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„Das alles passt genau auf Lukas. Und er war da, am Berliner Platz.“
„Ja, das schon“, gab Olli zu bedenken. „Aber beides trifft auf zig andere Leute auch zu. Du hast keine Ahnung, was da beim Public Viewing los war. Und blaue Jeans und dunkelblaues Shirt sind keine außergewöhnlichen Klamotten.“
Er wollte mich beruhigen, aber ich meinte in seiner Stimme ein leichtes Zögern zu hören. So viel Zufall konnte es außerdem gar nicht geben, dass Lukas ausgerechnet in dem Moment von der Bildfläche verschwand, in dem so ein schreckliches Verbrechen geschah. Schon für sich alleine klang das ziemlich unwahrscheinlich, geschweige denn, wenn man die Vorgeschichte kannte.
Erzähl es ihm!, wisperte eine leise Stimme in mir. Aber ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt vor Angst und Entsetzen und dachte immer wieder nur: Bitte, lass es nicht Lukas sein! Bitte, bitte, lass es nicht Lukas sein!
„Anna?“
Ich hob den Kopf und bemerkte Ollis fragenden Blick. Er spürte anscheinend, dass etwas in mir vorging, was über die bloße Sorge um einen Nachbarn hinausging.
Verzweifelt presste ich die Lippen aufeinander und gab ihm schweigend sein Handy zurück. Dabei erstickte ich fast an all den ungesagten Worten, die mir in der Kehle steckten und rauswollten, aber nicht konnten. Nicht durften. Weil meine Befürchtungen dann Realität geworden wären. Vor meinem geistigen Auge sah ich die vier üblen Gestalten von der Haltestelle, wie sie Lukas beim Einsteigen in die Bahn ihre Drohungen hinterhergerufen hatten. Was, wenn es da einen Zusammenhang gab? Was, wenn es wirklich Lukas war, der dort schwer verletzt gefunden worden war? Verdammt, warum hatte ich mich nur von Nele beruhigen und ablenken lassen, wo ich von Anfang an dieses mulmige Gefühl gehabt hatte? Was, wenn wir doch zurückgefahren wären, um uns zu vergewissern, dass es ihm gut ging? Andererseits war ja zunächst alles bestens gewesen, solange er bei seinen Kollegen war …
„Okay“, riss Olli mich aus den Gedanken. „Was hältst du davon, wenn wir zur Polizei gehen und ihnen von Lukas erzählen, bevor wir uns hier weiter verrückt machen? Wenn er es wirklich ist, dann werden sie es schnell herausfinden können. Und wenn nicht, dann müssen wir uns darum wenigstens keinen Kopf mehr machen.“
Ich zuckte kaum merklich zusammen. Polizei? Alles in mir sträubte sich dagegen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab, denn ich hatte mir bisher nichts zuschulden kommen lassen. Aber das ging mir plötzlich alles zu schnell. Wenn ich dorthin ginge, müsste ich auch von dem Vorfall an der Haltestelle erzählen. Und dann würden sie fragen, warum ich nicht früher etwas gesagt hatte. Und … keine Ahnung, was noch alles. Ich war mit der ganzen Situation vollkommen überfordert und hätte mir am liebsten die Decke über die Ohren gezogen, bis dieser Albtraum vorbei war und Lukas wieder quicklebendig mit seinem Hai an die Tür polterte. Mir war klar, dass das keine sehr erwachsene Reaktion war. Aber ähnlich wie an der Haltestelle war ich in völliger Hilflosigkeit erstarrt.
Zögernd schaute ich zu Olli und bemerkte, dass er mich forschend beobachtete. Unter seinem Blick schrumpfte ich immer mehr zusammen und fühlte mich furchtbar schlecht.
„Das nimmt dich alles ganz schön mit, was?“, sagte er mitfühlend. „Also, wenn du willst, kann ich auch alleine gehen. Aber darf ich deinen Namen angeben, wenn die Beamten danach fragen?“
Ich schluckte trocken und nickte langsam. „Glaubst du, dass sie das wissen wollen? Ich kann doch auch nicht mehr dazu sagen als du.“
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Nur für den Fall. Und vielleicht sollten wir auch unsere Handynummern austauschen, damit wir uns auf dem Laufenden halten können. Nicht, dass Lukas plötzlich hier auftaucht, während ich mich da mit der Polizei rumschlage.“
Meine Lippen verzogen sich zu einem winzig kleinen Lächeln. „Schön wär’s.“
Olli lächelte ebenfalls, tippte die Kontaktliste auf seinem Smartphone an und ließ sich meine Nummer diktieren. Nachdem wir unsere Daten gegenseitig gespeichert hatten, stand er auf und sagte: „Tja, dann will ich mal.“
Ich brachte ihn zur Tür, wo wir beide kurz innehielten und zu Lukas‘ Wohnung rüberschauten.
„Ich geb dir nachher Bescheid, was sie gesagt haben“, versprach Olli, bevor er ging.
„Danke“, erwiderte ich leise.
Er war schon die ersten drei Stufen runter, als mir etwas einfiel. „Olli?“
„Ja?“ Er blieb stehen und schaute über die Schulter zu mir zurück.
„Kannst du die Polizei bitte fragen, ob sie bei dem Mann von dem Überfall einen Schlüsselanhänger mit einem geschnitzten Hai dran gefunden haben?“
Er zog fragend die Stirn in Falten, nickte wortlos und ging.
Zurück in meiner Wohnung, ließ ich mich kraftlos aufs Sofa fallen, zog die Knie an die Brust und vergrub aufgewühlt mein Gesicht dazwischen. Das Herz pochte hart gegen meinen Brustkorb und pumpte rauschend das Blut durch meinen Körper. Lukas’ rätselhaftes Verschwinden und die Nachricht über den Überfall in der Nähe vom Berliner Platz hatten mich vollkommen schockiert, und ich wusste auch genau, warum. Was mir allerdings völlig schleierhaft war, war die Frage, wie ich nach dem Vorfall an der Haltestelle zwei Tage lang so tun konnte, als wäre nichts gewesen. War ich wirklich so oberflächlich, dass ich nach dem ersten Panikmoment die Szene einfach abhaken konnte? Oder war es ein fieser Trick meiner Psyche, das Ganze so gut zu verdrängen und zu hoffen, dass nie wieder jemand darauf zurückkommen würde? Tja, das hatte definitiv nicht funktioniert, und die schlagartige Erinnerung daran hatte mir den Boden unter den Füßen weggezogen.
Ich wusste nicht, wie lange ich so dort gesessen hatte, als mein Handy plötzlich klingelte und ich beinahe einen Herzinfarkt bekam. War das etwa schon die Polizei? Und falls ja, was sollte ich denen sagen?
Zögernd rappelte ich mich auf, beugte mich über den Tisch, um nach dem Smartphone zu greifen, und stieß erleichtert die Luft aus, als ich den Namen meiner Schwester auf dem Display las.
„Hey“, sagte ich leise, und irgendetwas daran ließ bei ihr die Alarmglocken läuten, denn sie wollte sofort wissen, was passiert war. Also erzählte ich es ihr, angefangen bei der Szene am Bahnsteig, bis hin zu Olli und der Nachricht über den Überfall.
„Oh Gott! Warum hast du das denn nicht gestern schon erzählt?“, rief Kathi entrüstet.
„Ihr musstet doch weg“, verteidigte ich mich wenig überzeugend. „Außerdem habe ich selbst nicht mehr daran gedacht, weil es aussah, als wäre alles gut gegangen. Aber jetzt …“ Unter Tränen brach ich ab und zog schniefend die Nase hoch.
„Ach, Anni“, sagte sie sanft. „Mach dich nicht verrückt, hörst du? Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat. Meinst du, diese Typen hätten sich deinen Nachbarn nicht sofort gekrallt, wenn sie das vorgehabt hätten? Die hatten bestimmt etwas Besseres vor, als ihn stundenlang zu beobachten und auf die passende Gelegenheit zu warten.“
„Keine Ahnung. Aber würdest du so einen Überfall ernsthaft am helllichten Tag in der Nähe von Tausenden Fußballfans machen oder nicht doch eher abwarten, bis es dunkel und weniger bevölkert ist?“
„Hm“, machte Kathi ratlos. „Jetzt warte erst mal ab, bis die Polizei das Opfer identifiziert hat. Mit dem Hinweis von diesem Olli müsste das ja ziemlich schnell zu klären sein. Aber selbst wenn es wirklich Lukas ist, dann muss das nicht unbedingt etwas mit den Typen aus der Bahn zu tun haben. Letztendlich kann das wahrscheinlich sowieso nur er selbst sagen.“
„Wenn er es noch kann“, erwiderte ich niedergeschlagen, denn der Zeitungsartikel hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass das Opfer des Überfalls lebensgefährliche Verletzungen erlitten hatte und eine weitere Stunde hilflos hinter den Müllcontainern kaum überlebt hätte.
Für einen Moment blieb es still zwischen uns. Dann bemerkte Kathi zögernd: „Sag mal, Schwesterherz, kann es sein, dass wir hier nicht bloß über einen deiner Nachbarn reden?“
Ich gab ein kleines, trauriges Lachen von mir. Meine große Schwester witterte anscheinend potenziellen Familienzuwachs. In meinem Alter war sie bereits seit zwei Jahren verheiratet, und sie hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mich ebenfalls möglichst bald unter die Haube zu bringen. Zu dumm, dass mir dafür bisher der richtige Partner fehlte. Und selbst wenn Lukas doch auf verworrenen Wegen des Schicksals derjenige sein sollte, der für mich bestimmt war, dann hatten wir jetzt gerade andere Probleme als ein Kleid in Weiß oder Champagnerfarbe.
„Das kommt wahrscheinlich darauf an, ob du ihn oder mich fragst“, erklärte ich ausweichend.
„Also magst du ihn“, schlussfolgerte sie messerscharf, und da es eine Feststellung und keine Frage war, musste ich nicht darauf antworten.
„Ich fühle mich einfach so mies, weil ich nichts getan habe, um ihm oder der jungen Frau zu helfen“, gestand ich ihr leise.
„Aber was hättest du denn tun sollen?“, entgegnete Kathi entschieden. „Dich selbst in Gefahr bringen? Man hört doch immer wieder, wie so etwas endet. Irgendwer will irgendwem helfen und ist am Ende selbst tot. Nee, Anni. Das ist auch keine Option.“
Mir lief bei ihren Worten ein eisiger Schauer über den Rücken. Ja, davon hatte ich auch schon einmal gehört. Aber es musste doch noch etwas anderes geben zwischen Nichtstun und Sein-Leben-riskieren, oder?
„Vielleicht hättest du ganz simpel die Polizei rufen sollen“, meinte Nele, als ich später mit ihr telefonierte.
„Die Polizei?“, wiederholte ich ungläubig. „Bis die da gewesen wäre, war doch längst alles vorbei.“
„Na und?“, erwiderte sie gelassen. „Aber sie hätten eine Spur gehabt und an jeder Haltestelle ein paar Beamte hinstellen können oder so was. Du hättest jedenfalls deine Pflicht getan und müsstest dich jetzt nicht mit deinem schlechten Gewissen rumschlagen. Mal ganz abgesehen davon, dass du überhaupt nicht weißt, ob es wirklich einen Zusammenhang gibt.“
„Hmmm“, murmelte ich unschlüssig. Einerseits klang das logisch, andererseits viel zu einfach. Außerdem war es dafür jetzt sowieso zu spät.
„Hey“, sagte Nele sanft. „Beruhig dich, Anna-Maus. Manchmal passieren halt mehrere blöde Sachen zufällig auf einmal. Jede Wette, dass dein Lukas sich gerade irgendwo vergnügt und keinen Schimmer von dem Überfall hat.“
„Ich möchte dir so gerne glauben.“
„Dann tu es! Und wenn es anders sein sollte, kannst du dir später immer noch den Kopf darüber zerbrechen. Sieh es mal so: Vielleicht musste das alles passieren, damit du endlich deinen süßen Hintern hochkriegst, um den nächsten Schritt bei deinem Traumprinz zu machen.“
„Na toll. Dann verzichte ich lieber, als so einen Scheiß zu erleben.“
„Grummel, grummel, grummel“, machte sie. „Ich kann verstehen, dass dich das alles ziemlich fertigmacht. Aber dieses ganze Was-wäre-wenn bringt doch nichts.“
Ich wusste, dass sie recht hatte, und trotzdem konnte ich nicht damit aufhören. Meine Freundin schien das zu spüren, denn als ihr mein Schweigen zu lange dauerte, sagte sie: „Soll ich zu dir kommen? Ich hab zwar eigentlich gleich ein Telefon-Date mit Timm, aber wenn du willst …“
„Nein“, unterbrach ich sie schnell. „Ist schon okay, ich komme klar. Ich warte bloß auf eine Nachricht von Olli, und dann versuche ich ein bisschen abzuschalten.“
Bei diesen Worten kugelte sich tief in mir ein kleines Teufelchen vor Lachen am Boden. Wem wollte ich eigentlich etwas vormachen?
Nele dagegen kaufte mir mein haltloses Versprechen scheinbar ab, sagte: „Braves Mädchen“, und verabschiedete sich.
Eine halbe Stunde später war es so weit, dass mir mein Handy die erlösende Nachricht anzeigte. Nur, dass sie nicht wirklich erlösend war, denn Olli schrieb: Alles erledigt, aber mehr kann ich dir leider nicht sagen. Die bei der Polizei haben sich alles angehört, sich bei mir bedankt und werden sich drum kümmern. Bin nicht sicher, ob ich jemals was von denen hören werde.
Ich schluckte meine Enttäuschung runter und antwortete: Na toll! Also sind wir genauso schlau wie vorher. Hast du nach dem Schlüsselanhänger gefragt?
Ja. Aber der Typ, mit dem ich zu tun hatte, hatte entweder ein gutes Pokerface oder echt keine Ahnung. Er wird das überprüfen …
Das sind ja tolle Aussichten. Im schlimmsten Fall liegt Lukas also halb tot im Krankenhaus, und wir kriegen es nicht mal mit? Er hat hier doch niemanden sonst. Soweit ich weiß, ist er von weiter weg hierhergezogen.
Ja, schrieb Olli. Aber ich werde morgen mal eine Kollegin aus der Personalverwaltung anstiften, dass sie sich bei mir meldet, wenn sie etwas hört. Irgendwer muss die Firma ja benachrichtigen, falls Lukas länger ausfallen sollte.
Gute Idee, erwiderte ich. Gibst du mir Bescheid, sobald du etwas Neues weißt?
Natürlich. Du auch? Kann ja sein, dass die Polizei oder ein Verwandter an seiner Wohnung auftaucht. Wenn er es denn überhaupt ist …
Ja klar, antwortete ich mit einem traurigen Lächeln. Dieser Olli gefiel mir. Er nahm die Sache wirklich ernst, hatte dabei aber so eine praktische Art, statt wie ich kopflos in Panik zu verfallen.
Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, blieb ich einen Moment reglos auf dem Sofa sitzen und beschloss dann, ins Bett zu gehen, auch wenn ich sowieso kein Auge zubekommen würde.
Ich kannte Lukas kaum. Zwischen uns war bisher nichts gewesen außer diesem unglaublich schönen gemeinsamen Frühstück nach dem Feueralarm und ein bisschen Treppenhausflirterei. Und trotzdem könnte ich es nicht ertragen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Vielleicht auch deshalb, weil tief in mir ein hauchzartes Zipfelchen meines Unterbewusstseins darauf beharrte, dass ich es hätte verhindern können.
Die Nacht wurde wie erwartet furchtbar. Statt zu schlafen, lauschte ich auf jedes kleine Geräusch im Treppenhaus, doch nie blieben die Schritte an der Tür nebenan stehen, sondern polterten jedes Mal weiter rauf ins Dachgeschoss.
Als ich am Dienstagmorgen zur Arbeit kam, war ich wie gerädert. Und ausgerechnet heute hatten wir nach Feierabend eine weitere Schulung für die neue Buchungssoftware. Das perfekte Timing, denn meine Konzentration ging mit jeder Stunde mehr Richtung null. Aber auf wundersame Weise schaffte ich es, auch diesen Tag zu überstehen.
Zwischendurch schaute ich ständig auf mein Handy und hoffte, dass Olli sich mit Neuigkeiten gemeldet hatte. Doch alles, was er am frühen Nachmittag schrieb, war, dass er bisher nichts gehört hatte.
Abends um halb zehn hatte ich endlich Feierabend. Auf dem Weg nach Hause versuchte ich vergeblich, meine hoffnungsvolle Erwartung, dass Lukas wiederaufgetaucht sein könnte, zu bremsen und mich gegen die Enttäuschung zu wappnen, wenn es eben nicht so sein sollte. Alles in mir kribbelte vor Nervosität, und sobald unser Wohnblock in Sichtweite kam, suchte ich mit den Augen die Fassade nach den Fenstern von Lukas‘ Wohnung ab. Die zwei außen rechts waren meine und daneben …
Ich schnappte überrascht nach Luft. Da war Licht hinter einem der Fenster! Vorsichtshalber zählte ich noch einmal nach, aber es war definitiv das vierte Fenster von rechts im zweiten Stock, also die Wohnung von Lukas!
Schlagartig schoss mein Puls in die Höhe. Am liebsten wäre ich sofort losgerannt, um bei ihm zu klingeln und mich erleichtert in seine Arme zu stürzen. Stattdessen blieb ich wie erstarrt stehen und blickte mit wild klopfendem Herzen weiter nach oben. So ganz traute ich der Sache nicht über den Weg. War das wirklich Lukas da in der Wohnung? Sollte tatsächlich auf einmal alles wieder gut sein? Oder war es vielleicht doch bloß ein Angehöriger, der gekommen war, um ihm ein paar Sachen fürs Krankenhaus zu holen?
Während ich noch zögerte, tauchte eine Silhouette am Fenster auf, und ich keuchte vor Erleichterung auf. Größe, Statur, Haare – alles, was ich von hier unten erkennen konnte, passte. Das war Lukas! Er war wieder da! Ihm war nichts passiert!
In Rekordzeit legte ich das letzte Stück bis zur Haustür zurück und schaffte es nur mit Mühe, sie aufzuschließen, weil meine Finger vor Aufregung so stark zitterten. Ich hätte heulen können vor Freude, zwang mich aber, es nicht zu tun. Was sollte Lukas denn denken, wenn ich plötzlich tränenüberströmt vor seiner Tür stand? Es würde schon schwer genug sein, ihm nicht sofort um den Hals zu fallen.
Ohmeingottohmeingottohmeingott! Er war wirklich wieder da. Die ganze Angst war umsonst gewesen. Völlig überwältigt taumelte ich die Treppe rauf, während auf jeder einzelnen Stufe ein Lukas-ist-da in meinem Kopf herumtanzte.
Als ich schließlich vor seiner Wohnungstür stand, flatterten unzählige Schmetterlinge in aufgeregter Vorfreude in meinem Bauch herum. Ich freute mich so wahnsinnig darauf, ihn zu sehen. Nur dass das in diesem Fall wenig mit Verliebtheit zu tun hatte, sondern mit der unfassbaren Erleichterung, dass ihm nichts passiert war. Dass die Szene an der Haltestelle kein Nachspiel gehabt hatte und ich deshalb dieses furchtbare Was-wäre-wenn-Karussell in meinem Kopf endlich abstellen konnte.
Ich atmete tief durch und drückte mit zitternden Fingern auf die Klingel.
Hinter der Tür hörte ich Schritte näher kommen, dann ein „Hallo?“ und ein leises Fluchen: „Wie funktioniert denn dieses Mistding?“
Im selben Moment rutschte mir das Herz in die Hose. Das war nicht Lukas. Es war nicht seine Stimme. Außerdem hätte er im Gegensatz zu dem Mann in seiner Wohnung gewusst, wie man die Gegensprechanlage im Flur bediente. Aber wer war es dann? Und wo war Lukas?
Für einen Augenblick stand ich wie gelähmt vor der Tür und fragte mich, ob es das zu bedeuten hatte, was ich glaubte. Dann hob ich wie in Zeitlupe die Hand und klopfte sacht an die Wohnungstür, um dem Fremden zu verstehen zu geben, dass ich hier oben direkt davor stand. Die Tür öffnete sich, und dahinter kam ein Mann zum Vorschein, der einerseits unglaubliche Ähnlichkeit mit Lukas hatte und andererseits überhaupt nicht. Er war genauso groß, genauso blond, genauso gut trainiert, doch damit hörten die Gemeinsamkeiten bereits auf. Seine Augen waren zwar auch blau, aber wesentlich weniger intensiv, eher schon grau und glanzlos, statt so strahlend und funkelnd wie die von Lukas. Überhaupt wirkte er furchtbar blass und matt und war das genaue Gegenteil von diesem lebenslustigen Strahlemann, der normalerweise hier wohnte. Es musste sein älterer Bruder sein, von dem Lukas mir bei unserem gemeinsamen Frühstück erzählt hatte. Und in dem Zustand, in dem er sich befand, wurde mir schlagartig klar, dass sich jeden Moment alle meine Befürchtungen bestätigen würden.
Felix
Bis Montagabend um elf hatte ich immer noch nichts von Lukas gehört und startete für diesen Tag einen letzten Versuch, ihn anzurufen. Für den Fall, dass er doch Spätschicht gearbeitet hatte, müsste er jetzt definitiv Feierabend haben. Aber es ging wieder nur die Bandansage ran. Verdammt! Hatte der Kerl sein Handy ausgeschaltet, oder was?
Ärgerlich legte ich mein Smartphone zur Seite und beschloss, ins Bett zu gehen. So langsam konnte Lukas mich gerne haben.
Als ich eine halbe Stunde später gerade eingeschlafen war, läutete es an der Haustür. Verwirrt schlug ich die Augen auf, warf einen Blick auf den Radiowecker und überlegte, wer zum Teufel um diese Zeit bei mir klingelte. Hauptsache, das waren nicht diese Jugendlichen, die bei uns in der Straße ständig Blödsinn machten.
Im Nachhinein fragte ich mich, wieso ich nicht gleich auf das Offensichtliche gekommen war. Wenn es spätabends an der Tür klingelte, bedeutete das doch nie etwas Gutes. Vor allem dann nicht, wenn man bereits den ganzen Tag vergeblich versucht hatte, seinen Bruder zu erreichen. Aber diese Verbindung hatte ich nicht gesehen und wurde von den beiden Polizeibeamten vor meiner Tür eiskalt erwischt.
Sie wollten wissen, ob ich der Bruder von Lukas Engelhardt war. Sie fragten, ob sie einen Moment hereinkommen könnten. Sie erzählten etwas von einem Überfall und dass ich mit in die Klinik kommen sollte, um zu bestätigen, dass es sich bei dem Opfer um meinen Bruder handelte.
In meinem Kopf herrschte schlagartig Chaos. Krankenhaus? Überfall? Lukas? Nein! Das musste ein Irrtum sein!
Die nächsten anderthalb Stunden versanken in einem Nebel aus Hoffen und Bangen. Knapp hundert Kilometer waren definitiv zu weit für die Angst, die sich mit dem Auftauchen der Polizisten in meinem Bauch zusammengeballt hatte.
Das kann nicht Lukas sein!, redete ich mir gut zu. Wer sollte ihm so etwas antun wollen? Das ist doch absurd. Aber ich schlage mir gerne die Nacht um die Ohren, um euch zu sagen, dass ihr euch vertan habt.
Doch tief in meinem Inneren ahnte ich, dass diese Hoffnung vergeblich war. Die Polizei würde nicht über die weite Strecke solchen Aufwand betreiben, wenn sie nicht einen guten Grund dafür hätte, oder?
Oh, shit! Konnte mich bitte mal jemand wecken und aus diesem Albtraum erlösen?
Aufgewühlt fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht und griff nach meinem Handy, in dem naiven Glauben, dass dort unverhofft eine Nachricht von Lukas eingegangen sein könnte und dem Spuk ein Ende machte. Aber abgesehen von der Uhrzeit war das Display leer.
Nach einem unübersichtlichen Gewirr von Gängen und Fahrstühlen stand ich schließlich mit schweißnassen Händen auf der Intensivstation. Wie ferngesteuert folgte ich einem Arzt in einen Raum, der vorne, rechts und links aus Glaswänden bestand, trat an das Bett heran und hätte meinen eigenen Bruder beinah nicht erkannt. Überall an ihm waren Kabel und Schläuche und führten in zahlreiche blinkende und piepende Maschinen, die fast die komplette vierte Wand einnahmen. Lukas‘ Gesicht war tiefrot und blau und geschwollen und eins der wenigen Körperteile, die nicht in einem Gips oder Verband steckten.
Vollkommen schockiert starrte ich auf ihn herunter und brachte vor Entsetzen keinen Ton heraus. Erst als der Arzt mich zum wiederholten Mal fragte, ob das Lukas war, schaffte ich es zu nicken. Das kleine Muttermal an seiner linken Schläfe ließ keinen Zweifel daran. Plötzlich hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und musste mich am Fußende des Bettes festhalten, um nicht in die Knie zu gehen.
„Was ist mit ihm?“, würgte ich an dem Kloß in meinem Hals vorbei. „Er wird doch wieder gesund, oder?“ Selbst in meinen Ohren klang die Frage nach einem verzweifelten Flehen. Und genau das war es, was ich fühlte: pure Verzweiflung.
Der Arzt dagegen verzog keine Miene, als er mir etwas von zahlreichen Knochenbrüchen, inneren Verletzungen, Prellungen, Quetschungen und künstlichem Koma erzählte. Aber es gab wohl auch keinen Weg, jemandem schonend beizubringen, dass der Patient in Lebensgefahr schwebte und Glück hatte, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben.
Mir war kotzübel von all den Informationen und der Angst, dass ich meinen Bruder verlieren könnte. Gleichzeitig kochte die Wut in mir hoch. Wer hatte ihm das verdammt noch mal angetan? Und warum überhaupt? Die Polizei tappte bei diesen Fragen völlig im Dunkeln und vermutete einen Raubüberfall, da Lukas kein Portemonnaie und Handy bei sich gehabt hatte, als er gefunden wurde. Hätte sich nicht ein Kollege auf dem Revier gemeldet, wüssten sie nicht einmal, wer er war.
Völlig neben der Spur sank ich auf einen der Besucherstühle im Wartebereich vor der Intensivstation. Dort harrte ich die ganze Nacht und den folgenden Tag aus, bis die Schwestern mich nach Hause schickten, damit ich mich ausruhte und ein wenig schlief. Sie sagten, ich könnte sowieso nichts tun und sie würden mich sofort benachrichtigen, wenn sich an Lukas‘ Zustand etwas änderte.
Ich glaubte kaum, dass ich auch nur ein Auge zukriegen würde, war aber mittlerweile so erschöpft, dass ich es zumindest versuchen musste. Also raffte ich mich auf und fuhr zu Lukas‘ Wohnung. Die Polizei hatte mir seinen Schlüssel überlassen, und zu mir nach Hause wäre ich jetzt eh nicht gefahren. Ich wollte auf jeden Fall in der Nähe meines Bruders bleiben und würde höchstens noch einmal zurückfahren, wenn ich unbedingt etwas aus meiner eigenen Wohnung brauchte. Bei der Arbeit hatte ich mich für den Rest der Woche abgemeldet, und weiter reichte mein Horizont momentan nicht. Im Gegenteil. Genau genommen konnte ich gar nicht mehr denken und war einfach froh über jede Stunde, die verging und in der Lukas überlebt hatte.


