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Neben Verschiebungen der Wirtschaftsstruktur können auch erhöhter Kapitaleinsatz oder die bessere Nutzung von Arbeit und Kapital im Produktionsprozess – »technischer Fortschritt« – das Wirtschaftswachstum positiv bedingen. Zur Berechnung des technischen Fortschritts sind Annahmen über die zugrunde liegende Produktionsfunktion notwendig. Geht man von der neoklassischen Cobb-Douglas-Produktionsfunktion Yt = τt * Atα * Ktβ aus, dann ergibt sich das Sozialprodukt der Periode t (Yt) aus dem Arbeitseinsatz in dieser Periode (At), dem Kapitaleinsatz in dieser Periode (Kt), dem technischen Wissen in dieser Periode (τt) sowie aus zwei zeitinvarianten Parametern der Produktionsfunktion, α und β. Trifft man die beiden zusätzlichen Annahmen, dass α + β = 1 gilt und dass die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital nach ihrem jeweiligen Grenzprodukt entlohnt werden, dann entsprechen die Parameter α und β der Lohn- bzw. Kapitaleinkommensquote. Damit sind alle Variablen der Produktionsfunktion mit Ausnahme von τt in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beobachtbar, sodass τt als Residuum ermittelt werden kann. Derjenige Teil des Produktionsanstiegs zwischen Periode t und t-1, der nicht mit Veränderungen des Faktoreinsatzes erklärt werden kann, wird als »technischer Fortschritt« bezeichnet. Das nicht beobachtete Niveau des technischen Wissens wird dazu in der Basisperiode gleich eins gesetzt und mit Hilfe der als Restgröße ermittelten Wachstumsrate des technischen Wissens in der Zeit fortgeschrieben. Mit der Frage nach dem Wachstum der totalen Faktorproduktivität begibt man sich somit|43◄ ►44| in den Raum der kontrafaktischen Geschichtsschreibung, da man eine Antwort auf die Frage sucht, wie hoch das Sozialprodukt in einem Jahr gewesen wäre, hätte man diejenigen Mengen und Qualitäten an Arbeit und Kapital eingesetzt, die man im Vorjahr einsetzte. Somit wird die Differenz zwischen dem beobachteten Sozialprodukt und dem kontrafaktischen Sozialprodukt als technischer Fortschritt bezeichnet. Das kontrafaktische Sozialprodukt selbst wird jedoch nie beobachtet, weshalb die Falsifikation einer Hypothese über das Ausmaß des technischen Fortschritts nicht möglich ist.83 Dieser unbeobachtbaren Residualgröße werden 42 bis 64 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Wachstums sowie 26 bis 38 Prozent des Wachstums der gewerblichen Produktion, 53 Prozent des Wachstums der landwirtschaftliche Produktion und 26 Prozent des Wachstum der Dienstleistungsproduktion zugeschrieben.84
Abbildung A7 zeigt die Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität für die gesamte Volkswirtschaft und für den gewerblichen Sektor für die Jahre 1875 bis 1913. Es zeigt sich, dass die Gesamtfaktorproduktivität sowohl in der Gesamtwirtschaft als auch im Industriesektor zwar über den gesamten Zeitraum betrachtet um rund 60 bzw. 30 Prozent anstieg, aber am Anfang der Untersuchungsperiode zunächst gefallen war. In der Gesamtwirtschaft wurde erst 1884 wieder das Produktivitätsniveau des Jahres 1875 erreicht, im industriellen Sektor sogar erst 1893.85 Dies kann darauf hindeuten, dass der während des Gründerbooms der frühen 1870er Jahre erstellte Sachkapitalbestand in den folgenden Jahren nicht voll ausgelastet war, was sich negativ auf die Gesamtfaktorproduktivität auswirkte, da nicht alle Produktionsfaktoren verwendet wurden.
Die im Produktionsprozess erzielten Einkommen wurden auf die Lieferanten der beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital verteilt und von diesen für Konsum und Investitionen verausgabt. Tendenziell reduzierte sich dabei der Einkommensanteil der Arbeitnehmer im Zeitablauf, d. h. die unbereinigte Lohnquote sank. Zwischen 1871 und 1913 entfiel im Schnitt ein Viertel des Volkseinkommens auf das Kapitaleinkommen und dementsprechend drei Viertel auf das Arbeitseinkommen. Diese Quoten waren freilich im Zeitablauf nicht konstant. Während der 1870er und 1880er Jahre hatten die Kapitaleinkommensempfänger zunächst lediglich 21,6 Prozent des Volkseinkommens bezogen – und die Empfänger von Arbeitseinkommen dementsprechend 78,4 Prozent. In den darauffolgenden Dekaden bis zum Ersten Weltkrieg stieg dann der Anteil des Kapitaleinkommens |44◄ ►45| auf 27,9 Prozent des Volkseinkommens an. Der Anteil des Arbeitseinkommens ging entsprechend auf 72,1 Prozent zurück. Neben der funktionalen Einkommensumverteilung dürfte es vermutlich auch zu einer personellen Einkommensumverteilung gekommen sein, da das Kapitaleinkommen tendenziell personell stärker konzentriert ist. Die Umverteilung von Arbeits- zu Kapitaleinkommen war besonders im gewerblichen Sektor ausgeprägt, sodass dort der Verfall der Profitrate aufgehalten werden konnte. Im sekundären Sektor der deutschen Volkswirtschaft stieg der Kapitalkoeffizient, der das Verhältnis von Kapitaleinsatz zu Nettowertschöpfung misst, von 2,4 im Durchschnitt der Jahre von 1871 bis 1890 auf 3,3 im Durchschnitt der Jahre von 1891 bis 1913 an. Dies impliziert, dass die Kapitalproduktivität, also der reziproke Wert des Kapitalkoeffizienten, von 41 auf 31 Prozent gefallen ist. Die sinkende Kapitalproduktivität würde zu einer sinkenden Profitrate führen, wenn die funktionale Einkommensverteilung stabil bliebe. Da sich die funktionale Einkommensverteilung in der Industrie besonders stark zugunsten des Faktors Kapital verschob – hier betrug der Anteil des Kapitaleinkommens am Gesamteinkommen im Durchschnitt der Jahre 1871 bis 1889 nur 12,1 Prozent, im Durchschnitt der Jahre 1890 bis 1913 hingegen 24,9 Prozent – konnte die sinkende Profitrate aufgefangen werden.

Abbildung A7: Entwicklung der Gesamtfaktorproduktivität in der Gesamtwirtschaft und in der Industrie für die Jahre 1875 bis 1913 (1875 = 100). Beschäftigtenzahlen aus Hoffmann, Wachstum, S. 204– 206. Kapitalstockdaten für die Gesamtwirtschaft und den Industriesektor gemäß Burhop / Wolff, Compromise estimate. Industrieproduktion gemäß der oben vorgestellten Neuschätzung.
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Nachdem Einkommen durch den Produktionsprozess entstanden und auf die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital verteilt worden sind, können sie nun von den Einkommensbeziehern verwendet werden. Die Einkommensverwendung umfasst den privaten und öffentlichen Konsum sowie die Nettoinvestitionen und den Nettoexport. Da die drei ersten Größen faktisch die gesamte Verwendung umfassen, wird nur ihre Entwicklung umrissen. Es zeigt sich, dass zwischen 1871 und 1913 durchschnittlich rund 79 Prozent des Volkseinkommens für den privaten Konsum ausgegeben wurden, während lediglich 13 bzw. acht Prozent auf den öffentlichen Konsum bzw. die Nettoinvestitionen entfielen. Im Zeitverlauf nahm, analog zum relativen Bedeutungsverlust des Arbeitseinkommens, die Bedeutung des privaten Konsums ab. Sein Anteil verringerte sich in der Periode von 1890 bis 1913 gegenüber dem Zeitraum von 1871 bis 1889 um drei Prozentpunkte auf rund 77,6 Prozent. Dieser Rückgang des privaten Konsums wurde größtenteils durch die Bereitstellung öffentlicher Güter – dazu gehören beispielsweise die Sozialversicherung, aber auch das Militär – aufgefangen. Der Anteil des öffentlichen Konsums am Volkseinkommen wuchs von rund 11,3 Prozent auf 14,5 Prozent. Die dritte wichtige Komponente der Einkommensverwendung, die Nettoinvestitionen, blieb demgegenüber fast konstant: Ihr Anteil stieg von 7,3 Prozent im Schnitt der Jahre 1871/89 auf 8,1 Prozent im Mittel der Jahre von 1890 bis 1913.
Abschließend gilt es nun, die Entwicklung des Sozialprodukts während des Ersten Weltkriegs zu untersuchen. Diese vier Jahre gehören zweifelsohne zur Geschichte und auch zur Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs. Gleichwohl wird diese Periode in quantitativ orientierten Darstellungen der deutschen Wirtschaftsgeschichte häufig übergangen. Die Ursache für diese Begrenzung dürfte in der schlechten Datenlage liegen, die selbst den Doyen der quantitativen Wirtschaftsforschung, Walther Hoffmann, von einer Schätzung des Sozialprodukts während des Krieges abgehalten hat. Dennoch haben verschiedene Autoren während der vergangenen Jahrzehnte Schätzungen des Sozialprodukts für die Kriegsjahre publiziert.86 Die Frage nach der Höhe des deutschen Volkseinkommens vor und nach dem Ersten Weltkrieg wurde bereits im Mai 1921 der Statistischen Abteilung der Deutschen Reichsbank gestellt, da die deutsche Regierung zur Vorbereitung der Londoner Friedenskonferenz – dort sollte über die endgültige Höhe der deutschen Reparationen befunden werden – entsprechende Zahlen verlangte.87 Da eine amtliche Volkseinkommensstatistik nicht vorlag, stellten die Experten der Reichsbank zwei Schätzungen auf, wobei eine auf der Steuerstatistik und die andere auf Lohnindex- und Beschäftigungsreihen beruhte. Insgesamt |46◄ ►47| reduzierte sich, so die Berechnungen der Reichsbank, das reale Volkseinkommen pro Kopf zwischen 1913 und 1919 um rund 37 Prozent.88 Da im gleichen Zeitraum die Bevölkerung um rund sechs Prozent schrumpfte, nahm das gesamte Volkseinkommen zwischen 1913 und 1919 um rund 41 Prozent ab.89 Die zeitgenössische Punktschätzung für 1919 liegt damit sehr nahe bei einer kürzlich von Wirtschaftshistorikern auf Grundlage von Produktionsziffern von Landwirtschaft, Industrie und Verkehr erstellten Schätzung. Im Gegensatz zur Schätzung der Reichsbank weist diese neuere Arbeit auch Zahlen für die Einkommensentwicklung in den Jahren 1914 bis 1918 aus.90 Nach dieser Schätzung verringerte sich das Einkommen von 1913 = 100 im ersten Kriegsjahr um zehn Prozent, um dann weiter auf 1915 = 81,1 und 1916 = 75,8 zu fallen. In den Jahren 1917 und 1918 pendelte sich das Volkseinkommen auf niedrigem Niveau mit 1917 = 73,5 und 1918 = 71,0 ein, bevor es dann im Jahre 1919 auf 60,8 zurückging. Während der vier Kriegsjahre wurden somit die Früchte von jahrzehntelangem Wachstum zerstört, denn das reale Pro-Kopf-Einkommen des Jahres 1919 entsprach in etwa dem Niveau des Einkommens von 1885.
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Tabelle T3: Gewichte im Index der Industrieproduktion

Quelle: Zahlen für 1936 aus Rainer Fremdling / Rainer Stäglin, An Input-Output table for Germany and a new benchmark for German gross national product in 1936. Groningen Growth and Development Center, Januar 2009, Tabellen 2 und 3. Beschäftigungszahlen aus Hoffmann, Wachstum, S. 196–196.
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IV. Das Wachstum der deutschen Wirtschaft in internationaler Perspektive
Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, dass die deutsche Volkswirtschaft zwischen Reichsgründung und Weltkrieg deutlich wuchs, sich das Einkommen pro Kopf signifikant erhöhte und sich die Wirtschaftsstruktur vom Agrar- zum Industriestaat wandelte. In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, ob Deutschland damit ein Land unter vielen war oder ob sich die Entwicklung in Deutschland punktuell oder insgesamt von derjenigen in anderen Nationen unterschied. Der Bezugspunkt der komparativen Wirtschaftsgeschichte war und ist Großbritannien. Bereits während der deutschen Frühindustrialisierung forderte Friedrich List den Schutz der aufstrebenden deutschen Industrie vor der übermächtigen englischen Konkurrenz durch die Einführung von Zöllen. Friedrich Engels analysierte wenige Jahre später die Auswirkungen der englischen Industrialisierung auf die Lage der Arbeiter und Adolf Soetbeer verglich auf Basis von Einkommensteuerdaten das Volkseinkommen in Preußen mit jenem im Großbritannien.91
In der Historiographie wurde lange Zeit ein wirtschaftlicher Sonderweg Deutschlands gezeichnet. Dabei wurden insbesondere die wachstumsfördernde Rolle der Großbanken und des Staates durch gezielte Kreditvergabe und Förderpolitik, die moderne Organisation der deutschen Unternehmen in großen Aktiengesellschaften sowie deren Koordination in Kartellen betont. Am Schnittpunkt zwischen Staat und Unternehmen wurden zudem die vorbildliche Wissenschafts- und Technologiepolitik und die frühe Errichtung von industriellen Forschungslaboratorien gewürdigt. Demgegenüber sah man in England Familienunternehmen, die die Entstehung von effizienten Großunternehmen behinderten. Englische Banken sollen zudem die Kapitalversorgung der Industrie beschränkt und sich stattdessen zunehmend der Finanzierung von Kolonialgesellschaften zugewandt haben. Verfehlte Wissenschaftspolitik habe zudem dazu beigetragen, dass englische Unternehmer den Anschluss an die neuen Wachstumsindustrien verpassten. Ganz anders hingegen die Entwicklung in den Vereinigten Staaten: Dort hätten sich wie in Deutschland moderne Großunternehmen entwickelt, die ihre Aktivitäten, wenn nicht über Kartelle, so aber in Konzernen bzw. Trusts koordiniert hätten. Industrieforschung sei zwar nur in vergleichsweise geringem Umfang in Unternehmen durchgeführt worden, aber dafür habe es einen regen Markt für Technologie gegeben. Kurzum: Die klassi-sche|49◄ ►50| Wirtschaftsgeschichte sieht in Deutschland und den Vereinigten Staaten zwei rasch aufwärts strebende Volkswirtschaften, während die englische stagnierte und von den beiden neuen Kontrahenten schließlich überholt wurde.92 Diese Sichtweise steht zumindest teilweise im Widerspruch zu den Ergebnissen der vergleichenden quantitativen Wirtschaftsgeschichte. Sie zeigt, dass am Anfang des 20. Jahrhunderts das Pro-Kopf-Einkommen und die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität in Großbritannien wesentlich höher als in Deutschland waren und dass es nur eine gemächliche Konvergenz der Einkommen gegeben hat.93 Der scheinbare Widerspruch kann teilweise aufgelöst werden, denn der moderne Industriesektor – auf den sich die klassische Forschung bezog – wuchs in Deutschland tatsächlich vergleichsweise rasch und zog zumindest mit Großbritannien gleich. Gleichwohl blieb Deutschland sowohl hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen wie auch der industriewirtschaftlichen Entwicklung weit hinter den Vereinigten Staaten zurück.94
Der wirtschaftshistorische Vergleich hat somit verschiedene Länder und Maßgrößen zur Beurteilung der deutschen Wirtschaftsentwicklung verwendet. Die komparative Wirtschaftsgeschichte hat das Augenmerk auf den Vergleich des Sozialprodukts, des Sozialprodukts pro Kopf, der Arbeitsproduktivität, der Beschäftigungsstruktur sowie der Veränderung dieser Größen über die Zeit gerichtet. Ebenso wurden die Faktoren, die in den einzelnen Ländern hinter dem Wachstum standen, miteinander verglichen: der technische Fortschritt, die Kapitalintensivierung und der Strukturwandel. Tabelle T4 fasst wichtige Kennzahlen – Sozialprodukt, Bevölkerung, Sozialprodukt pro Kopf – für die vier größten Volkswirtschaften jener Jahre und für die beiden Stichjahre 1871 und 1913 zusammen. 95 1871 war das neu gegründete Deutsche Reich mit einem Sozialprodukt von 17,2 Milliarden Mark, nach den Vereinigten Staaten von Amerika mit |50◄ ►51| einem Sozialprodukt von 27,3 Milliarden Mark und Großbritannien mit einem Sozialprodukt von 21,3 Milliarden Mark, die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt, gefolgt von Frankreich mit einem Sozialprodukt von 15,4 Milliarden Mark. Bis 1913 arbeitete sich das Deutsche Reich mit einem Sozialprodukt von nun 53,7 Milliarden Mark auf den zweiten Rang vor. Den Abstand gegenüber Frankreich, das 1913 auf ein Sozialprodukt von nur 31,1 Milliarden Mark kam, vergrößerte sich vor allem aufgrund des wesentlich stärkeren Bevölkerungswachstums. Großbritannien, das im letzten Vorkriegsjahr ein Sozialprodukt von 46,4 Milliarden Mark aufwies, konnten die Deutschen aufgrund des stärkeren Produktivitätswachstums hinter sich lassen. Auch gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, die ein Sozialprodukt von 118,7 Milliarden Mark erwirtschafteten, wies das Deutsche Reich eine überlegene Entwicklung des Pro-Kopf-Wachstums auf. Allerdings fiel man in Bezug auf die Gesamtgröße der Volkswirtschaft aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums in den Vereinigten Staaten deutlich zurück. Nimmt man das Niveau des Volkseinkommens pro Kopf als Maßstab für den Wohlstand eines Landes, dann zeigt sich, dass Frankreich und das Deutsche Reich etwa gleichauf lagen, allerdings beide nur die Hälfte bzw. drei Viertel des britischen Pro-Kopf-Einkommens in den Jahren 1871 bzw. 1913 aufwiesen. Durchschnittlich erzielte ein Einwohner in Deutschland und Frankreich in den Jahren 1871 bzw. 1913 ein jährliches Einkommen von rund 420 bzw. 790 Mark. Der Durchschnittsbrite kam auf 810 bzw. 1.120 Mark. Das Einkommen pro Kopf in den Vereinigten Staaten war eineinhalb Mal so hoch wie in Deutschland und betrug 690 Mark bzw. 1.235 Mark.96 Tabelle T4 belegt, dass die deutsche Wirtschaftsentwicklung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht außergewöhnlich war.97 Erklärungsbedürftig scheint vor allem der vergleichsweise geringe Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens in Großbritannien und das relativ niedrige Wachstum der Bevölkerung in Frankreich. Die wirtschaftshistorische Forschung hat sich in den vergangenen Dekaden vor allem der ersten Frage zugewandt. Die zweite Frage fällt vornehmlich in das Feld der Sozialgeschichte. Da sich das Einkommen pro Kopf per definitionem aus dem Einkommen je Beschäftigtem – der Arbeitsproduktivität – multipliziert mit der Erwerbsquote – dem Quotienten aus Erwerbstätigen und Bevölkerung – ergibt, können unterschiedliche Pro-Kopf-Einkommen zumindest vordergründig |51◄ ►52| auf Unterschiede in der Arbeitsproduktivität und der Erwerbsquote zurückgeführt werden.
Tatsächlich blieb die Erwerbsquote in Großbritannien zwischen 1871 und 1913 nahezu konstant – 1871 betrug sie 44,5 Prozent, vier Dekaden später 45 Prozent. In Deutschland stieg sie von 42,3 auf 46,2 Prozent an. Dies bedeutet, dass ein Teil des im Vergleich zu Großbritannien rascheren Wachstums des deutschen Pro-Kopf-Einkommens auf das relative Wachstum der Erwerbsquote zurückzuführen ist. Ungleich stärker fiel der Anstieg in Frankreich aus, wo sich die Erwerbsquote zwischen 1872 und 1911 von 40,7 auf 53,4 Prozent vermehrte. Frankreich kompensierte also sein schwaches Bevölkerungswachstum zumindest teilweise durch eine stärkere Partizipation am Produktionsprozess.98
Neben dem Anstieg der Erwerbsquote könnte das Wachstum der Arbeitsproduktivität zur vergleichsweise raschen Erhöhung des deutschen Pro-Kopf-Einkommens in der Zeit des Kaiserreichs mit beigetragen haben. Die Arbeitsproduktivität kann sowohl auf aggregierter Ebene anhand von Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als auch auf disaggregierter Ebene ermittelt und mit Hilfe von Beschäftigungsanteilen auf das gesamtwirtschaftliche Niveau extrapoliert werden. Unter der disaggregierten Ebene versteht man die Ebene der einzelnen Sektoren und Branchen. Prinzipiell sollten beide Ansätze zu ähnlichen Ergebnissen führen. Im vorherigen Kapitel haben wir jedoch gesehen, dass die historische volkswirtschaftliche Gesamtrechnung lediglich ein ungefähres Bild der wirtschaftlichen Entwicklung in einem Land gibt. Werden nun zwei möglicherweise mangelhafte volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen zueinander in Beziehung gesetzt, dann können sich die Unzulänglichkeiten zufällig aufheben –sie können sich aber auch verstärken. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass die Kaufkraft des Geldes in Ländern unterschiedlich sein und vom Wechselkurs durchaus abweichen kann. Daher basiert die moderne komparative quantitative Wirtschaftsgeschichte auf branchenspezifischen Produktivitätsvergleichen bei Verwendung von Kaufkraftparitätswechselkursen. Das Verfahren wird hier anhand der relativen Produktivität der deutschen und britischen Automobil- und Motorradindustrie im Jahre 1907 illustriert.99 1907 produzierte diese Branche in Großbritannien 8.800 Autos, 1.500 Karosserien und 3.700 Motorräder zu Stückkosten von 335, 425 und 37 Pfund. In Deutschland wurden im |52◄ ►53| gleichen Jahr 7.318 Automobile, 2.126 Karosserien und 3.703 Motorräder zu Stückkosten von 6.537, 9.472 und 607 Mark hergestellt. Unter der Annahme, dass in beiden Ländern im Durchschnitt Automobile, Karosserien und Motorräder gleicher Qualität produziert wurden, kann man die Kaufkraftparität für die drei Güter aus dem Verhältnis der Stückkosten in den jeweiligen Ländern berechnen. Diese Rechnung ergibt eine Kaufkraftparität von 19,51 Mark je Pfund für Automobile, von 22,29 Mark je Pfund für Karosserien und von 16,41 Mark je Pfund für Motorräder. Gewichtet man diese drei Kaufkraftparitäten mit den Produktionsanteilen der drei Güter in den beiden Ländern, dann ergibt sich für diese Branche eine Kaufkraftparität von 20,04 Mark je Pfund.100 Neben den drei Gütern, die miteinander verglichen werden konnten, produzierte die jeweilige Industrie Waren, die nur in einem Land hergestellt bzw. die nur in einem Land in der Produktionsstatistik separat ausgewiesen wurden. Man nimmt an, dass für diese Waren dieselbe Kaufkraftparität gilt. Insgesamt produzierte die britische Automobilindustrie bei einem Einsatz von 54.043 Mitarbeitern und Vorleistungen im Wert von 5,7 Millionen Pfund Waren im Wert von 11,6 Millionen Pfund, d. h. die Bruttowertschöpfung betrug 5,9 Millionen Pfund bzw. 109 Pfund je Mitarbeiter. Gemäß der oben ermittelten Kaufkraftparität entspricht dies einer Arbeitsproduktivität von 2.188 Mark. Die Bruttowertschöpfung je Mitarbeiter der deutschen Automobilindustrie betrug lediglich 1.925 Mark oder 88 Prozent der britischen. 101
Tabelle T4: Vergleich des Sozialprodukts

Quelle: Nettosozialprodukt für Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Bruttosozialprodukt für die Vereinigten Staaten; in Mrd. Mark bzw. Mark pro Kopf. Bevölkerung in Mio. Umgerechnet nach Kaufkraftparitäten nach Williamson, Evolution, S. 184. Britische Daten aus B.R. Mitchell, British Historical Statistics. Französische Daten aus Levy-Leboyer und Bourguigon, L’economie francaise. Amerikanische Daten aus Balke / Gordon, Estimation.
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Nun kann mit diesem Verfahren Branche für Branche miteinander verglichen werden. Mit Hilfe der Beschäftigtenzahlen in den jeweiligen Produktionszweigen können weiterhin die branchenspezifischen relativen Produktivitätsniveaus zunächst auf der sektoralen und schließlich auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene zusammengefasst werden.102 Tabelle T5 stellt das Ergebnis für die drei Länder Deutschland, Großbritannien und die Vereinigten Staaten von Amerika für die Zeit um 1910 dar, wobei das Arbeitsproduktivitätsniveau in Deutschland gleich 100 gesetzt wurde.103 Dies impliziert, dass ein Tabellenwert über 100 einen Produktivitätsvorteil des jeweils anderen Landes gegenüber Deutschland indiziert, ein Wert unter 100 aber einen deutschen Produktivitätsvorsprung anzeigt. Um das Jahr 1910 wies die deutsche Wirtschaft im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika in allen sieben marktwirtschaftlich orientierten Zweigen eine deutlich niedrigere Arbeitsproduktivität auf. Insgesamt waren Beschäftigte in den Vereinigten Staaten rund 58 Prozent produktiver als in Deutschland. Das durchschnittliche Niveau der Arbeitsproduktivität in Deutschland betrug lediglich 63 Prozent des amerikanischen. Im Vergleich mit Großbritannien schneidet Deutschland hingegen besser ab. Einerseits gab es erhebliche Produktivitätsrückstände in der Landwirtschaft, im Bergbau und im Handel sowie bei Banken, Versicherungen und sonstigen Dienstleistungen. Andererseits war die Arbeitsproduktivität in Deutschland im verarbeitenden Gewerbe, im Baugewerbe, in der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung sowie im Transport- und Kommunikationswesen deutlich höher.
Im Durchschnitt waren Erwerbstätige in Großbritannien um 1910 lediglich 16 Prozent produktiver als deutsche Werktätige. Deutschland schloss somit am |54◄ ►55| Vorabend des Weltkriegs nahezu zum Mutterland der Industrialisierung auf. Diese Ermittlung der relativen Arbeitsproduktivität ergibt folglich ein für Deutschland verhältnismäßig positives Bild, denn die Arbeitsproduktivität, ermittelt aus der historischen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und mit Hilfe von amtlichen Wechselkursen transformiert, weist für Deutschland einen Rückstand von 36 Prozent gegenüber Großbritannien im Jahre 1910 aus.104 Gleichwohl belegen beide Verfahren einen Rückstand Deutschlands.
Tabelle T5: Relative Arbeitsproduktivität

Quelle: eigene Berechnungen aufgrund von Daten aus Broadberry, How did the United States, S. 380; Broadberry / Burhop, Comparative productivity, S. 321; Broadberry, Anglo-German productivity in services, S. 233; Broadberry, Anglo-German productivity differences, S. 251.






