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Nachdem ich die Wohnungstür hinter mir zugemacht hatte, blieb ich eine Weile reglos im Flur stehen und lauschte in diese unerträgliche Stille hinein. Lukas sollte jetzt hier sein und so etwas sagen wie: „Hey, Bruderherz, was stehst du denn so bedröppelt da rum? Komm rein und mach’s dir bequem. Hätte ich dich erwartet, hätte ich doch einen Kuchen gebacken.“
Dabei wussten wir beide, dass er eine absolute Niete in der Küche war.
Mit einem traurigen Lächeln legte ich den Schlüsselbund mit Lukas‘ geliebtem Hai-Anhänger auf die Kommode und ging langsam durch die Wohnung. Dafür, dass mein Bruder manchmal ein echter Chaot war, war es hier überraschend ordentlich. Seit seinem Umzug vor sechs Wochen war ich nicht mehr hier gewesen, und ich staunte, wie gemütlich er es sich gemacht hatte. Auf der Anrichte neben dem Fernseher standen ein paar Fotos, doch ich zwang mich, nicht hinzuschauen. Ich wusste, dass ich es jetzt nicht ertragen würde, ein Bild von unseren Eltern oder einem frech grinsenden Lukas zu sehen. Stattdessen ging ich weiter in die Küche, und wie aufs Stichwort fing mein Magen an zu knurren.
Im Kühlschrank fand ich ein paar Eier, einen Rest Schinken und etwas Milch. Obwohl ich davon überzeugt war, keinen Bissen runterzukriegen, haute ich es zusammen in die Pfanne und machte mir ein Rührei.
Nach dem Essen suchte ich mir ein paar frische Klamotten aus dem Schrank und ging duschen. Zum Glück hatten Lukas und ich dieselbe Größe, sodass ich mir zunächst mit seinen Sachen weiterhelfen konnte.
Anschließend rief ich meinen besten Freund Martin an, um ihm zu erzählen, was passiert war. Auch er war völlig erschüttert und bot mir sofort seine Hilfe an, wenn ich etwas benötigte oder Beistand brauchte. Es tat gut, mit ihm zu reden, aber wirklich helfen konnte er nicht. Das konnte niemand, denn momentan half bloß abwarten und beten, in der Hoffnung, dass es tatsächlich eine höhere Macht gab, die selbst die untreuesten Schäfchen in einer solchen Situation erhörte.
Als Martin sich nach einigem „Kopf hoch“ und „Halt die Ohren steif“ verabschiedet hatte, nahm ich mein Smartphone vom Ohr und starrte nachdenklich auf das Display. Es waren nur zwei, drei Stichworte, die ich bei Google eingeben musste, um nachlesen zu können, was mit Lukas passiert war. Aber wollte ich das? War das, was die Polizisten mir erzählt hatten, nicht schon schlimm genug, als dass ich mir jetzt einen mehr oder weniger wahrheitsgemäßen Abklatsch davon antun sollte?
Mitten in meine Überlegungen hinein klingelte es an der Tür. Ich zuckte erschrocken zusammen und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich.
Bitte lass das nicht die Polizei mit schlechten Neuigkeiten aus der Klinik sein!
Das war zwar totaler Blödsinn, jetzt wo das Krankenhaus meine Telefonnummer hatte, aber zum logischen Denken war ich gerade nicht in der Lage. Deshalb hatte ich auch keine Idee, wer sonst bei Lukas klingeln sollte. Eine seiner Liebhaberinnen jedenfalls nicht, denn so gut kannte ich meinen Bruder, dass er seine Eroberungen nie mit zu sich nach Hause nahm, um später keine Heulsusen vor seiner Tür stehen zu haben, die etwas missverstanden hatten.
Zögernd ging ich in den Flur, kämpfte mit diesem Türöffner-Sprechapparat-Ding und drehte mich überrascht zur Tür um, als es leise dagegenklopfte.
Draußen stand eine junge Frau, die mich einerseits ziemlich verschreckt anschaute, andererseits aber nicht so wirkte, als hätte sie mit Lukas gerechnet. Sie musterte mich schweigend, während in ihren Augen ein Kampf aus bitterer Erkenntnis und naivem Nicht-wahrhaben-wollen tobte. Diese Gefühlsregung kam mir bekannt vor. Allerdings fragte ich mich, was bei ihr der Grund dafür sein mochte, denn von Lukas‘ Zustand konnte sie kaum etwas wissen. Also, wer war sie und was wollte sie?
„Hallo“, sagte ich, und es klang selbst in meinen Ohren eher wie eine Frage.
„Hallo“, gab sie unsicher zurück. „Ich wollte eigentlich zu Lukas. Ist er da?“
Ich sah sie an und spürte, dass sie die Antwort bereits kannte. Doch in ihrem Blick lag so ein flehendes Bitte-sag-ja, dass ich meine eigene Verzweiflung darüber fast vergaß.
„Nein“, presste ich mit seltsam belegter Stimme heraus und fühlte mich wie ein Arschloch, weil ich ihre Hoffnung so gnadenlos zerstören musste. „Tut mir leid.“
Die junge Frau senkte den Kopf und sackte dabei regelrecht in sich zusammen. Ich beobachtete sie einen Moment nachdenklich und war jetzt wirklich neugierig, wer sie war.
Als ich sie danach fragte, stammelte sie hektisch: „Oh … ja … ähm, sorry. Ich bin Anna … von nebenan.“ Mit der Hand deutete sie rüber zu ihrer Wohnungstür.
Ah, die Nachbarin. Lukas hatte mal von ihr erzählt. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass die beiden besonders dicke miteinander gewesen wären. Jedenfalls nicht so, dass es ihr komisches Verhalten erklärt hätte.
„Du bist sein Bruder, oder?“, fragte diese Anna, bevor mir selbst eingefallen war, was ich als Nächstes sagen sollte.
Ich nickte schwach und antwortete: „Ja, Felix.“
Anschließend breitete sich erneut Schweigen zwischen uns aus. Ich sah ihr an, dass ihr eine Frage auf der Zunge lag. Aber ich wollte sie nicht hören und schon gar nicht darauf antworten, denn wenn ich erst mal ausgesprochen hätte, was mit Lukas passiert war, dann wäre es plötzlich real und kein beschissener Albtraum mehr. Mit Martin darüber zu reden, war eine Sache. Aber warum sollte diese fremde Frau in einem solchen Traum auftauchen? Konnte sie nicht einfach wieder verschwinden? Ihr Nachbar war nicht da, Punkt, Ende der Durchsage. Wenn ich sie mir so anschaute, war ihr Lukas ohnehin wichtiger, als er sein sollte. Der typische Moment, bevor die armen Häschen erkannten, was für ein Weiberheld Lukas war, und sich Hoffnungen auf mehr machten. Andererseits … wieso hatte ich das Gefühl, dass sie mehr wusste, als sie eigentlich wissen konnte? Hatte mein Bruder in den letzten Wochen etwa eine wundersame Wandlung durchlebt und sich ausgerechnet von seiner Nachbarin bekehren lassen? Unter anderen Umständen hätte ich mich wahnsinnig darüber gefreut. Doch jetzt verkomplizierte es die Sache nur unnötig, denn ich wollte mich neben meiner eigenen Angst nicht auch noch mit ihrer auseinandersetzen. Aber ich konnte ihr ja schlecht die Tür vor der Nase zuschlagen.
Anna
Es fühlte sich an wie ein Tanz auf rohen Eiern, den ich hier mit diesem Felix veranstaltete. Er schien mich so schnell wie möglich wieder loswerden zu wollen, ohne etwas erklären zu müssen. Ich dagegen würde nicht eher gehen, bevor ich nicht erfahren hatte, was mit Lukas war, auch wenn ich gleichzeitig furchtbare Angst davor hatte.
„Ihm ist etwas passiert, oder?“, fragte ich leise.
Felix schluckte schwer und sah so mitgenommen aus, dass es eigentlich Antwort genug war. „Luka ist im Krankenhaus“, erklärte er zögernd, und alleine dieses liebevoll weggelassene S am Namen seines Bruders machte deutlich, wie viel er ihm bedeutete. „Er … Es war wahrscheinlich ein Überfall, sagt die Polizei.“
Nein! Nein, nein, nein! Bitte nicht!, schrie eine Stimme in mir, obwohl ich es die ganze Zeit geahnt, befürchtet, gewusst hatte.
„Also doch“, flüsterte ich entsetzt, mehr zu mir selbst als zu ihm. Aber natürlich hatte er es gehört und schaute mich überrascht an.
„Was heißt das, also doch?“
Ich wich seinem intensiven, fragenden Blick aus und wurde plötzlich von meinen Schuldgefühlen erdrückt. Wie sollte ich Felix nur erklären, was ich alles wusste und vor allem, warum ich nichts getan hatte? Dass ich es vielleicht hätte verhindern können, aber stattdessen mein Bauchgefühl in die Ecke getreten hatte und mit meiner Freundin ein paar Cocktails trinken gegangen war? Das konnte ich nicht. Nicht, solange ich nicht wusste, wie es Lukas ging und ob das eine überhaupt mit dem anderen zu tun hatte. Immerhin bestand weiterhin die Möglichkeit, dass es gar keine Verbindung zwischen dem Überfall und der Pöbeltruppe am Bahnsteig gab. Mit einem voreiligen Geständnis würde ich Felix nur unnötig verrückt machen und er mich völlig umsonst hassen.
„Ich habe davon gehört“, antwortete ich ausweichend und wagte es nicht, ihm dabei in die Augen zu gucken. „Eine Nachbarin hatte es erwähnt, direkt nachdem ich unten vor der Tür Lukas‘ Kollegen getroffen hatte. Er war auf der Suche nach ihm und …“ Ich geriet ins Stocken, sammelte mich kurz und erklärte weiter: „Wir haben zusammen versucht, im Internet mehr über den Überfall in Erfahrung zu bringen, weil wir beide seit Samstagabend nichts mehr von Lukas gehört und gesehen haben. Und die Personenbeschreibung passte dann genau auf ihn, deshalb … Ich hatte so ein komisches Gefühl, also ist Olli zur Polizei gegangen, um denen das zu melden. Und jetzt sagst du, dass es wirklich Lukas ist.“
Meine Stimme versagte den Dienst, und mir liefen ein paar dicke Tränen über die Wangen. Hastig wischte ich sie mit dem Handrücken weg, doch es kamen immer neue.
Felix stand währenddessen vollkommen reglos vor mir und schwieg, starrte an mir vorbei ins Leere und hatte anscheinend seinen eigenen Film vor Augen. Erst als ich mich bewegte und überlegte, ob ich besser gehen sollte, reagierte er und sagte überraschend: „Willst du vielleicht mit reinkommen?“
Unentschlossen schaute ich rüber zu meiner Wohnungstür, dann wieder zu ihm. Felix hielt meinen Blick fest, und ich meinte in seinem so etwas zu erkennen wie: Lass mich bitte nicht alleine!
Ich bekam eine Gänsehaut und nickte schwach.
Er machte einen Schritt zur Seite, und ich betrat zögernd den Flur. Dabei fiel mir sofort der Schlüsselbund auf der Kommode ins Auge. Wie von selbst griff meine Hand nach dem hölzernen Hai und strich sanft mit dem Finger darüber.
Ich spürte Felix‘ fragenden Blick auf mir und legte den Hai schnell zurück. „Tut mir leid“, erklärte ich beschämt. „Es ist nur … das ist so ein Insidergag zwischen Lukas und mir, weil er es nie schafft, seine Wohnung aufzuschließen, ohne mit dem Ding gegen die Tür zu poltern.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, doch es war so unendlich traurig, dass es mir das Herz brach.
„Der Hai hat eine tiefere Bedeutung für ihn, oder?“, hakte ich vorsichtig nach.
Felix nickte stumm. Sein gequälter Gesichtsausdruck sprach Bände, deshalb ließ ich es damit gut sein. Vielleicht würde ich eines Tages erfahren, was es mit dem Schlüsselanhänger auf sich hatte. Und wenn nicht, dann nicht. Jetzt hatten wir jedenfalls andere Sorgen.
Wir gingen weiter ins Wohnzimmer, das vom Grundriss genauso beschaffen war wie meins, nur spiegelverkehrt und deutlich karger und männlicher eingerichtet. Wäre ich jetzt mit Lukas hier gewesen, hätte ich ihn bestimmt nach Hobbys und Lieblingsfilmen, -büchern, -musik und Ähnlichem gefragt. Aber die Situation war eine völlig andere, und Felix wirkte hier genauso fehl am Platz wie ich. Er deutete einladend aufs Sofa, blieb selbst jedoch stehen und schien nicht zu wissen, wohin mit sich und seiner Ruhelosigkeit. Meiner Meinung nach gehörte er ins Bett, so übernächtigt und erschöpft, wie er aussah. Aber ich konnte mir vorstellen, dass er in seiner Situation sowieso nicht schlafen konnte.
„Erzählst du mir, was mit Lukas passiert ist?“, fragte ich leise, als Felix keinerlei Anstalten machte, von sich aus zu reden.
„Frag lieber, was ihm nicht passiert ist“, antwortete er matt. „Luka ist von oben bis unten kaputt. Brüche, Prellungen, Quetschungen.“ Er hielt kurz inne, und mir entfuhr ein entsetztes: „Oh mein Gott“.
Felix starrte geistesabwesend aus dem Fenster und fügte hinzu: „Der oder die Täter müssen ganze Arbeit geleistet haben. So viel Gewalt. Und das bloß für so ein paar Euro und ein Smartphone.“
Ich zuckte innerlich zusammen. Nicht nur wegen der Verletzungen, sondern weil ich nach wie vor davon überzeugt war, dass es eben kein gewöhnlicher Raubüberfall war.
„Ist denn schon sicher, dass nicht doch etwas anderes dahintersteckt?“, gab ich zögernd zu bedenken.
„Was sollte das denn sein?“, meinte er wenig überzeugt. „Luka ist so ein Everybody’s darling, der keiner Fliege was zuleide tun kann. Und da soll ausgerechnet er sich mit jemandem schlagen? Eher quatscht er den Gegner mit seinem Charme unter den Tisch.“
Bei der Vorstellung musste ich beinahe lächeln, doch die Last meines schlechten Gewissens war stärker.
„Und wenn er an einen Gegner geraten ist, bei dem das nicht gewirkt hat?“
Felix drehte sich um und bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick.
„Ich meine ja nur“, erklärte ich schnell, bevor er auf die Idee kam, dass ich irgendetwas wissen könnte. „Olli hat zum Beispiel erwähnt, dass Lukas was mit einer Frau am Wickel hatte. Was, wenn da plötzlich ein eifersüchtiger Freund aufgetaucht ist? Oder er sich in etwas anderes eingemischt hat, was jemandem nicht gefallen hat?“
Wie zum Beispiel die Belästigung einer jungen Frau durch vier ekelhafte Typen an der Bahnhaltestelle, dachte ich im Stillen, während eine leise Stimme in mir drängte, es auch auszusprechen.
Doch sofort wurde sie von Felix übertönt, der sich stöhnend neben mir aufs Sofa fallen ließ und haareraufend sagte: „Ich weiß es nicht. Und ich hoffe nur, dass wir es überhaupt jemals erfahren werden und der oder die Täter dafür verknackt werden. Aber bis jetzt hat die Polizei keinen einzigen Anhaltspunkt.“
Er blickte wieder auf und starrte einen Moment geradewegs durch mich hindurch. „Das kann doch nicht sein, oder?“, überlegte er laut. „Da stehen ein paar große Wohnblocks drum herum, und keiner will etwas gehört oder gesehen haben? Wenn du mich fragst, haben die alle bloß weggeguckt, weil sie zu feige waren. Aber können sie dann nicht wenigstens jetzt eine Zeugenaussage machen?“
Er war zum Ende hin immer lauter geworden, und jedes Wort fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Denn ohne es zu wissen, hatte er damit auch mich gemeint. Betroffen presste ich die Lippen aufeinander, hin- und hergerissen, ob ich ihm von dem Vorfall an der Haltestelle erzählen sollte. Aber ehe ich eine Entscheidung treffen konnte, klingelte sein Handy.
Felix und ich zuckten gleichzeitig zusammen. Angespannt schaute er auf das Display, nicht bereit, weitere schlechte Nachrichten zu empfangen. Aber offenbar kannte er den Anrufer oder die Anruferin und entspannte sich schlagartig. Er ging ran, versprach, dass er gleich zurückrufen würde, und legte sofort wieder auf.
„Ein Freund“, sagte er knapp.
Wir sahen uns an, und sein Blick brachte mich völlig aus der Fassung. Das Blau seiner Augen war bei genauerem Hinsehen doch intensiver, als ich gedacht hatte, und erinnerte mich viel zu sehr an Lukas. Allerdings an einen ernsthaften, niedergeschmetterten Lukas, den ich so nie kennengelernt hatte. Und die Vorstellung, dass sein Strahlen und Funkeln dem Überfall zum Opfer gefallen und für immer erloschen sein könnten, zerriss mir das Herz. Ich hatte das Gefühl, es keinen Moment länger in Felix‘ Gegenwart auszuhalten – und schaffte es gleichzeitig doch nicht, mich von ihm abzuwenden.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir uns so angeschaut hatten, als Felix vollkommen unerwartet sagte: „Weiß Luka eigentlich, was er hier gerade verpasst?“
Ich blinzelte verwirrt und konnte mir auf diese Frage keinen Reim machen. „Wie meinst du das?“
„Was du für ihn fühlst“, erwiderte er mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass es mir die Sprache verschlug.
Wieso glaubte eigentlich jeder, über mein Gefühlsleben Bescheid zu wissen? Jeder, außer demjenigen, den es betraf. Ich presste die Lippen fest aufeinander und schüttelte den Kopf.
„Hätte mich auch gewundert“, meinte Felix.
Stirnrunzelnd bemerkte ich: „Du sprichst gerne in Rätseln, oder?“
Um seine Mundwinkel zuckte es, was mir eine klitzekleine Vorstellung davon verschaffte, dass auch der Ernsthaftere der beiden Brüder lächeln konnte.
„Nein, eigentlich nicht“, erklärte er. „Aber Luka ist … Ach, egal. Ist jetzt nicht wichtig.“
Natürlich machte er mich damit erst recht neugierig, doch ich hatte den leisen Verdacht, dass ich gar nicht wissen wollte, was Lukas seiner Meinung nach war.
Für einen kurzen Moment schwiegen wir uns gedankenverloren an, dann sagte ich leise: „Tja, also … Dann will ich mal gehen, damit du telefonieren kannst.“
Felix nickte, allerdings spürte ich ein leichtes Zögern dahinter. Unentschlossen stand ich auf, nahm meine Tasche und steuerte die Wohnungstür an. Draußen im Hausflur drehte ich mich noch einmal zu ihm um.
„Wenn was ist, weißt du ja, wo du mich findest.“ Mit einem einladenden Lächeln deutete ich rüber zu meiner Wohnung.
„Danke“, erwiderte er und sah dabei so verloren aus, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte.
„Es wird bestimmt alles wieder gut“, versuchte ich ihn zu trösten, während ein kleines Teufelchen in mir empört erklärte: Was bist du doch für eine elende Heuchlerin!
Schnell verabschiedete ich mich von Felix und flüchtete rüber in meine eigenen vier Wände, aus Angst, dass er mir die Gedanken an der Nasenspitze ablesen könnte.
In der Stille und Einsamkeit meiner Wohnung bohrte sich die brutale Wahrheit schließlich ungehindert einen Weg in mein Bewusstsein: Lukas war wirklich dieser aufs Übelste zugerichtete, halb totgeprügelte junge Mann aus den Nachrichten. Und ich hätte es vielleicht verhindern können.
Verzweifelt ließ ich mich auf einen Küchenstuhl fallen und griff nach meinem Handy, um Nele anzurufen, doch ich erreichte nur die Mailbox.
Verdammt! Warum ging sie denn ausgerechnet jetzt nicht ran?!
Ich musste unbedingt mit jemandem reden, und die Nächstbeste, die mir einfiel, war meine Schwester. Kathi hörte sich mein unzusammenhängendes Gestammel und Geschniefe an und machte keinen Hehl daraus, wie erschüttert sie war. Erst als ich darauf beharrte, dass es bestimmt einen Zusammenhang zu der Pöbeltruppe am Bahnsteig gab, und erklärte, dass ich zur Polizei gehen musste, um eine Aussage deswegen zu machen, verfiel sie wieder in den Vernünftige-große-Schwester-Modus.
„Bist du dir sicher?“, bemerkte sie zweifelnd. „Warte doch erst mal ab. Die Polizei wird schon …“
„Worauf soll ich denn warten?“, unterbrach ich sie ungeduldig. „Die Polizei hat nichts. Gar nichts. Und wenn keiner etwas sagt, werden die Täter nie gefasst und lachen sich ins Fäustchen. Aber wenn erst einer den Anfang macht, und das kommt an die Öffentlichkeit, dann ziehen vielleicht andere nach und melden sich auch. Felix hat vollkommen recht. Da, wo es passiert ist, wohnen so viele Leute drum herum. Irgendjemand muss doch etwas davon mitbekommen haben.“
Ich hörte Kathi tief durchatmen und nachdenklich schweigen. „Ja“, meinte sie schließlich. „Einerseits hast du sicher recht. Aber andererseits … Hast du dabei mal an dich gedacht? Wenn es an die Öffentlichkeit kommt, wissen auch deine S-Bahn-Täter, dass sie verpfiffen wurden. Und dir ist schon klar, dass die wissen, wo sie dich finden, oder? So viele Leute waren an dem Abend nicht am Bahnsteig, wie du gesagt hast. Da werden die bestimmt ganz schnell drauf kommen, wer bei der Polizei geplaudert hat. Und wenn sie tatsächlich so böse sind, wie du denkst, möchtest du dann wirklich jeden Tag von dort mit der Bahn losfahren?“
„Aber …“, wollte ich protestieren, doch die Worte blieben mir auf halbem Weg im Hals stecken. Weil es genauso war, wie sie sagte, und das verursachte mir eine eisige Gänsehaut. Ich war auf die S-Bahn angewiesen, und zwar auf genau diese Haltestelle, denn die nächste war zu weit entfernt, um dorthin zu laufen. Was, wenn die Typen wirklich da auftauchten und sich an mich erinnerten? Andererseits … deshalb konnte ich doch nicht schon wieder nichts tun, oder?
„Was soll ich denn machen?“, flüsterte ich hilflos.
„Halt dich einfach da raus, Anna“, sagte Kathi eindringlich. „Bitte. Du kannst es eh nicht ungeschehen machen, und ich will nicht, dass dir auch etwas passiert.“
Sie klang ehrlich besorgt. Doch das war nicht alles, was ich aus ihren Worten heraushörte. „Das heißt, du glaubst auch, dass es die Typen von der Haltestelle waren?“, vergewisserte ich mich.
„Nein“, antwortete sie zögernd. „Ja … Ich … Ach, keine Ahnung. So was passiert doch sonst alles immer woanders oder im Fernsehen. Aber … Überleg dir einfach gut, was du tust, okay?“
„Hmhmm.“
Für einen Moment herrschte Schweigen im großen, weiten Handynetz.
„Anna?“, sagte Kathi dann leise.
„Hm?“
„Ich kann verstehen, dass dir das keine Ruhe lässt. Aber wenn du wirklich zur Polizei gehst, dann verschwinde wenigstens eine Weile von der Bildfläche, bis die Täter gefasst sind, okay? Kannst du nicht vielleicht ein paar Nächte bei Nele unterkommen?“
Ich stieß ein trauriges Lachen aus. „Die hat selbst kaum Platz, seit sich ihr Bruder bei ihr einquartiert hat.“
„Du kannst auch zu uns kommen“, schlug sie vor, doch wir wussten beide, wie unrealistisch das war. Von Kathis Zuhause aus würde ich locker doppelt so lange bis zur Arbeit brauchen. Außerdem hatte sie bereits genug um die Ohren mit dem kleinen Flo. Aber ihr Angebot rührte mich.
„Danke“, erwiderte ich. „Ich werde drüber nachdenken.“
„Du wirst schon das Richtige tun, Anni! Und meld dich, wenn was ist!“
Mit diesen Worten verabschiedeten wir uns voneinander, und ich war wieder alleine mit der Frage, was ich jetzt tun sollte. Zur Polizei gehen oder nicht? Oder wenigstens mit Felix reden?
Verzweifelt vergrub ich das Gesicht in meinen Händen und sah sofort wieder seinen ratlosen, mutlosen, hilflosen Blick vor mir. Diese Angst um seinen Bruder und eine Traurigkeit, die sehr viel tiefer ging. Ich wollte nicht diejenige sein, die ihm mit diesem weiteren Vorfall den Rest gab. Aber ich musste, denn nur so würde die Tat möglicherweise aufgeklärt werden können und Felix wieder etwas zur Ruhe finden. Und Lukas … ihm war ich es ebenfalls schuldig, dass die Täter, die ihm das angetan hatten, ihre gerechte Strafe bekamen. Wurden diese Haltestellen nicht alle videoüberwacht? Dann müsste es doch ein Leichtes sein, die Pöbeltruppe darauf zu erkennen, oder? Ich musste der Polizei bloß den entscheidenden Hinweis geben, dann würden sie die Kerle schnappen, und ich musste keine Angst mehr vor ihnen haben.
Vorher wollte ich allerdings noch mit Nele telefonieren und hören, was sie dazu sagte. Außerdem musste ich Olli unbedingt Bescheid geben, was ich erfahren hatte.
Entschlossen wischte ich mir über die Augen, riss ein Stück Küchenpapier von der Rolle ab und putzte mir die Nase. Anschließend brachte ich zuerst Olli auf den Stand der Dinge und rief dann meine Freundin an. Als Nele hörte, was los war, fackelte sie nicht lange und machte sich sofort auf den Weg zu mir. Keine zehn Minuten später saß sie neben mir auf dem Sofa, und ich erzählte ihr alles über Felix und Lukas, meine Ängste und Zweifel und das, was Kathi gesagt hatte.
„Scheiße“, brachte Nele die Sache sehr knapp, aber ziemlich treffend auf den Punkt. Sie runzelte die Stirn, brütete einen Moment still vor sich hin und erklärte dann, dass sie an meiner Stelle auf jeden Fall zur Polizei gehen würde. Und dass ich jederzeit bei ihr unterkommen könnte, wenn ich mich zu Hause nicht sicher fühlte. Ihren Bruder würde sie einfach rausschmeißen, der ginge ihr eh auf die Nerven. Sie klang dabei so selbstsicher und entschlossen, dass ich ihr am liebsten blind vertraut hätte. Aber in der Zwischenzeit hatten sich auch Kathis Bedenken so tief in mir verwurzelt, dass ich wie immer viel zu lange zögerte und Was-wäre-wenn-Gedanken wälzte.
„Ach, Anna-Maus“, seufzte Nele. „Was ist das alles für ein Mist. Also wenn du mich fragst, schlafen wir jetzt erst mal eine Nacht drüber, und morgen früh kannst du dann mit klarem Kopf entscheiden, was du tun willst, okay? Und sei es, dass du diesen Felix zum Frühstück einlädst und wenigstens mit ihm redest.“
„Hmhmm.“ Ich nickte und kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe herum, als meine Freundin urplötzlich das Thema wechselte und fragte: „Sieht er eigentlich auch so unverschämt gut aus?“
Ungläubig riss ich den Kopf hoch und schaute sie fassungslos an. „Sag mal, geht’s noch?“
Die Frage war typisch Nele, doch als sie mich dabei frech angrinste, verzogen sich meine Mundwinkel wie von Geisterhand geführt nach oben. Sie hatte die faszinierende Gabe, selbst in der schlimmsten Situation ihren Humor zu behalten, ohne dass es sich falsch oder gefühllos anfühlte. Es war einfach ihre Art, und letztendlich war ich ihr jedes Mal dankbar, wenn sie es schaffte, mich damit aus dem Sumpf zu ziehen. Heute jedoch verpuffte die Wirkung sofort wieder.


