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Cassie, warum habe ich dich erst begehrt, als du für mich verloren warst?

»Schmeiß es weg«, sagt er.
»Gut.«
»Dieses ganze Inzestgeschwätz, mein Gott…«
»Ich hab ja gesagt, es wird gestrichen.«
»Was kommt als Nächstes?«
»Du wirst zum ersten Mal offiziell verwarnt.«

Die alten neuen Vorschriften lauteten: Rauchen im Krankenhaus verboten. Die neuen neuen Vorschriften lauten: Rauchen auf dem Krankenhausgelände verboten. Also hatte der Typ von der Krebsberatung sich offiziell beschwert. Wenn er sich mündlich beschwert hätte, hätte ich eine mündliche Rüge bekommen. Eine offizielle schriftliche Beschwerde hat eine offizielle schriftliche Verwarnung zur Folge. Mein Vorgesetzter erklärt mir das, nachdem er mir die offizielle Verwarnung überreicht hat. »Und was ist mit den Regenwäldern?«, frage ich. »Holzt keine Bäume ab für offizielle Verwarnungen. Wenn ihr mich verwarnen wollt, dann schickt mir eine E-Mail oder eine SMS. Oder druckt es auf Recycling-Papier. Schreibt die neue Verwarnung auf die Rückseite der vorherigen.«
»So ist nun mal der Dienstweg«, sagt er. Er trägt ein zugeknöpftes gestreiftes Hemd unter einem Pulli mit V-Ausschnitt, seine fettigen Haare reichen bis über den Kragen.
»Gehen Sie mal zum Friseur«, sage ich. »Sie sehen aus wie ein schmieriger Mönch. Bringen Sie sich auf Vordermann, öffnen Sie den obersten Knopf. Dass Sie verheiratet sind, ist keine Entschuldigung.«
Das sage ich nicht. Tatsächlich sage ich: »Wie wäre es mit der hintersten Ecke des überfüllten Parkplatzes, dort, wo diese geizigen Drecksäcke ihre Autos abstellen, die keine Parkgebühren zahlen wollen?«
»Karlsson, überall auf dem Krankenhausgrundstück ist das Rauchen verboten.«
»Von dort aus kann man das Krankenhaus nicht mal sehen.«
»So ist nun mal die Regel.«
»Hören Sie mal, ich verstehe ja, wieso das Rauchen im Krankenhaus verboten ist, aber…«
»Karlsson, wenn ich Sie dabei erwische, wie sie irgendwo auf dem Grundstück des Krankenhauses rauchen, sind Sie gefeuert.«
»Okay. Und wann wird es verboten, auf dem Krankenhausgelände zu trinken? Wann überprüfen wir zum Beispiel die Thermoskannen der Chirurgen, wenn sie morgens hier ankommen?«
»Es ist doch zu Ihrem eigenen Nutzen«, sagt er. »Sie leben länger.«
Die neue Richtlinie hat überhaupt nichts mit meiner Gesundheit zu tun und auch nicht mit seiner. Er ist einfach von dieser Krankheit infiziert, die ihn dazu drängt, jede neue Vorschrift wie eine Art Placebo des Tages zu befolgen. Wem schade ich denn, wenn ich auf dem überfüllten Parkplatz rauche? Ich gefährde meine Gesundheit, na klar, aber ihn bringe ich um.
»Wenn Sie jemandem vorschreiben können, wie er sich umzubringen hat«, sage ich, »dann können Sie ihm auch alles andere vorschreiben. Warten Sie einfach mal ab, bis jemand kommt und Ihnen rät, aus welchem Fenster Sie springen sollen.«
Das sage ich nicht.
»Ich habe Sie gewarnt«, sagt er.
»Das kann man wohl sagen. Kann ich noch eine Extraportion Drohung dazubekommen?«
Aber er hört nicht zu. Mein Zitat für den heutigen Tag stammt von Aristoteles: Es gibt kein großes Genie ohne einen Schuss Verrücktheit.

»Vielleicht sollten wir das Aristoteles-Zitat streichen«, sagt er. »Ich frage mich, ob die Leute auf so was wie Wahnsinn positiv reagieren, es sei denn, Russell Crowe spielt die Hauptrolle. Und die vulgäre Ausdrucksweise sollte auch rausfliegen.«
»Kein Wahnsinn«, sage ich und notiere mir das. »Außerdem keine unanständigen Worte. Sonst noch was?«
»Nur eins noch.« Er zieht ein Blatt Papier aus seinem Rucksack. »Das hier habe ich gestern Abend geschrieben. Ich hab mich in Bezug auf Cassie an etwas erinnert. Interessiert dich das?«
»Klar, wieso nicht?«
Er hält mir das Blatt hin.
»Nein«, sage ich. »Du hast es geschrieben, also lies es auch.«
»Ich hab nicht so eine gute Stimme zum Vorlesen«, sagt er.
»Du willst doch, dass es realistischer wird, oder? Authentischer?«
Er schaut mich scheel an, macht sich über sich selbst lustig und grinst. »Na gut«, sagt er dann.

Manchmal singt Cassie im Schlaf. Die Worte sind nicht zu verstehen, eine Melodie ist nicht vorhanden. Es klingt wie Stöhnen, kurzes Aufschreien, schrilles Quieken. Nichts davon ergibt irgendeinen Sinn. Auch als zusammenhängende Sequenz ergibt es keinen Sinn. Falls es eine direkte Verbindungslinie zwischen dem Rauschen des Weltalls und einem Requiem von Mozart gibt, zwischen bedeutungslosem Zischen und perfektem Klanggebilde, dann gehört Cassie mit ihrem Gesang in einen Chor der Wale.
Manchmal singt sie zwei Monate nicht, dann dreimal in der Woche. Es dauert mal fünf Sekunden, mal eine Minute. Warum?
Ich habe ihren Gesang aufgenommen, ohne sie um Erlaubnis zu bitten. Ein unverzeihlicher Übergriff. Aber Cassie weiß gar nicht, dass sie singt. Wenn ich es ihr erzähle, wird sie vielleicht nie mehr singen. Was dann?
Ich habe das Band langsamer abgespielt, dann beschleunigt und es rückwärts laufen lassen. Keine meiner Manipulationen hat irgendwelchen Sinn zutage gefördert. Einstweilen habe ich die folgenden Möglichkeiten ausgeschlossen: Hymnen, Popsongs, Erkennungsmelodien von Fernsehsendungen, Werbejingles, Kinderlieder.
Ich weiß nur, dass ihr Gesang nicht dazu da ist, gehört zu werden. Es ist noch nicht mal wie das unbewusste Schreien eines Babys, das zwar ein unartikuliertes Plärren ist, aber immerhin auf Hunger, eine nasse Windel oder Schmerz hinweist.
Im Dunkeln warte ich darauf, dass Cassie singt. Im Augenblick des Wartens erreiche ich den Tangentialpunkt, an dem ich die Menschheit berühre, diese einzigartige Rasse, die einen Kreisbogen entlangstrebt, der entworfen wurde, um der unumstößlichen Logik der Natur zu widersprechen.

»Und?«, fragt er.
»Du hast den richtigen Ton getroffen«, sage ich. »Und ich finde, es ist dir gut gelungen, dir den Anschein eines mitfühlenden Perversen zu geben.«
»Es stört dich also nicht, wenn ich ab und zu was beisteuere?«
»Überhaupt nicht. Je mehr du schreibst, umso weniger Arbeit habe ich.«
»He«, sagt er mit einem schüchternen, dümmlichen Grinsen, »wäre es nicht witzig, wenn ich darüber schreibe, dass ich kein Schriftsteller sein will?«
»Hol mir mal schnell ein Korsett«, sage ich. »Könnte sein, dass ich mir eine Rippe angeknackst habe.«

Heute Morgen hängt dichter Nebel über den Bergen, und ganz feine Tropfen rieseln ständig herab. So ein Nieselregen, der überall durchdringt, ohne dass man es merkt. Ich trete vom Fenster zurück, die Lichter sind ausgeschaltet, ich trinke meinen Kaffee und schaue zu, wie Billy etwas liest, das er geschrieben hat. Ab und zu schaut er auf und sieht hinüber zum Haus.
Gegen halb neun geht er, läuft linkisch um das Bambusbeet auf der anderen Seite des Karpfentümpels herum, mit hochgezogenen Schultern wegen des Regens.
Die Art, wie er geht, bringt mich auf den Gedanken, dass er die acht Zentimeter, die er angeblich zugelegt hat, dicken Innensohlen in seinen Schuhen verdankt.
Nicht mal eine Tasse Kaffee hat er bekommen. Jetzt war ich dran.

In umgekehrter Reihenfolge funktioniert die Kommandohierarchie im Krankenhaus ungefähr so:
Kakerlaken
Aushilfskräfte
Vorgesetzte der Aushilfskräfte
Krankenschwestern
Stationsschwestern
Oberschwestern
Assistenzärzte
Berater
Spezialisten
Wirtschaftsprüfer
Verwaltungsrat
Gott
Alle diese wundersamen Kreaturen müssen ihre Notdurft verrichten. Früher oder später sind die Rohre verstopft. Dann warten alle darauf, dass eine der Aushilfen kommt und den Augiasstall ausmistet. Anschließend beginnt alles von vorn.
Ich nenne diesen Prozess »Dienstag«.
Alle haben was gegen Montage, aber Montage laufen immer gut.
Dienstage sind übel.
Dienstag ist der Mr Hyde des Montags. Er lungert im Schatten herum und zwirbelt sich seinen ausladenden Schnurrbart. Die Dienstage locken Freitag den 13. auf den Parkplatz und zünden ihm die Füße an, nur um zuzuschauen, wie er tanzt. Wenn der Dienstag ein Kontinent wäre, dann wäre er Afrika südlich der Sahara: verleugnet, zerstört und höllisch fies.
Dienstage stehen permanent vor einer Rebellion. Ich kann das spüren. Dienstage wollen Samstagabende sein, und die wenigen süßen Ausnahmen im Jahr genügen ihnen nicht. Wenn euch also irgendwann alles um die Ohren fliegt, dann sagt nicht, ihr seid nicht gewarnt worden.
Wir haben die Dienstage zu sehr an die Kandare genommen, ihnen keine freie Zeit gelassen. Wir haben uns keine Gedanken über die Arbeitsbedingungen der Dienstage gemacht. Der Dienstag ist wie der blindwütige Samson, dessen Haar unbemerkt, aber stetig wächst.
Ich habe euch gewarnt.
Der Gewerkschaftsvertreter ist am Telefon, also muss heute wohl Dienstag sein.
»Du hast schon wieder eine offizielle Verwarnung bekommen, Karlsson«, sagt er. »Wenn ein Mitglied sich auf der Arbeit daneben benimmt, wirft das ein schlechtes Licht auf die Gewerkschaft. Das solltest du beherzigen, denn wir sitzen alle im selben Boot. Wenn jeder seinen Beitrag leistet, ist es für alle einfacher. Du weißt doch, dass die Arbeitsverträge der Reinigungskräfte nächsten Monat neu verhandelt werden.«
»Solltet ihr nicht auf meiner Seite stehen?«, frage ich. »Man hat mich in den Arsch gefickt, metaphorisch gesprochen. Wie kann denn in diesem Zusammenhang jeder seinen Beitrag leisten, wenn jemandem im metaphorischen Sinn der Arsch aufgerissen wird?«
»Regeln sind nun mal Regeln«, sagt er.
»Es gibt aber auch schlechte Gesetze. Das Gesetz ist ein Scheißdreck, und es muss auch als Scheißdreck betrachtet werden.«
Aber es ist Dienstag, und er hört nicht zu. »Noch ein Vergehen und du bist suspendiert«, sagt er.
»Noch eins und ich bin gefeuert. Wie soll ich denn suspendiert werden, wenn ich schon gefeuert bin?«
»Dies ist eine disziplinarische Verwarnung. Du bekommst eine offizielle Benachrichtigung innerhalb von drei Arbeitstagen.«
»Kann ich nicht warten, bis die offizielle Benachrichtigung eingetroffen ist, bevor ich mich als diszipliniert betrachte? Ich hab Probleme mit imaginären Maßnahmen von Autoritäten. Ich bin Atheist, schick mir eine Heuschreckenplage.«
Aber es ist Dienstag. Er hört nicht zu.

»Wieder diese obszöne Ausdrucksweise«, sagt er.
»Wie du meinst.«
»Außerdem ist vielleicht zu viel von Dienstagen die Rede. Aber das soll nur eine Anregung sein. Du bist der Schriftsteller.«
»Nein, vielleicht hast du recht. Ich geh noch mal drüber.«
»Okay. Was kommt jetzt?«
»Ein weiterer Ausschnitt aus deinem Roman über Cassie.«
»Ich dachte, das werfen wir alles weg.«
»Die letzte Passage haben wir weggeworfen, ja. Aber danach ist mir klar geworden, dass diese Ausschnitte eigentlich Liebesbriefe von Karlsson an Cassie sind.«
»Echt?«
»Was willst du jetzt also tun?«
Er zuckt mit den Schultern. »Wir können’s ja mal probieren.«

Sermo Vulgus: Roman (Auszug)
Als junger Mann in Wien wurde Hitler von einer Jüdin abgewiesen. Eine Kugel zerfetzte seinen Ärmel, als er über das Niemandsland stürmte.
Cassie, fünfzehn Zentimeter hätten das Leben der Sechs Millionen retten können.
Cassie, sie behaupten, Hitler hätte sich einst in der Gesellschaft von Juden wohlgefühlt.
Wie können sie dann so unbekümmert von Schicksal, Vorsehung und prokreativem Sex sprechen?
Verdamme die Zukunft, Cassie, dämme sie ein. Mach’s mir mit der Hand, dem Mund, mit dem Arsch. Gib mir deine Achselhöhlen, du Dirne. Lass uns die Körper von Jungfrauen aufreißen, auf dass ihre Wunden sich weiten und uns ficken wie toll, bis Gott aus seinem Himmel fällt. Ergehen wir uns in Schleim, Blut, Mösensaft und Sperma; spar dir deine Tränen für den Essig auf, den wir den durstigen Märtyrern reichen.

»Das soll ein Liebesbrief sein?«, fragt er.
»Es ist ein Liebesbrief von Karlsson.«
»Mit Frauen kennt er sich wohl nicht so gut aus?«
Debs zieht die Patiotür auf und steckt den Kopf heraus.
»He, Hemingway«, ruft sie. »Deine Tochter hat volle Windeln. Hopp-hopp.«
Ich winke ihr zu. »Ich muss los«, sage ich zu Billy. »Familientag. Wir fahren raus nach Drumcliffe zum Mittagessen. Es wird Zeit, dass Rosie dem Grab von Yeats einen Besuch abstattet.«
Er nimmt die Sonnenbrille ab und zwinkert mir mit seinem einen Auge zu. »Wirf ein kaltes Auge auf ihn«, sagt er. Schwer zu sagen, ob er sein strahlend Blaues meint oder die Dörrpflaume.
Ich halte den Auszug aus Sermo Vulgus hoch. »Was willst du jetzt damit machen?«
»Als Liebesbrief finde ich es nicht so gut«, sagt er.
»Ich kann es wegwerfen, wenn du willst.«
»Vielleicht können wir es ja an einer anderen Stelle einbauen. Wo es nichts mit Cassie zu tun hat.«
»Kriegen wir hin. Dann bis morgen.«
»Am Samstag?«
»Oh, stimmt. Also bis Montag.«
»Super«, sagt er. »Ich würde morgen gern mal ausschlafen. Dieses frühe Aufstehen macht mich echt fertig.«
»Versuch mal, ein Kind zu kriegen«, sage ich. »Dann weißt du, was Frühaufstehen bedeutet.«
Er schaut mich kurz an und wirkt irgendwie kämpferisch.
»Das hängt ja wohl ganz von dir ab, oder?«
»Möchtest du, dass Cassie schwanger wird?«
»Das wäre bestimmt gut für uns beide.«
»Aber sie nimmt die Pille, oder?«
»Tut sie. Vielleicht könntest du ihre Pillen ja gegen Folsäuretabletten austauschen oder so.«
»Ohne dass sie es merkt?«
»Manchmal muss man Böses tun, um das Gute zu erreichen«, sagt er. »Die besten Geschichten handeln doch genau davon.«

Buddhistische Mönche ergehen sich darin, komplexe Mosaikkunstwerke aus Tausenden genau umrissenen allerfeinsten Häufchen farbigem Staub herzustellen. Manchmal arbeiten sie jahrelang daran. Wenn sie damit fertig sind, fegen sie den ganzen Staub in eine Ecke und fangen von neuem an.
Ich erfreue mich an diesem perversen Gedanken, während ich die Fliesen im Krankenhauskorridor wische. Wenn ich das Ende des langen Flurs erreicht habe, sind schon wieder viele Leute über den gewischten Teil getrampelt. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Die Priester sagen das, um die Pferde nicht scheuzumachen. Es wäre korrekter zu sagen Asche von Asche, Staub von Staub.
Es wäre sogar noch korrekter, überhaupt nichts zu sagen und die Leute selbst entscheiden zu lassen.
Die Leute schleppen den Dreck an ihren Schuhen ins Krankenhaus. Sie bringen Staub rein, Hundescheiße, Bakterien, Speichel, sauren Regen, Kohlenmonoxid und dreckige Kaugummireste. Aber sie dürfen nicht auf dem überfüllten Parkplatz rauchen.
Ich erkundige mich, ob ich während der Putzerei einen Mundschutz tragen darf, damit ich nicht die eingeschleppten Krankheitserreger der Besucher einatmen muss. Aber weil ich nur eine Aushilfskraft bin, wird diese Anfrage als witzig gemeinte Anmaßung abgetan. Nur Chirurgen dürfen Masken tragen, mit der offiziellen Begründung, es würde die Patienten schützen, tatsächlich aber fürchten sich die Chirurgen vor den unsichtbaren Gefahren, die einem frisch aufgeschlitzten oder erkrankten menschlichen Körper entweichen.
Ein Mann steht mitten im Korridor, und ich muss um ihn herumwischen. Seine Schultern hängen herab. Er wirkt so schlaff, dass man den Eindruck hat, alle seine Bänder seien ein klein wenig überdehnt worden.
»Entschuldigung«, sage ich. »Wären Sie so nett und treten ein Stück zur Seite?«
Er dreht sich um und schaut mich an. Mit weit aufgerissenen, sehr trockenen Augen. Dann sagt er mit heiserer Stimme: »Meine Tochter ist gerade gestorben.«
»Das tut mir leid«, sage ich. Das könnte jetzt heuchlerisch rüberkommen, aber ich finde ihn ziemlich anmaßend. Ich frage mich, warum die Leute immer glauben, ihr Schmerz sei für andere von Belang. Ich frage mich, warum die Leute heutzutage ständig ihren Schmerz mit anderen teilen wollen. Wenn dieser Typ mitten auf dem Teppich stehen und eine Tüte Süßigkeiten verzehren würde, käme er nie auf die Idee, dem Mann mit dem Staubsauger eins von seinen Karamellbonbons anzubieten.
»Sie war acht Jahre alt«, sagt er.
»Sie müssen sie sich als ein Mosaik vorstellen«, sage ich. »Stellen Sie sich vor, ihre Tochter wäre ein unglaublich komplexes Mosaik, das so schön geworden ist, wie es nur möglich war. Und nun stellen Sie sich vor, wie es beiseitegefegt wird, damit ein neues wunderschönes Mosaik daraus geformt werden kann. Vielleicht hat es ja schon angefangen. Gehen Sie mal nach oben in die Entbindungsstation, vielleicht werden Sie ihr Lächeln dort wiederfinden, dieses besondere Funkeln in ihren Augen. Gehen Sie hin, während die Mutter noch darüber nachgrübelt, wie lange es wohl dauert, bis ihre mütterlichen Gefühle endlich erwachen, vielleicht haben Sie ja Glück. Aber vielleicht wurde sie diesmal auch als Junge geboren, Sie sollten da keine Scheuklappen tragen. Und darf ich Sie jetzt bitten, zur Seite zu treten? Ich habe nämlich schon eine offizielle Verwarnung bekommen.«
Er starrt mich an, ohne etwas zu verstehen. Dann füllen sich seine großen, ausgetrockneten Augen mit Tränen. Sie laufen über seine Pausbäckchen. Er erbebt, schluchzt auf, krampft sich zusammen und beginnt loszuheulen.
»Nichts existiert für immer«, sage ich. »Heutzutage hat sogar das schlimmste Leid ein Verfallsdatum.«
Aber er hört nicht zu.
Cassie ruft an und bittet mich, auf dem Heimweg eine DVD auszuleihen. Wir machen es uns auf dem Sofa gemütlich, trinken Wein, rauchen einen Joint und schauen uns den Film an.
»Weißt du, was richtig gruselig ist?«, fragt Cassie. »Dass ein Hai einem ganz persönlich was übelnimmt.«
»Abgesehen von einem Meteor auf Abwegen ist ein Hai bestimmt das Schlimmste, was einem passieren kann.«
»Wenn er einen richtigen Hass auf dich hat.«
»Aber das ist eine Schwäche von Der weiße Hai. Haie stammen aus einer Zeit, als es noch gar keinen Hass gab.«
Sie schaut mich fragend an.
»Hass ist eine Erfindung der Menschheit«, führe ich weiter aus, »die es erst seit ungefähr einer Million Jahren gibt. Haie gibt es schon seit vierhundert Millionen Jahren.
Cassie ist ziemlich stoned und total fasziniert. »Echt jetzt?«
»Ernsthaft. Und sie haben sich während dieser Zeit fast überhaupt nicht verändert.«
»Woher weiß man das?«
»Unterirdische Architektur.«
»Gibt’s da wirklich Gebäude?« Sie kichert. »Zum Beispiel ein Hai-Museum?«
»Ich meine die Ablagerungen.«
Ich erkläre ihr, dass die wahre Geschichte des Planeten in einer steinernen Galerie nachzuverfolgen ist. Angefangen bei den Knochenablagerungen bis hin zu den Säulenreihen des Parthenons, von der perfekten mathematischen Struktur der Pyramiden bis zur geometrischen Anlage in Cusco, von der Lava, die Pompeji eingeschlossen hat, bis zur Keilschrift am Fuß antiker Säulen. »Wenn du willst, dass man sich an dich erinnert, Cassie, dann musst du mit Stein arbeiten. Moses kam nicht vom Berg Sinai herunter und hatte die Zehn Gebote auf Papyrus unterm Arm.«
»Stimmt.«
»Denk an all die vergangenen Zivilisationen. Ihre Existenz wird durch Steine dokumentiert, durch Trümmer und erhaltene Gebäude. Das Kolosseum. Die Sphinx. Newgrange. Die Akropolis. Angkor Wat. Macchu Picchu. Knossos. Stein auf Stein auf Stein.«
»Ist ja echt aufregend«, sagt Cassie und verdreht die Augen, als sie aufsteht. »Ich mach mir einen Entkoffeinierten. Willst du auch einen?«
»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Haie lernen, wie man Brücken baut«, gebe ich zu bedenken. Aber der Kessel zischt schon, und sie kann mich nicht hören. Abgesehen davon hört sie nicht zu.
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