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„Was hättest du eigentlich an meiner Stelle gemacht?“, wollte ich von meiner Freundin wissen, woraufhin sie nachdenklich die Unterlippe zwischen die Zähne zog.
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich den anderen Männern an der Haltestelle einen Tritt in den Hintern gegeben, damit sie etwas tun. Oder irgendwie so was.“
Tja, das hätte ich wohl auch tun sollen. Aber jetzt war es zu spät.
„Hast du seine Nummer nicht?“, fragte Nele in meine Gedanken hinein. „Dann ruf Lukas doch an und frag ihn, ob alles okay ist. Wenn das grad so übel war, wie du sagst, wird er verstehen, dass du dir Sorgen machst, und sich garantiert auch ein bisschen gebauchpinselt fühlen.“
„Schön wär’s. Aber woher sollte ich seine Nummer haben?“
„Mein Gott!“, stöhnte sie. „Ihr seid solche Trantüten! Ich an deiner Stelle hätte längst Nummern und Wohnungsschlüssel ausgetauscht und mich zum Blumengießen angeboten. Könnte ja immer mal ein Notfall sein, oder nicht?“
„Sagt die, die selbst den Klempner kaum ohne polizeiliches Führungszeugnis in ihre Wohnung lässt“, erwiderte ich skeptisch.
„Hallo?!“, gab Nele empört zurück. „Wir reden hier über deinen Lukas und nicht über einen völlig fremden, augenscheinlich notgeilen Testosteron-Strotz im Blaumann.“
Ich grinste sie kurz an und brütete anschließend weiter schweigend vor mich hin.
„Hey“, redete Nele beruhigend auf mich ein. „Dem geht’s bestimmt gut. Und wenn er wüsste, was in deinem Köpfchen grad so vor sich geht, wäre er ganz schön blöd, wenn er dich nicht sofort schnappen und dir deine ganzen Grübeleien einfach wegvö… äh … ich meine, wegküssen würde.“
Ob ich wollte oder nicht, ich musste lachen. „Du hast echt einen Knall.“
„Ich weiß. Und wenn du mich fragst, gibt es jetzt drei Möglichkeiten. Erstens: Wir gehen ins Old Chap, machen uns keinen Kopf mehr um Dinge, die eh nicht so sind wie du glaubst, und haben einen schönen Abend. Zweitens: Wir fahren zu dir nach Hause, igeln uns ein und erzählen uns gegenseitig Horrorgeschichten, bis Lukas nach Hause kommt und unsere panischen Schreie hört. Oder drittens: Wir fahren zum Berliner Platz und gucken nach, ob es ihm gut geht. Aber dir ist hoffentlich klar, dass eine Nadel im Heuhaufen nichts dagegen ist.“
Ich schaute sie an und wusste, dass meine Freundin ohne Weiteres auf ihre Chance mit dem Mann vom Postschalter verzichtet hätte, um genau das zu tun. Doch dann stellte ich mir vor, wie wir beim Public Viewing aufkreuzten und Lukas und seine Kollegen sich über meinen Auftritt als seine Babysitterin schlapplachen würden. Ganz abgesehen davon, dass wir ihn erst mal unter Tausenden Leuten finden mussten.
Innerlich schüttelte ich über mich selbst den Kopf und überlegte, was Lukas sagen würde, wenn er wüsste, was gerade in mir vorging. Auslachen würde er mich sicher nicht, dafür war er viel zu charmant. Aber ich konnte direkt vor mir sehen, wie seine Augen amüsierte Funken sprühten.
Also gut, rief ich mich selbst zur Ordnung. Mach dir nicht in die Hose, Anna! Der kommt schon klar und hat wahrscheinlich längst das erste Bier intus, während du dich hier von deinen Hirngespinsten veräppeln lässt.
Ich atmete tief durch und schaute meine Freundin an. „Okay“, sagte ich. „Lass uns ins Old Chap gehen. Ich brauche jetzt dringend einen Schnaps oder so was.“
Nele grinste zufrieden, hakte sich bei mir ein und dirigierte mich Richtung Ausgang. „So gefällst du mir schon besser.“
Am Ende wurde der Abend trotz allem unerwartet schön. Nachdem Nele mir gestanden hatte, dass ihr Traumprinz bloß bemerkt hatte, ob es sein könnte, dass er sie neulich im Old Chap gesehen hatte, glaubte ich kaum, dass er deshalb ausgerechnet heute hier auftauchen würde. Aber er kam tatsächlich kurz nach uns in die Kneipe und hatte zudem einen sehr sympathischen Freund mit dabei. Leon war zwar in festen Händen und ohnehin nicht unbedingt mein Typ, aber wir hatten eine Menge Spaß miteinander, während Nele und ihr Postmann baggerten, was das Zeug hielt. Timm schien völlig hingerissen von ihr zu sein und vergaß immer öfter, nebenbei einen Blick auf den Fernseher in der Ecke zu werfen, auf dem das Fußballspiel übertragen wurde.
Ich grinste vergnügt in mich hinein, als ich feststellte, dass Nele auch keinen Exoten erwischt hatte. Wobei ihm meine Freundin für den Moment wirklich wichtiger zu sein schien als das Spiel. Aber ich glaubte mich zu erinnern, dass es damals bei mir und Jan ebenso gewesen war, bevor ich nach und nach immer weiter ins Abseits abgeschoben wurde und die Sache beendete.
Um uns herum wurde laut gejubelt, als feststand, dass die deutsche Mannschaft das Spiel gewonnen und den Einzug ins Achtelfinale geschafft hatte. Auch Timm ließ sich davon mitreißen, zog meine verblüffte Freundin übermütig in seine Arme und wirbelte sie einmal in die Runde. Ihr Gesicht war goldwert. Sie strahlte mich glücklich an, und ich versuchte mühsam, mich für sie zu freuen und nicht daran zu denken, wie gerne ich selbst in diesem Moment jemanden an meiner Seite gehabt hätte. Lukas zum Beispiel. Sehnsüchtig nippte ich an meinem Cocktail und fragte mich, wie es ihm wohl gerade ging beim Rudelgucken.
Gegen ein Uhr verabschiedete ich mich von den anderen und gönnte mir ein Taxi für den Heimweg. Mein Bedarf an Bahnfahrten war für heute mehr als gedeckt. Außerdem war ich müde und angetrunken und wollte so schnell wie möglich ins Bett.
Draußen vor dem Haus schaute ich an der Fassade hoch zu Lukas‘ Wohnung in der Hoffnung, dass dort Licht brannte. Mein alkoholisiertes, wagemutiges Ich hätte dann vielleicht bei ihm geklingelt, um sich zu vergewissern, dass bei ihm alles in Ordnung war. Doch hinter seinen Fenstern war alles dunkel. Kein Wunder, nachts um halb zwei. Wahrscheinlich schlief er schon. Oder er war nach dem Public Viewing mit seinen Kollegen weiter durch die Stadt gezogen und machte das Nachtleben unsicher, denn Lukas war eigentlich nicht der Typ, den ich mir am Samstagabend alleine zu Hause auf dem Sofa vorstellen konnte.
Seufzend schloss ich die Haustür auf, stieg die zwei Stockwerke hoch zu meiner Wohnung und fiel von den Cocktails benebelt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Aus diesem wurde ich am nächsten Morgen unsanft herausgerissen, als das Handy klingelte und meine Schwester anrief. Im selben Moment, in dem ich ihren Namen auf dem Display las, fiel mir siedendheiß ein, dass ich etwas vergessen hatte. Kathi und ihr Mann waren heute zur Geburtstagsfeier seines Chefs eingeladen, und ich sollte den kleinen Flo hüten. Schon vor Wochen hatten wir verabredet, dass mein Schwager mich abholen und ich mich bei ihnen zu Hause um mein Patenkind kümmern würde.
Mist! Nele hatte mich gestern so mit ihrem blöden Old Chap überrumpelt, dass ich es völlig verschwitzt hatte. Also hieß es Beine in die Hand nehmen, denn Mark war bereits unterwegs und würde spätestens in einer halben Stunde bei mir sein.
Zwischen Dusche, Anziehen und einer schnellen Tasse Kaffee rief auch noch Nele an, die mir unerträglich glücklich jedes einzelne Detail über ihren Timm erzählen wollte. Ich vertröstete sie auf später und wappnete mich innerlich für den anstrengenden Tag mit einem extrem munteren Dreijährigen. Zum Glück hatte ich gestern Abend nicht allzu viel getrunken, sonst hätte ich jetzt ein echtes Problem.
Ich hatte gerade den letzten Schluck Kaffee runtergeschluckt und räumte meine Tasse in die Spüle, als es bereits an der Tür klingelte.
„Bin unterwegs!“, rief ich Mark durch die Gegensprechanlage zu, schnappte mir meine Sachen und machte mich auf den Weg.
Im Hausflur wanderte mein Blick wie von selbst rüber zur Nachbarwohnung, und ich fragte mich, ob Lukas wohl auch schon wach war. Flüchtig tauchte eine Erinnerung an die Szene vom Bahnsteig in meinem Kopf auf. Doch im Großen und Ganzen hatte ich den Vorfall bereits verdrängt und als ein kleines, unbedeutendes Zwischenspiel abgehakt. Stattdessen rief ich mir lieber Lukas‘ strahlendes Lächeln vor Augen, und wie auf Knopfdruck waren auch die Schmetterlinge wach, um mit mir in den Tag zu flattern.
Felix
Nach einem geselligen Abend in der Hotelbar, einem unerwartet lehrreichen Rest des Seminars und einer überraschend staufreien Heimreise kam ich am Montagmorgen gut gelaunt zur Arbeit und staunte ein wenig über die verblüffte Reaktion meiner Kollegen. Hatte ich tatsächlich so lange nicht mehr gelacht und Späße gemacht? Wie es aussah, hatte Lukas recht, und ich hatte mich nach der Trennung von Steffi stärker verändert, als ich dachte. Doch den Gedanken an sie verdrängte ich schnell, ehe die schlechte Laune zurückkehrte. Stattdessen machte ich mich mit Schwung an die Arbeit.
In der Mittagspause setzte ich mich draußen vor der Praxis in die Sonne und checkte auf meinem Smartphone die Nachrichten, die in der Zwischenzeit eingegangen waren. Hauptsächlich waren es Anfragen von Freunden, ob ich am kommenden Wochenende nicht dieses oder jenes mit ihnen unternehmen wollte, wobei ich prompt an Lukas‘ Worte denken musste. Von wegen komischer Einsiedler!
Mit einem zufriedenen Lächeln antwortete ich meinen Leuten, dass ich diese Woche leider schon verplant war, aber gerne ein anderes Mal darauf zurückkommen würde.
Als ich schließlich einen Blick in mein E-Mail-Postfach warf, erstarrte ich. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Hatte ich diesem verdammten Makler nicht deutlich genug zu verstehen gegeben, dass wir wirklich nur am Samstagmorgen Zeit hatten, weil Lukas zu weit weg wohnte, um innerhalb der Woche herzukommen? Und jetzt war dem werten Herrn angeblich etwas dazwischengekommen, und er fragte, ob wir uns nicht doch schon am Freitagabend treffen konnten. Er wäre auch zu einem späten Termin außerhalb der normalen Zeiten bereit. Na, wie gnädig!
Ich stieß geräuschvoll die Luft aus und überlegte, ob Lukas in dieser Woche Früh- oder Spätschicht hatte. Wenn er Frühschicht hätte, könnte es funktionieren. Wenn nicht, dann würde sich der Verkauf des Hauses weiter verzögern.
Ziemlich angepisst wechselte ich zu WhatsApp und schrieb Lukas: Ruf mich bitte mal an, sobald du kannst! Dringend!
Doch ich wartete vergeblich. Bis nachmittags um vier hatte er meine Nachricht nicht einmal gelesen, obwohl er entweder um diese Zeit längst zu Hause war oder sie vor der Arbeit noch gesehen haben musste.
Weitere zwei Stunden später, als ich selbst Feierabend machte, hatte ich die Faxen dicke und rief ihn an, auch auf die Gefahr hin, ihn mitten in der Schicht zu erwischen.
„Der angerufene Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar“, teilte mir eine Frauenstimme vom Band mit. „Wenn Sie eine Rückrufbenachrichtigung per SMS senden wollen, drücken Sie …“
Shit! Frustriert unterbrach ich die Ansage und schickte Lukas selbst eine Nachricht. Aber den Rest des Abends wartete ich weiterhin vergeblich auf eine Antwort.
Im Stillen verfluchte ich meinen unzuverlässigen Bruder, der sich wahrscheinlich gerade irgendwo vergnügte und bloß keinen Bock auf mich und diesen langweiligen Organisationskram hatte. Ärgerlich scrollte ich unsere letzten Chats bei WhatsApp durch, bis ich einen Hinweis darauf gefunden hatte, dass er in seiner zweiten Woche in der neuen Firma Spätschicht gearbeitet hatte. Demnach hatte er diese Woche Frühschicht, und wenn er sich bis morgen früh nicht gemeldet hatte, würde ich dem Makler für Freitagabend zusagen. Dann musste Lukas sehen, dass er herkam, egal, was er sonst geplant hatte.
Punkt! Aus! Ende der Durchsage!
Anna
Als ich am Montagabend von der Arbeit nach Hause kam, stand vor unserer Haustür ein junger Mann, der an der Fassade hochblickte und etwas ratlos wirkte. Ich hatte ihn nie zuvor hier gesehen, aber er machte einen recht harmlosen Eindruck, deshalb trat ich ohne zu zögern neben ihn, zog meinen Schlüssel aus der Tasche und sagte: „Hallo.“
„Hallo“, erwiderte er automatisch und drehte sich zu mir um.
Wir musterten uns schweigend, und ich fragte mich, ob er eventuell Hilfe brauchte. Vermutlich wollte er zu einem der Studenten aus der WG im Dachgeschoss, bei der so oft die Bewohner wechselten, dass sich längst keiner mehr die Mühe machte, die Namensschilder an der Klingel auszutauschen. Kein Wunder, dass man da als Besucher überfordert war.
„Suchst du jemanden?“, erkundigte ich mich freundlich.
Der junge Mann runzelte nachdenklich die Stirn und antwortete etwas zerstreut: „Ja … das heißt, nein. Ich wollte eigentlich zu Lukas Engelhardt, aber er scheint nicht da zu sein.“
„Ach so“, gab ich möglichst neutral zurück, während mein Herz alleine bei der Erwähnung seines Namens einen kleinen Hüpfer außer der Reihe machte. „Wart ihr denn verabredet?“
„Nein.“
„Tja, dann hast du wohl einfach Pech gehabt.“ Ich steckte meinen Schlüssel ins Schloss und erwartete, dass er sich daraufhin verabschieden und gehen würde. Doch er rührte sich nicht von der Stelle, und ich spürte, dass er noch etwas loswerden wollte.
„Kennst du Lukas?“, fragte er, ehe ich die Tür aufschließen und im Haus verschwinden konnte. „Also, wenigstens vom Sehen, meine ich? Er ist erst vor ein paar Wochen hierhergezogen.“
„Ja“, sagte ich und drehte mich wieder zu ihm um. „Er wohnt direkt neben mir. Wieso?“
Er zögerte kurz. „Hast du ihn zufällig seit dem Wochenende mal gesehen?“
Ich sah ihn überrascht an: „Warum willst du das wissen?“
Ich hatte schließlich keine Ahnung, wer er war, und da konnte ja jeder daherkommen, um die Nachbarn auszuhorchen. Andererseits … Jetzt, wo er danach fragte, fiel mir auf, dass ich tatsächlich nicht wusste, ob Lukas seit unserer letzten Begegnung am Samstagabend noch einmal hier gewesen war. Und das, obwohl ich ihn dank seines polternden Hais eigentlich immer hörte, wenn er nach Hause kam. Allerdings war ich selbst ebenfalls unterwegs gewesen, überlegte ich im Stillen. Gestern bei Flo, der mir wirklich alles abverlangt und bloß eine erschöpfte Hülle von mir übrig gelassen hatte, und heute bei der Arbeit. Aber mich beschlich plötzlich ein dumpfes Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
„Ich bin ein Kollege von Lukas“, erklärte der Fremde, der meine Unsicherheit zu spüren schien. „Wir waren Samstagabend mit ein paar anderen aus unserem Team zum Public Viewing verabredet und …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ich ihn auf einmal seltsam angespannt. „Und da wollte er auch hin. Wir haben uns direkt vorher zufällig getroffen und darüber geredet.“
Der junge Mann lächelte nachsichtig. „Er war auch bei uns, und wir hatten einen coolen Abend miteinander“, meinte er. „Aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Dabei hatten wir uns eigentlich für Sonntag bei mir verabredet, weil die Jungs Lukas von meiner Plattensammlung erzählt haben und er sie unbedingt mal sehen wollte. Aber er ist nicht gekommen und hat sich auch nicht gemeldet. Ich habe erst gedacht, er hat es verpennt, weil wir am Samstag schon ziemlich was gebechert hatten. Aber nachdem er heute bei der Arbeit auch nicht aufgetaucht ist und keiner was von ihm gehört hat, dachte ich, ich gucke mal lieber, ob bei ihm alles in Ordnung ist.“
„Oh“, machte ich überrascht und zermarterte mir das Hirn darüber, ob ich Lukas nicht doch gehört und es nur vergessen hatte. Er konnte ja nicht spurlos verschwunden sein.
„Hast du mal versucht, ihn anzurufen?“, fragte ich und fühlte mich ziemlich dumm und naiv, als er antwortete: „Ja, klar. Aber er ist nicht zu erreichen, sondern es geht sofort eine Bandansage ran.“
Merkwürdig, dachte ich, während in meinem Hinterkopf eine Erinnerung an die Pöbelszene von der S-Bahn-Haltestelle aufblitzte. Vor mir sah ich das Bild, wie der Anführer der Truppe Lukas mit der Hand vor die Brust stieß, doch ich verdrängte es schnell wieder. Was sollte diese Szene damit zu tun haben, dass Lukas nicht zu erreichen war? Er war am Samstag schließlich vollkommen unversehrt bei seinen Kollegen angekommen, selbst wenn diese Halbstarken an derselben Haltestelle wie er ausgestiegen waren.
„Ich kenne Lukas ja noch nicht lange, aber das passt nicht zu ihm“, fügte der junge Mann hinzu. „Er ist eigentlich eher so ein Kumpeltyp, mit dem man Pferde stehlen kann, und keiner, der sich plötzlich wieder vom Acker macht.“
„Hmhmm“, murmelte ich nachdenklich. „Den Eindruck hatte ich auch. Aber als er bei euch war, war alles normal? Oder ist dir etwas Komisches aufgefallen?“
Er musterte mich neugierig, und ich fürchtete, mich damit etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. Natürlich hätte ich ihm von dem Vorfall an der S-Bahn-Haltestelle erzählen können. Aber das tat hier doch gar nichts zur Sache, oder? Außerdem schämte ich mich dafür, dass ich an dem Abend nicht anders reagiert hatte.
Doch zu meiner Erleichterung schüttelte er gleich darauf entschieden den Kopf. „Nein. Im Gegenteil. Lukas war wie immer total gut drauf. Der Scherzkeks hat sogar behauptet, dass ihm Fußball komplett am Arsch vorbeigeht. Kannst du dir das vorstellen?“, feixte er, und ich konnte mir nur mühsam das Kichern verkneifen.
„Was du nicht sagst!“
„Ja. Schräg, oder? Jedenfalls haben wir das Spiel geguckt und danach etwas den Sieg gefeiert. Anschließend wollten ein paar von uns in der Innenstadt durch die Kneipen ziehen, aber Lukas hatte was mit einer Frau am Gange und ist geblieben. So wie die ihn angehimmelt hat, ging es wahrscheinlich bloß noch um das Zu-mir-oder-zu-dir, nachdem wir weg waren.“ Er verzog den Mund zu einem verunglückten Grinsen, in dem eindeutig etwas Neid lag.
Ich lachte leise und versuchte dabei, dieses eifersüchtige Pieken in meiner Brust zu ignorieren. Es war doch klar, dass einem Mann wie Lukas die Frauen reihenweise zu Füßen lagen. Und nur, weil er mit jeder von ihnen flirtete, musste das ja nicht gleich etwas zu bedeuten haben. Also atmete ich tief durch und konzentrierte mich wieder auf das eigentliche Problem, denn diese Aussage von seinem Kollegen erklärte trotzdem nicht, warum Lukas heute unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt hatte.
Ich zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich die Haustür von innen geöffnet wurde und die alte Frau Schulze mit ihrem Rollator herauskam.
„Huch“, sagte sie, nachdem sie beinah in mich hineingelaufen wäre. „Entschuldigen Sie, Fräulein Anna. Ich habe gar nicht gemerkt, dass jemand vor der Tür steht.“ Sie blickte an mir vorbei zu Lukas‘ Kollegen. „Guten Tag, junger Mann.“
„Guten Tag“, grüßte er höflich zurück, hielt ihr die Tür auf und trat einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Frau Schulze rührte sich jedoch nicht von der Stelle und musterte ihn skeptisch von Kopf bis Fuß. Wahrscheinlich hielt sie ihn für meinen Liebhaber, und der musste natürlich erst mal genauestens unter die Lupe genommen werden, bevor er hier im Haus ein und aus gehen durfte.
„Frau Schulze, haben Sie Lukas Engelhardt heute zufällig schon gesehen?“, fragte ich schnell. Zum einen, um sie von irgendwelchen abwegigen Gedanken abzubringen. Zum anderen, weil der alten Frau selten entging, wenn jemand das Haus betrat oder verließ. In ihrer kleinen Erdgeschosswohnung hatte sie die beste Sicht auf den Eingangsbereich, und seit ihr Mann vor zwei Jahren gestorben war, hatte sie leider kaum etwas anderes zu tun, als sich um das Leben ihrer Nachbarn zu kümmern.
„Den Herrn Engelhardt?“, überlegte sie laut. „Nein. Schon länger nicht mehr. Warum fragen Sie?“
„Nur so“, erwiderte ich ausweichend, um sie nicht zu beunruhigen. „Er hat anscheinend eine Verabredung vergessen, aber das kann ja mal vorkommen.“
Frau Schulze wiegte nachdenklich den Kopf hin und her und meinte: „Jaja, immer diese jungen Leute. Haben einfach zu viel um die Ohren heutzutage. Aber eins sag ich Ihnen, Fräulein Anna: Passen Sie immer gut auf sich auf. Es gibt viele böse Menschen da draußen. Dieser arme Mann, den sie da gerade erst gefunden haben. Fast totgeprügelt haben sie den.“
Was?! Ich erstarrte innerlich, während sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen. Fast totgeprügelt? Wen? Wann? Wo? Schockiert sah ich zu Lukas‘ Kollegen rüber, dessen Namen ich nach wie vor nicht kannte. Der blieb im Gegensatz zu mir gelassen, schien aber selbst bisher nichts davon gehört zu haben und wandte sich an Frau Schulze: „Was meinen Sie damit?“
Die Alte blickte etwas ratlos zwischen uns hin und her. „Ja, hört ihr jungen Leute denn keine Nachrichten mehr? Das kommt doch seit gestern ständig durchs Radio. Sie haben gesagt, dass ein junger Mann überfallen und zusammengeschlagen wurde. Irgendwo in der Stadt … Aber wo war das auch noch … Ach, ich habe es leider vergessen.“
Eine eisige Faust griff nach meinem Brustkorb und drückte immer weiter zu.
Lukas!, war mein einziger Gedanke. Was, wenn es sich dabei um ihn handelte? Wenn die Pöbeltruppe ihm doch aufgelauert hatte, um sich an ihm zu rächen?
Am liebsten hätte ich meine Nachbarin geschüttelt, damit sie mir sagte, wo dieser Überfall passiert war. Stattdessen kam dem kläglichen Rest meiner funktionsfähigen Hirnzellen eine andere Idee. Hektisch wühlte ich in meiner Tasche nach dem Handy und rief mit zitternden Fingern die Google-Suche auf. Währenddessen bekam ich gar nicht mehr mit, wie Lukas‘ Kollege sich weiter mit Frau Schulze unterhielt und sie schließlich ihrer Wege zog. Erst als er mich vorsichtig am Arm berührte, wurde mir bewusst, dass er mit mir redete.
Wie erwachend blickte ich zu ihm auf und musste dabei einen ziemlich panischen Eindruck gemacht haben, denn er legte mir besänftigend eine Hand auf die Schulter. „Hey“, sagte er ruhig. „Jetzt mach dich nicht gleich verrückt. Das muss überhaupt nichts mit Lukas zu tun haben.“
„Und wenn doch?“, stieß ich heiser hervor. Er wusste ja nichts von der Szene am Bahnsteig, sonst wäre er sicher auch nicht mehr so gelassen.
Der junge Mann deutete mit einer Kopfbewegung auf mein Handy. „Hast du was gefunden?“
Ich schaute zurück auf das Display und schüttelte frustriert den Kopf. „Nein. Bis jetzt bloß eine Überschrift, und wenn man weiterlesen will, muss man bezahlen.“
„Beim Anzeiger?“, hakte er nach.
„Ja.“
„Ich hab da ein Abo“, sagte er und zog sein eigenes Handy aus der Tasche.
Im selben Moment ging die Haustür ein weiteres Mal auf, und die fünfjährigen Zwillinge aus dem ersten Stock stürmten laut kreischend zwischen uns hindurch, gefolgt von ihrer gestressten Mutter. Auch das noch! Die Jungs waren bekannt dafür, dass sie einen in Grund und Boden quatschten, dabei lagen meine Nerven sowieso schon blank. Aber zum Glück schien es meine Nachbarin eilig zu haben, denn sie scheuchte ihre Söhne energisch weiter Richtung Auto.
Nachdem sie weg waren, schlug ich Lukas‘ Kollegen vor, zu mir nach oben zu gehen, bevor wir erneut gestört wurden. Ich kannte ihn zwar überhaupt nicht, doch ich hatte jetzt andere Sorgen, als darüber nachzudenken, ob er möglicherweise ein Frauenschänder oder Serienmörder sein könnte. Und wie zum Beweis dafür, dass er es nicht war, hörte ich ihn auf dem Weg die Treppe rauf hinter mir sagen: „Ich bin übrigens Olli.“
Wie von selbst verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. „Anna“, erwiderte ich, und auch wenn Nele mich dafür garantiert zur Schnecke machen würde, reichte mir das, um diesen Wildfremden mit in meine Wohnung zu nehmen.
Schweigend gingen wir durch ins Wohnzimmer, wo Olli sich in seinen Account bei unserer Tageszeitung einloggte und ich gleichzeitig nach anderen, uneingeschränkten Artikeln suchte, aber nicht fand. Bis Olli mir sein Smartphone reichte, auf dessen Display mir der Artikel über den Überfall ins Auge sprang. Ängstlich nahm ich es entgegen und las den Text, während mir die eisige Faust immer weiter die Luft abdrückte.
Von einem bisher nicht identifizierten jungen Mann war dort die Rede, der am frühen Sonntagmorgen mit lebensgefährlichen Verletzungen hinter ein paar Müllcontainern eines Wohnblocks in der Nähe des Berliner Platzes gefunden worden war. Es hieß, er sei möglicherweise das Opfer eines Raubüberfalls geworden, da er weder Handy noch Portemonnaie bei sich trug. Die Verletzungen stammten laut Aussage der behandelnden Ärzte von zahlreichen Schlägen und Tritten gegen den gesamten Körper. Es wurden Zeugen gesucht, die in der Nacht etwas Verdächtiges beobachtet hatten bzw. jemanden vermissten, auf den die Personenbeschreibung passte.
„Oh mein Gott“, flüsterte ich fassungslos und las ein weiteres Mal die Angaben zum Aussehen des Opfers: Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, groß, blond, sportlicher Körperbau, blaue Jeans, dunkelblaues T-Shirt mit grauem Aufdruck auf der Brust.