahrnehmen und denken, die digitale Transformation beträfe in ihrem Unternehmen nur den Bereich Forschung und Entwicklung und nicht etwa auch Marketing und Vertrieb. Dabei liegt gerade an der Schnittstelle zum Kunden, also in der »digitalen Transformation nach außen«, das größte und wichtigste Anwendungsfeld der Digitalisierung, wie die Abbildungen auf der folgenden Seite zusammenfassen.
Wenn du also wissen willst, wie »Vertrieb heute anders geht«, kommst du nicht umhin, dich mit der Bedeutung der Digitalisierung für deine Branche, deinen Vertrieb und für deine Führungsrolle auseinanderzusetzen.
Die Schnellen fressen die Langsamen und jetzt sogar die Großen
Interessanterweise hinken der aktuellen digitalen Entwicklung derzeit Branchen hinterher, von denen wir es nicht erwartet hätten, wie etwa Beratung und Dienstleistung – speziell die Finanzdienstleistungen. Gerade hier tobt jedoch der Kampf der Etablierten gegen die schnellen und aggressiven Fintechs und Securetechs erbittert. Eine Flut an digitalen Finanz- und Versicherungsplattformen und Apps schwappt über die bisherigen marktbeherrschenden Player hinweg, die sich bemühen, mit Ausgründungen und Zukäufen den Anschluss zu schaffen und mit ihrem Geld neue Ideen zu übernehmen und größer in den Markt zu bringen. Dabei geht es ihren Geschäftsmodellen zum Teil massiv an den Kragen – schauen wir uns den Markt zum aktuellen Stand 2018 / 2019 mal überschlägig an (wenn du dieses Buch zwei oder drei Jahre nach Erscheinen liest, wird das natürlich schon wieder nostalgischen Charakter haben): Digital Services, wie moneymeets beispielsweise, verzeichnen Riesenzuläufe an Neukunden, da sie die Provisions- und Kickback-Modelle der Finanzdienstleister offenlegen und ihre Kunden an diesen beteiligen. Dadurch können sie konkurrenzlos günstig sein. Die 2011 bzw. 2013 gegründeten Einlagenvermittler Deposit Solutions und Raisin haben bereits im vierten Quartal 2018 Einlagen im unteren zweistelligen Milliardenbereich vermittelt. In allen (klassischen Finanzdienstleister-)Bereichen, in denen es etwas zu vermakeln gibt, sind mittlerweile digitale Start-ups am Drücker, auch beim Investment in Immobilienprojekte sowie bei der Anlageberatung: Allein 23 deutsche »Robo Advisor« listet Anfang 2019 die Website robo-advisor.de auf – und ihrem Ansatz ist inhärent, dass Kunden ihre Vermögens- und Anlageverwaltung direkt und selbst online tätigen.
Abbildung 1: Die aktuelle Bedeutung der Digitalisierung in den Unternehmensbereichen

(Van Dick et al. 2016, S. 6)
Abbildung 2: Die aktuelle Bedeutung der Digitalisierung in den Branchen

(ebd.)
»Smartphone-Banken« wie die N26 steigen quasi aus der Gründungsphase heraus mit Milliardenbewertungen in die Riege der Unicorns auf, der Milliarden-Start-up-Unternehmen, und eine Vielzahl neuer Apps und Businesses bieten Kunden an, nicht nur ihre sämtlichen finanzrelevanten Konten, sondern gleich auch ihr Vertragswerk und ihre Vermögensanlage über die Analyse der laufenden Abbuchungen beispielsweise von Telekommunikations- und Stromanbietern aufzulisten, sofort mit anderen Anbietern zu vergleichen – und zu kündigen oder zu kaufen. Der wechselfreudige digitale Kunde sieht dabei keinen Vertriebsmitarbeiter oder Berater mehr – und umgekehrt. Das macht hier was mit dem Vertrieb! Das ist schlicht »das Ende des Verkaufens«. Zumindest, wie wir alle es noch kennengelernt haben.
Fintechs: Vom Wirbelwind zum Plattformgeschäft
Aber weiter im Text: Zahlungsdienstleister Wirecard stellt gerade den Markt auf den Kopf – er hat es zudem in kürzester Zeit auf eine Marktkapitalisierung von fünfeinhalb Milliarden Euro gebracht und im Sommer 2018 der Deutschen Bank den Titel als wertvollstes deutsches Geldinstitut abgejagt. Über das Jahr 2019 hinaus avisiert das Unternehmen schon jetzt weitere Wachstumsprognosen. Mit dem Boom des Online-Shoppings verdienen Firmen wie Wirecard oder Adyen Milliarden. PayPal ist mittlerweile das Bezahlsystem der Wahl für die Kunden von heute – ein Unternehmen, das diese Option nicht anbietet, wird von Kunden gnadenlos abgestraft. In diese Kerbe hauen auch Google Pay und Apple Pay, das Ende 2018 nach 26 anderen Ländern auch in Deutschland gestartet ist und den Kunden die (analoge) Geldbörse abnehmen will – wobei das so ziemlich der einzige Teilmarkt ist, mit dem sich sämtliche Fintechs schwertun, denn der Deutsche liebt sein Bargeld. Daher ist der Bereich Peer-to-Peer-Payment gerade noch das »Auge der Stille« des digitalen Hurrikans, der die ganze Finanzdienstleister- und Versicherungsbranche durcheinanderwirbelt und dort auch im Vertrieb und Kundengeschäft B2C und B2B keinen Stein mehr auf dem anderen lässt. Wirecard wirkt übrigens auch an Apple Pay mit und will laut manager magazin seine Wertschöpfungskette mit Zusatzdiensten wie Gutscheinen oder Versicherungen ausbauen. Denn so erhalten diese Unternehmen Relevanz für ihre Kunden: indem sie möglichst alle Leistungen aus einer Hand anbieten und / oder sich als Plattform aufstellen, die alle Möglichkeiten vereint. Wirecard-Wettbewerber Adyen schreibt sich das auch gleich in den Claim: »The payments platform built for growth«.
Die Plattform-Ökonomie: Der eigentliche Markt-Disruptor
Damit sind wir bei einem digitalen Treiber, der wie kaum ein zweiter die Märkte, in denen wir uns mit unseren Firmen, Angeboten und Services bewegen, bestimmt: rasch wachsende digitale Plattformen, die gezielt Monopolistenstatus anstreben und mit immer höher aggregierten Zusammenschlüssen nach nichts weniger als der »ökonomischen Weltherrschaft« streben.
Denn dabei geht es diesen Plattformbetreibern nicht »nur« um das Streben nach den jeweils größten Anteilen an Handels- und Verkaufsvolumina weltweit, sondern sie bestimmen auch die (Richtung der) technologischen Entwicklung, des kulturellen Austauschs, vielleicht sogar soziopolitische Strömungen weltweit. Was vielleicht mal als »digitaler Marktplatz für Bücher« (ja, so hatten wir alle Amazon mal auf dem Schirm, erinnerst du dich noch?) und der Fast Moving Consumer Goods (FMCG) begann – und damals schon Einzelhändler und ganze Shoppingmalls vernichtete – hat sich heute zu (nahezu) alternativlosen Ökosystemen ausgewachsen, in denen wir – und damit meine ich auch unsere Unternehmen – überleben und unseren Handel treiben müssen. Was digitalisiert werden kann, was zu einer Plattform werden kann, das wird auch digitalisiert und zu einer Plattform werden.
Plattform-Ökonomie ist meines Erachtens das der Social Economics zugrundeliegende – und damit vielleicht sogar wichtigere – Phänomen der Digitalisierung. Dabei ist es nicht ausreichend, auf »GAFA« zu starren: Google, Amazon, Facebook und Apple, auf die ich unter dem Stichwort »die vierplus apokalyptischen Reiter« später im Buch noch mal zurückkomme und auf die wir uns in Europa massiv eingeschossen haben. Nicht mal, wenn wir Alibaba als größten (Verkaufs-)Plattform-Player aus China dazunehmen. Plattformen, die sich zu kompletten Ökosystemen auswachsen, betreffen auch Cloud Computing, Rechner- und Speicherumgebungen, Softwares und Payment-Dienstleister – das sind die eigentlichen Haie. Haie, mit denen wir im Vertrieb in den nächsten Jahren in immer volleren Gewässern schwimmen müssen. Da reden wir natürlich auch von den oben genannten Anbietern, aber zusätzlich von Microsoft, Google-Übermutter Alphabet, SAP, Samsung und Tencent, das mit WeChat (»Weixin«) eine App betreibt, über die halb Asien nicht nur kommuniziert, sondern auch seine Finanzgeschäfte abwickelt. (Vgl.: Dr. Holger Schmidt – www.netzoekonom.de 2018: Globale Plattform-Ökonomie. Die 70 wertvollsten Plattformen der Welt.)