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Ich zwang mich zur Konzentration, atmete tief durch und stellte das Essen auf den Tisch. Felix beobachtete mich still dabei und lächelte verlegen, als sein Magen im selben Moment ein eindeutiges Knurren von sich gab. Der beste Beweis dafür, dass Appetit und Hunger zweierlei Dinge waren. Auch mir war nicht nach Essen zumute, aber dem Körper war das leider herzlich egal.
Schweigend füllte ich uns auf, stellte zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf den Tisch und setzte mich. Felix bedankte sich leise, darüber hinaus waren uns die Worte irgendwie ausgegangen.
Als ich die Stille nicht länger aushielt, versuchte ich es mit Small Talk und fragte ihn: „Was ist mit dir? Hast du eine Freundin?“
„Nein.“ Sein Gesicht verdüsterte sich und war Antwort genug. Es war, als wäre eine Klappe heruntergefallen, auf der stand: heute keine Sprechstunde. Ich war mir ziemlich sicher, dass er im Gegensatz zu seinem Bruder sehr wohl der Typ für eine feste Beziehung war. Aber wie es aussah, hatte ihm jemand das Herz gebrochen. Da war ich ja schön ins Fettnäpfchen getreten. Vielleicht sollte ich auch lieber den Mund halten.
Eine Weile aßen wir schweigend unseren Auflauf, bis Felix nur noch in seinen restlichen Nudeln herumstocherte, schließlich die Gabel zur Seite legte und sagte: „Tut mir leid. Ich schaffe nicht mehr.“
„Ist schon okay.“
Wir sahen uns an, und in meinem Bauch fing es an zu rumoren. Ich hätte allerdings nicht sagen können, ob es an meinen Schuldgefühlen, an seiner Ähnlichkeit zu Lukas oder diesem herzzerreißend melancholischen Blick lag. Vermutlich alles zusammen.
„Also dann.“ Felix räusperte sich und rückte seinen Stuhl nach hinten. „Danke für das Essen. Ich fahre jetzt noch mal in die Klinik. Zu Luka, und weil ich den Ärzten ein paar Unterlagen bringen muss.“
Mit einem stummen Nicken beobachtete ich, wie er aufstand, und folgte ihm in den Flur. Ich wusste nicht, was für Unterlagen er meinte, doch es musste etwas Bedeutsames sein, denn ich spürte, wie sehr er sich dagegen sträubte.
An der Wohnungstür blieb Felix stehen, schien über etwas nachzudenken und drehte sich noch einmal zu mir um. „Der Überfall …“, sagte er zögernd. „Ich würde mir gerne angucken, wo das war. Kannst du mir vielleicht zeigen, wie ich da hinkomme?“
„Ja … klar“, antwortete ich, schließlich hatte ich mir die Karte von dem Tatort im Internet so oft angesehen, dass sie sich schon auf meiner Linse festgebrannt hatte. „Das ist eigentlich ganz leicht zu finden“, fügte ich hinzu. „Mit der Bahn jedenfalls. Oder willst du lieber mit dem Auto hin?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn es mit der Bahn einfacher ist, mache ich das.“
„Okay. Also, dann nimmst du …“
„Anna?“, unterbrach er mich.
„Ja?“
Felix schaute mich an, und ich sah, dass in seinen Augen ein wahrer Kampf tobte. Er wollte anscheinend etwas loswerden, rang jedoch mit sich, ob er es wirklich wagen konnte, mich darauf anzusprechen. Es war bloß ein kurzer Augenblick, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit, denn je länger sein Schweigen andauerte, umso mehr beschlich mich eine dunkle Vorahnung, und mein Herz fing an zu rasen. Er wollte doch wohl nicht, dass ich …
„Würdest du mitkommen?“
Oh nein, bitte nicht! Ich hatte es kommen sehen, und trotzdem riss mir seine Frage den Boden unter den Füßen weg. Ausgerechnet ich sollte mit ihm zum Berliner Platz fahren, wo sein Bruder fast totgeprügelt worden war? Ich hätte an dem Abend dorthin fahren sollen, dann wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen! Stattdessen stand ich jetzt hier und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Alles in mir schrie Nein, weil ich Angst vor meiner eigenen Reaktion hatte, wenn ich mit dem Schauplatz des Überfalls konfrontiert wurde. Mal abgesehen davon, dass ich, um dorthin zu kommen, zunächst mit Felix zusammen zur S-Bahn-Station musste. Es war so schon schwer genug, jeden Tag wieder an den Bahnsteig zu kommen, die Szene vor mir zu sehen, wie diese Pöbeltruppe Lukas vor die Brust stieß, und nicht von meinem schlechten Gewissen erdrückt zu werden. Und das ausgerechnet mit Felix zusammen? Nein!
Doch dann machte ich den Fehler und schaute Felix in die Augen, und diese quälende Angst und Ungewissheit darin zwangen mich in die Knie. Ich merkte, dass ich nickte, ehe ich weiter darüber nachdenken konnte.
„Passt es dir vielleicht morgen?“, fragte er zögernd.
„Ja. Aber erst abends“, hörte ich mich sagen. „Ich bin so gegen sechs zu Hause, dann könnten wir gleich los.“
„Danke.“ Ein leichtes Lächeln zuckte um seine Lippen. Dann drehte er sich um und ging.
Felix
Zurück in der Wohnung meines Bruders, fühlte ich mich plötzlich schrecklich einsam. Seit Steffi nicht mehr bei mir war, war ich es gewohnt, alleine zu leben, aber hier war es viel zu still, und in jeder Ecke lauerten die Gedanken an Lukas und das, was passiert war.
Nachdenklich betrachtete ich die Wohnzimmerwand und wünschte, ich könnte durch sie hindurchgucken. Was Anna jetzt wohl machte? Einerseits wäre ich gerne bei ihr geblieben. Andererseits war ihre Verzweiflung mehr, als ich ertragen konnte. Ich fragte mich, ob sie sich tatsächlich so hoffnungslos in meinen Bruder verliebt hatte oder ob sie bloß ein sehr empathischer Mensch war, dass ihr seine Geschichte so naheging. Wahrscheinlich beides. Ich hatte mich wirklich zusammenreißen müssen, um sie nicht tröstend in meine Arme zu ziehen und festzuhalten. Vielleicht auch, um selbst etwas Halt bei ihr zu finden. Aber ich wusste, dass es ein Fehler wäre. Sie war schließlich nur die Nachbarin meines Bruders und eine völlig Fremde für mich. Es hatte gutgetan, mit jemandem reden zu können, aber alles Weitere würde die Sache unnötig verkomplizieren. Ich musste mich auf Lukas konzentrieren und brauchte meine gesamte Kraft für ihn. Da konnte ich es mir nicht leisten, mich darüber hinaus um die Gefühle von jemand anderem zu kümmern. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ich davon überzeugt gewesen war, dass geteiltes Leid halbes Leid sein könnte. Doch diese Illusion wurde auf brutale Weise zerstört, und ich würde einen Teufel tun, mich ein weiteres Mal auf so etwas einzulassen.
So weit die Theorie. In der Praxis ging mir Anna allerdings nicht aus dem Kopf. Immer wieder sah ich ihren verschreckten Blick vor mir und hörte ihr Weinen durch die Badezimmertür. Oh Mann! Das musste dringend aufhören!
So abgelenkt, verpasste ich auf dem Weg zum Krankenhaus die richtige Kreuzung und musste eine extra Runde um den Block fahren, wobei ich mich im Gewirr einiger Einbahnstraßen verfranste und tatsächlich mein Navi brauchte, um wieder zurückzufinden. Zähneknirschend lenkte ich meinen Wagen schließlich auf den Parkplatz und bemerkte, dass ich an genau derselben Stelle stand wie heute früh. An dem Morgen, an dem ich noch nichts von Lukas‘ heldenhaftem Einsatz und der Angreifergruppe an der S-Bahn gewusst hatte. Oder davon, was für eine unglaublich nette und gefühlvolle Nachbarin hinter seiner Wohnzimmerwand lebte. Es hatte ein bisschen was von dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Ich drückte im Kopf auf den imaginären Repeat-Knopf und überlegte, in welcher Situation ich etwas anders machen könnte, wenn ich die Chance dazu hätte. Wahrscheinlich an dem Punkt, an dem ich nach dem Telefonat mit der Polizei einfach weggelaufen war, statt bei Lukas zu bleiben.
Im selben Moment fiel mir siedend heiß ein, dass ich seitdem nicht ein Mal auf mein Handy geguckt hatte und es seit dem Nachmittag auf lautlos gestellt war. Was, wenn das Krankenhaus in der Zwischenzeit versucht hatte, mich zu erreichen, weil etwas mit Lukas war? Ich verdammter Idiot!
Hektisch zog ich das Smartphone hervor und warf einen Blick auf das Display. Drei WhatsApp-Nachrichten, zwei E-Mails, fünf entgangene Anrufe. Shit! Ich war drauf und dran, sofort zur Intensivstation loszurennen, tippte dann aber doch erst das Telefonprotokoll an und sah, dass es mein Chef war, der versucht hatte, mich zu erreichen. Gott sei Dank!
Erleichtert atmete ich auf und wartete darauf, dass sich mein Puls wieder normalisierte. Es war allerdings einiges an Adrenalin, das mein Kreislauf verarbeiten musste. Und ich schwor mir, mein Handy ab sofort keine fünf Minuten mehr aus den Augen zu lassen.
Als ich mich wieder beruhigt hatte, rief ich trotz der späten Stunde meinen Chef zurück, der eine dringende Frage zur Rezeptabrechnung einer meiner Patientinnen hatte. Anschließend redeten wir über Lukas und den Überfall und wie ich mir das Ganze in den nächsten Wochen vorstellte mit der Arbeit und dem Krankenhaus. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. Aber Thomas versprach, sich etwas zu überlegen, und wünschte mir bzw. Lukas alles Gute. Ja, das konnten wir brauchen.
Ich steckte das Handy weg und griff schweren Herzens nach dem Umschlag auf dem Beifahrersitz. Ob ich wollte oder nicht, ich musste den Ärzten diese ganzen Vorsorgeunterlagen übergeben. Was auch immer danach passierte.
In der Zwischenzeit hatte es erneut angefangen zu regnen, und als ich aus dem Auto stieg, überfiel mich prompt die Erinnerung an Anna und daran, wie wir uns vor ein paar Stunden zusammen unter ihren Schirm gedrängt hatten. Unwillig schob ich den Gedanken zur Seite, brachte den Umschlag unter meiner Jacke vor dem Regen in Sicherheit und lief mit eingezogenem Kopf auf das Klinikportal zu.
Entgegen meinen Befürchtungen war Lukas‘ Zustand unverändert, was paradoxerweise gut war. „Nicht schlechter“ war in seiner Situation offenbar das neue „Gut“. Ich war eigentlich ein ziemlich geduldiger Mensch, aber ich ahnte, dass mir dieses untätige Warten auf Besserung alles abverlangen würde. Und tatsächlich musste ich allmählich anfangen, darüber nachzudenken, wie ich diesen Spagat zwischen Job und Krankenhaus schaffen sollte. Hundert Kilometer waren zu weit, um täglich hin und her zu pendeln, vor allem da ich dienstags und donnerstags bis in den späten Abend hinein zwei Therapiegruppen leitete. Das konnte man vielleicht eine Woche lang machen oder zwei, bevor man selbst auf dem Zahnfleisch ging. Aber die Ärzte hatten unmissverständlich erklärt, dass das hier weitaus länger dauern würde. Und eine Verlegung kam nicht infrage. Erstens war Lukas bisher nicht transportfähig, und zweitens gab es keine vergleichbar geeignete Klinik in meiner Nähe.
Ratlos fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht und wünschte, ich hätte eine große Familie, um wenigstens ein bisschen von dieser Sorge und Verantwortung abgeben zu können. Stattdessen war ich seit vielen Jahren Waise und im schlimmsten Fall demnächst Einzelkind. Von meinem Singledasein ganz zu schweigen. Wie schön es doch wäre, wenn da jedes Mal beim Nachhausekommen jemand warten würde, mit dem man zusammen essen und reden konnte wie vorhin mit Anna. Obwohl sie mich überhaupt nicht kannte, hatte sie mich spontan zu sich eingeladen, sich um mich gekümmert und unglaublich viel Verständnis gezeigt, auch wenn sie selbst mächtig unter der Situation litt. Nach meiner Erfahrung gab es wenige solcher Frauen. Und dann musste sie ihr Herz ausgerechnet an meinen Bruder verlieren.
„Weißt du Depp eigentlich, was du dir mit deiner Nachbarin entgehen lässt?“, flüsterte ich Lukas über das Piepen der Maschinen hinweg zu. Doch auf eine Antwort oder sonstige Reaktion hoffte ich vergeblich.
Und letztendlich landete ich wieder bei der Frage, wie das alles passieren konnte und wer ihm das angetan hatte. Vielleicht würden wir es nie vollständig erfahren. Aber ich wollte so viel wie möglich darüber wissen und war froh, dass Anna morgen mit mir zusammen zum Tatort fahren würde. Natürlich hatte ich ihr Zögern bemerkt und wusste, dass ich sie mit der Frage ziemlich überrumpelt hatte. Umso dankbarer war ich ihr, dass sie sich trotzdem dazu bereit erklärt hatte und ich mir das nicht alleine antun musste. Es war feige. Und es war nicht fair, sie weiter mit in meinen Sumpf reinzuziehen. Aber ich würde es wiedergutmachen. Wie auch immer.
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