- -
- 100%
- +
»Stell deinen Fuß in den Trog, dann kühlt er schneller ab«, riet ich ihr.
Aber als sie ihn aus dem Schweinefraß zog, sah er noch schlimmer aus. Stinkend, mit Brandlöchern am Fuß, Strumpf und Schuh in der Hand, humpelte sie mit mir zur Krankenstation. Dort lag sie zwei Wochen. Jeden Abend ging ich sie besuchen. Um mit ihr reden zu können, musste ich zum Fenster hochklettern und mich am Gitter festhalten. Sie erfuhr von mir immer das Neueste vom Heim. Nach einiger Zeit, als ihr das Bein nicht mehr so weh tat, freute sie sich über die schulfreie Zeit und war nicht mehr böse auf mich.
Die Verpflegungstüte
Einmal holten mich meine Pflegeeltern erst am Sonnabend ab. Darüber war ich nicht traurig. Im Gegenteil, denn am Freitag hatte ich schon die Verpflegungstüte erhalten. Sie hatte jedes Mal den gleichen Inhalt: eine lange harte Wurst, 250 Gramm Butter und ein ganzes Brot. Diese Tüte erhielten neuerdings alle Kinder, die an den Wochenenden zu Pflegeeltern fuhren.
Bald darauf hatten fast alle Kinder Pflegeeltern. Ich glaubte nicht an die plötzlich aufkommende Kinderliebe, sondern daran, dass es an den Tüten lag, dass sich so viele Eltern fanden.
Mit meinen drei besten Freundinnen versteckte ich mich im Gebüsch, und wir rissen gierig die Tüte auf. Es machte wahnsinnigen Spaß, einfach in das Brot zu beißen. Endlich konnten wir uns mal richtig satt essen.
Wir bettelten oft vor Hunger bei den Küchenfrauen um Essen. Zwei von ihnen, Tante Meta und Tante »Lapaloma« (sie sang immer das Lied »La Paloma, ohé«), steckten uns manchmal etwas Essbares zu. Sie waren lustige dicke Frauen, die im Notfall aber auch ernst und streng sein konnten. Das restliche Küchenpersonal wechselte genauso häufig wie die Erzieher. Tante Meta und Tante Lapaloma gehörten zu uns, deswegen mochten wir sie sehr.
Am nächsten Tag sagte ich zu meinen Pflegeeltern, es habe keine Verpflegungstüte gegeben. Meine Pflegemutter fragte nicht bei den Erziehern nach. Von diesem Tag an hockten wir öfter mit den Tüten im Gebüsch. Jede von uns musste einmal ihre Tüte opfern.
Meine erste Banane
Wenn meine Pflegemutter Zeit hatte, fuhr sie mit mir nach West-Berlin, um Verwandte zu besuchen.
An eine Begebenheit erinnere ich mich noch genau. Ich fand auf der Straße einen Westgroschen. Stolz zeigte ich ihn ihr.
Sie nahm ihn und sagte: »Dafür bekommst du eine Banane.«
Für einen Zehner eine Banane, ich konnte es nicht glauben. An einem Marktstand kaufte ich tatsächlich eine Banane, es war meine erste. Sie schmeckte so gut, dass ich sie in Ruhe genießen wollte.
Als meine Pflegemutter merkte, wie langsam ich an der Banane herumkaute, herrschte sie mich an: »Beeil dich gefälligst, sonst muss ich den Kindern, wo wir hingehen, auch noch welche schenken.«
Da wusste ich, warum ich sie nie richtig leiden konnte: Sie mochte Kinder nicht.
Juri Gagarin
Am 12. April 1961 betrat mitten im Unterricht der Geschichtslehrer den Klassenraum. Wir erhoben uns von den Plätzen, er sagte: »Setzen!«
Dann tuschelte er leise mit der Klassenlehrerin. Erwartungsvoll schauten wir auf die zwei. Was würde jetzt Unerwartetes folgen?
Stolz sprach er zu uns: »Liebe Kinder! Es ist heute unserem Bruderland, der Sowjetunion, gelungen, ein bemanntes Raumschiff ins Weltall zu schicken. Juri Gagarin heißt der erste Kosmonaut dieser Erde.«
Alle Kinder klatschten vor Begeisterung. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, änderte die Lehrerin den Unterrichtsstoff. Es wurde über den Weltraum gesprochen, und wir stellten Vermutungen darüber an, wann der erste Mensch den Mond betreten würde. Dann sollten wir eine Wandzeitung basteln und eine Rakete malen. Die Jungs wollten plötzlich alle Kosmonaut werden, und ihre Disziplin im Unterricht besserte sich für kurze Zeit. Aber es dauerte nicht lange, und die Lehrer ärgerten sich wieder über uns.
Heimkinder konnte man für alles gebrauchen. Auch zum Spalierstehen. Eines Abends mussten wir unsere Pionierblusen anziehen und fuhren mit der S-Bahn zum Flughafen Schönefeld. Hinter einer roten Kordel stellte man uns schön in Reihe auf und erklärte uns: »Ihr habt die Ehre, Juri Gagarin zu verabschieden!«
Wir froren, und obendrein begann es zu nieseln. Ich verfluchte den »Helden der Sowjetunion«. Als er aber auf dem roten Läufer an uns vorbeikam und mir seine Hand gab, war ich doch stolz und hätte meine am liebsten nicht mehr gewaschen. So eine Ehrfurcht hatte ich noch nie gefühlt. So ist es mit dem »Heldentum«.
Die Mauer
Am 13. August 1961 wurde ich am frühen Morgen von meiner Pflegemutter geweckt.
»Kind, steh auf und fahr mit Reni ins Heim, die Grenzen werden zugemacht!«
Wir hatten bei einer Verwandten meiner Pflegemutter übernachtet, um den Geburtstag der Tante zu feiern. Reni, die Tochter der Tante, packte einige Sachen, nahm mich an der Hand und zog mich durch die Straßen zur S-Bahn. Überall sah ich viele Menschen, auf dem Bahnhof standen Polizeibeamte.
Die Polizisten hielten uns an. »Wo wollt ihr hin?«
»Die Kleine ist aus einem Heim in Ost-Berlin«, sagte Reni. Sie ließen uns gehen. Reni erklärte mir, ab welchem Bahnhof ich allein weiterfahren musste. Ich bekam Angst, dass ich mich verfahren könnte, und fing an zu weinen. Reni fand eine Frau im Zug, die bis Schöneweide fuhr und sich bereit erklärte, mich zu begleiten. Im Abteil redeten die Leute aufgeregt durcheinander, es fiel immer das Wort »Mauer«.
Ich verstand nicht, um was es ging, ich wollte nur schnell ins Heim zurück. Reni verabschiedete sich, die alte Dame versuchte, mich zu trösten. Dabei bemerkte ich, dass sie nur wissen wollte, weshalb ich im Heim war. Gespannt sahen nun die Leute im Abteil auf mich, für einen Moment schien ich wichtiger zu sein als die Mauer. Als sie jedoch merkten, dass ich nicht antwortete, redeten sie weiter. Ich schämte mich schrecklich, wenn mich Leute so mitleidig ansahen, und hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als den Fremden eine Antwort zu geben.
Die Alte tätschelte meine Wangen und sagte: »Armes Kindchen, Zeiten sind das! Wo soll das nur alles hinführen!«
Ich war erleichtert, als wir in den Bahnhof Schöneweide einfuhren, und verließ schnell den Zug.
Im Heim herrschte die gleiche Aufregung wie auf den Straßen. Die Erzieherinnen sahen verheult aus, größere Kinder mussten auf uns aufpassen. In den folgenden Tagen trafen viele neue Kinder ein. Eines Nachts wachte ich auf und hörte in der Dunkelheit ein Mädchen weinen. Leise stand ich auf und ging zu ihr ans Bett. Ich streichelte sie und redete tröstend auf sie ein. Ihre Eltern waren übers Dach nach West-Berlin abgehauen, als sie in der Schule war. Durch lustige Geschichten aus dem Heim versuchte ich sie aufzuheitern, sie beruhigte sich ein bisschen und schlief ein. Ich ging in mein Bett zurück und überlegte, was es so für Eltern gab, die ihre Kinder einfach im Stich ließen. Die Neuen kamen aus Familien, sie erzählten von Mutter und Vater, das fand ich interessant.
Ein Mädchen hatte ein Kofferradio, damit hörten wir den Suchdienst vom Deutschen Roten Kreuz. Ein anderes Mädchen hielt Wache an der Tür und warnte uns, wenn ein Erzieher kam. Dicht zusammengedrängt hockten wir um das kleine Radio und versuchten, trotz der schnarrenden Töne etwas zu verstehen. Aber wir lauschten vergeblich, denn es wurden nur Kinder gesucht, die während des Krieges verlorengegangen waren. Trotzdem hoffte jede, ihren Namen zu hören; auch ich glaubte, dass mich meine Mutter suchen ließ. Ich galt zwar als Waisenkind, wusste aber, dass meine Mutter lebte. Deswegen konnte ich nicht adoptiert werden und hatte nur Pflegeeltern. Mein Bruder sagte es mir einmal; woher er es hatte, wusste ich leider nicht mehr.
Bis 1961 waren im Heim Kinder, die ihre Eltern im Krieg oder auf der Flucht verloren hatten, also wirkliche Waisen, und außerdem Flüchtlingskinder vom Volksaufstand 1953. Danach füllten sich die Gruppen mit Kindern, deren Eltern in den Westen gegangen waren und sie einfach zurückgelassen hatten. In meiner Gruppe und der gesamten Klasse kannte kaum ein Kind seine Eltern.
Tina, die Neue, die nachts weinte, war sehr nett. Erst wollte sie ohne ihre Eltern nicht mehr leben, das machte mich sehr traurig. So schlimm fand ich es im Heim gar nicht. Oft saßen wir zusammen und redeten miteinander über ihre Familie. Dabei sah sie so glücklich und traurig zugleich aus, sie liebte ihre Eltern sehr. Aber ob es sich umgekehrt genauso verhielt, bezweifelte ich. Hätten sie sonst Tina verlassen? Meine Gedanken behielt ich für mich. Wenn ich Tina beim Erzählen zuhörte, wünschte ich mir auch ein richtiges Zuhause mit Vater und Mutter. Weil ich nicht wollte, dass sie länger traurig war, machte ich ihr den Vorschlag, zusammen mit ihr zu ihrem Bruder zu fahren.
Er war schon erwachsen und wohnte in der Gleimstraße, im letzten Hauseingang direkt an der Mauer. Hier sah ich die Schicksalsmauer, von der ich so viel gehört hatte, zum ersten Mal richtig. Sie trennte Berlin in zwei Stadtteile und damit ganze Familien, Freunde und Bekannte und auch Kinder von ihren Eltern. Weshalb und warum, ich wusste es nicht.
In der Schule bemühten sich die Lehrer, auf unsere Fragen eine Antwort zu finden. Sie erzählten immer wieder, dass sich im Westen alte Nazis versteckt hielten und dass die Menschen dort Feinde unseres Landes seien. Die Kapitalisten wollten uns nur ausbeuten und uns alles wegnehmen. Wir Zehnjährigen glaubten daran.
Die Mauer war noch nicht sehr hoch. Sie trennte einfach die Straße und zog sich durch einen Park mit einem Spielplatz. Wir gingen oft zum Schaukeln dorthin. Soweit ich sehen konnte, nahm die Mauer auch hier kein Ende.
Ich sagte gerade zu Tina: »Pass mal auf, deine Eltern werden dich bestimmt rüberholen«, als es plötzlich einen lauten Knall gab und sich stark beißender Rauch bildete. Wir sahen, wie Männer auf einen Baum kletterten und sich von den Ästen, die über die Mauer hingen, in den Westteil fallen ließen. Der Lärm wurde schlimmer, ebenso der Rauch. Ich dachte: Jetzt ist Krieg!
So schnell wir konnten, rannten wir zur Wohnung des Bruders. Auf der Straße begegneten uns Lastwagen, vollbesetzt mit Soldaten. Leute, die vorher noch friedlich an der Mauer gestanden und sich Grüße zugerufen oder mit Taschentüchern gewinkt hatten, liefen wie gehetzt davon. Dabei schrien oder heulten sie, jeder versuchte, sich in einen Hausgang zu retten.
Ich zitterte am ganzen Körper und weinte vor Angst. Von Haustür zu Haustür rannten wir längs der Mauer, wir wollten uns bei Tinas Bruder in Sicherheit bringen. Mir liefen die Tränen, ich konnte fast nichts mehr sehen.
Im Treppenhaus kam uns der Bruder entgegen. »Wo seid ihr gewesen?«, fragte er besorgt und erregt.
Unter Tränen erzählten wir, was auf der Straße los war. Er schob uns in die Wohnung.
An der Tür hielt ihn seine Frau mit den Worten zurück: »Bist du verrückt, geh nicht runter, die nehmen dich doch gleich mit.«
Der Krach ließ nach, wir beruhigten uns und hörten, wie der Bruder mit dem Nachbarn auf der Treppe darüber sprach, dass Leute von drüben Tränengas geschossen hätten, um den Ost-Berlinern das Abhauen zu erleichtern.
Als ich im Heim davon erzählte, fanden es die Mädchen aufregend und spannend.
Die nächsten Wochen durfte allerdings kein Kind das Heim verlassen. Der Wald war wegen der Grenznähe mit Soldaten besetzt. Regelmäßig versorgten sie sich im Heim mit Wasser, das sie in riesigen Kübelwagen holten. Am Heimtor hielten ältere Schüler in FDJ-Kleidung Wache. Ohne Kontrolle kam keiner herein und schon gar nicht hinaus. Die Begründung lautete: In dieser schweren Zeit ist unser Land in Gefahr, der Feind ist überall. Unser Spruch bei der Aufnahme in die Pionierorganisation, »Immer bereit«, fand in diesen Tagen seine Anwendung. Wir waren »immer bereit« für unseren Staat. Wachsamkeit war nun das höchste Gebot, jeder fremde Besucher konnte ein Feind sein.
Der Radiosender R IA S war plötzlich ein »Hetzsender« und genauso streng verboten wie der »Groschenroman«. Dass uns der Westen über das Fernsehen keinen »Schaden« zufügen konnte, verdankten wir dem schlauen Einfall eines Erziehers. Er überklebte am Gerät den Umschaltknopf mit Heftpflaster, und die Antenne verschwand.
Tina veränderte sich von Tag zu Tag. Meistens lag sie weinend auf ihrem Bett. Weder durch tröstende Worte noch durch Faxen konnte ich ihr helfen. Vergeblich wartete sie auf ein Lebenszeichen ihrer Eltern. Kein Brief, keine Karte; auch ihr Bruder wusste nichts Neues über ihren Verbleib.
»Ich will zu meiner Mami«, seufzte sie oft unter Tränen. Über Tinas Kummer sprach ich mit der Erzieherin, aber sie sagte nur: »Wenn Tina lange genug hier ist, wird sie sich schon einleben.«
Das hörte sich nicht gerade ermutigend an, und ich schloss daraus, dass Tina wohl noch lange Zeit im Heim bleiben musste. Ich sagte ihr lieber nichts davon. Tina lebte sich nicht ein.
Einmal kam ich dazu, wie sie sich einen Strumpf um den Hals band.
»Tina, was machst du da?«, schrie ich.
Meine Bemühungen, ihr den Strumpf abzunehmen, wehrte sie mit aller Kraft ab. Wie eine Wahnsinnige rief ich um Hilfe. Mädchen, die ins Zimmer stürzten, holten sofort die Erzieherin. Mit Gewalt hielten wir Tina fest und entfernten den Strumpf.
Sie kam ins Krankenhaus. Lange, bis in die Nacht hinein, dachte ich an Tina und was wohl mit ihr werden würde.
Tina kam nie mehr ins Heim zurück.
Stubenappell
Zur Einhaltung von Sauberkeit und Ordnung machte der Hausleiter mit den Pionieren vom Dienst Haus und Gruppenkontrollen. Das heißt, wir hatten »Appell«, jeden Freitag. Zehn bis sechzehn Mädchen standen in einer Reihe, kerzengerade ausgerichtet, auf dem Flur.
Wenn der Hausleiter mit den Pionieren vom Dienst am Flureingang erschien, rief unser Pionier vom Dienst: »Achtung, stillgestanden!« Und zum Hausleiter gewandt: »Die Gruppe ist bis auf einen vollzählig angetreten. Ein Mädchen liegt auf der Krankenstation.«
»Danke, rührt euch!«
Dann kontrollierten sie die Räume und Schränke. Wir wagten kaum zu flüstern. Bis der Rundgang zu Ende war, standen wir still in der Reihe. Gab es Mängel, zum Beispiel Staub unter einem Bett, hieß es: »In einer halben Stunde kommen wir wieder, bis dahin ist der Dreck weg!«
Die Schuldige hatte nichts zu lachen, ein Schwall von Beschimpfungen brach über sie herein. Anschließend redete keine mehr ein Wort mit ihr. Diese sogenannte »Kollektivstrafe« verfehlte ihre Wirkung in der Erziehung nicht. Bis die Gruppe »abgenommen« wurde, durfte kein Mädchen in den Ausgang, also nach Hause fahren.
Wir verrichteten die Ämter ziemlich gründlich, niemand wollte an den Verboten Schuld haben. Lag die Verschiebung des Wochenendausgangs an einem unordentlichen Schrank, leerte ihn der Pionier vom Dienst mit einer Armbewegung aus. Obwohl die »Schuldige« ihn wieder in Ordnung brachte, begann die Strafe nach dem zweiten Durchgang. Die Sachen wurden immer und immer wieder ausgeräumt, bis das Mädchen weinend zusammenbrach. In ihrer Verzweiflung fand sie weder Trost noch Schutz bei den anderen. Von solchen Strafen blieb ich verschont, da ich den Tagesablauf seit acht Jahren kannte.
Herbstferien
Wir nannten sie nur Kartoffelferien. In Einheitskleidung fuhren wir mit dem Zug in ein Dorf in der DDR oder in die »Zone«, wie man sie unter sich nannte. Unsere Unterkunft war meistens der Tanzraum einer Kneipe, der mit Matratzen ausgelegt wurde. Nachts bibberte ich vor Kälte, obwohl wir in den Sachen schliefen. Der eiserne Ofen hielt die Wärme genauso wenig wie die dünne, kratzige Wolldecke. Herbstlicher Nebel und feiner Nieselregen hinderten uns nicht daran, sehr zeitig auf dem Acker zu sein. Es machte mir nichts aus, mit den Händen die Kartoffeln aus dem Matsch zu klauben und die schweren Kiepen zur Sammelstelle zu schleppen. Dort wurden sie gewogen, und wir erhielten Marken, für die es später Geld gab. Aber die Kälte und die nassen Klamotten, die nie richtig trockneten, bewirkten, dass ich mich vor den Herbstferien fürchtete.
Für einige Erzieher war es eine besondere Freude, wenn sie uns zur Arbeit erziehen konnten. Denn immerhin lebten wir von den Geldern des Staates, wie sie es ausdrückten. Sie starteten einen Wettbewerb, um uns zur Arbeit anzuspornen.
»Wer die meisten Kiepen sammelt, wird Kartoffelkönig.«
Dreckig und frierend krochen wir Stunde um Stunde übers Feld. Erreichte unsere Stimmung so ziemlich den Nullpunkt, stimmten die Erzieher ein Lied an: »Heut ist ein wunderschöner Tag, die Sonne lacht uns so hell.«
Nach den Ferien bekam ich schreckliche Schmerzen in den Kniegelenken und konnte kaum gehen. Ich wurde auf die Krankenstation gebracht, musste viele Untersuchungen über mich ergehen lassen und bekam Medikamente und Kurzwelle. Danach brauchte ich nie mehr zum Kartoffeleinsatz zu fahren.
Eifersucht
Wieder einmal bekamen wir eine Neue. Der Hausleiter stellte sie uns bei einem Appell vor.
Paula, 13 Jahre alt, wirkte sehr selbstbewusst und nicht so schüchtern wie die meisten, wenn sie zum ersten Mal ins Heim kamen. Sie hatte braune Augen und lockiges Haar. Wie immer, wenn eine Neue kam, umringten wir sie, und sie musste erzählen, weshalb man sie ins Heim gebracht hatte. Ihre Mutter war gestorben, der Vater musste arbeiten. Niemand konnte sich um die vier Kinder kümmern.
Ich betrachtete sie beim Erzählen, fand, dass sie recht hübsch war, und ahnte nicht, dass ich mit ihr einmal ein ganz schlimmes Erlebnis haben würde.
Paula bekam oft Besuch von ihrem Vater und seiner Freundin. Sie hasste diese Frau, was keiner verstand. Uns beeindruckte sie durch ihre Erscheinung, sie war groß und langhaarig. Bald bemerkte ich, dass sie großes Interesse an Silke, einem Mädchen aus meinem Zimmer, hatte. Silke lebte so lange wie ich im Heim, sie kannte ihre Eltern auch nicht. Bald zeigte sie ebenfalls große Zuneigung zu dieser Frau. Es kam so weit, dass der Vater Paula besuchte und die Frau Silke. Nun steigerte sich Paulas Hass gegenüber ihrer zukünftigen Stiefmutter noch mehr.
Wir bewunderten diese schöne Frau. Bei Spaziergängen durch den Wald begleiteten wir sie und Silke. Jede von uns versuchte, mit der Frau ins Gespräch zu kommen, nur Paula nicht, sie lief immer ganz hinten.
Plötzlich flog der Frau ein Stein an den Kopf. Sie drehte sich lachend um, ließ sich den Schmerz nicht anmerken und rief: »Paula, komm nach vorn, wir können uns dann besser unterhalten.«
Paula rannte zu ihr und trat ihr kräftig in den Hintern. Sofort drehte sich die Frau um, da spuckte ihr Paula ins Gesicht und beschimpfte sie als Nutte, Hure und olle blöde Sau. Noch nie hatte ich die Wörter Hure und Nutte gehört, geschweige denn ihre Bedeutung kennengelernt. Ich merkte nur an Paulas Vater, wie schlimm sie waren, denn er gab ihr eine Ohrfeige, worauf sie weglief.
Betreten setzten wir den Spaziergang fort, bald war von diesem Zwischenfall keine Rede mehr. Aber es bildeten sich zwei Gruppen. Der eine Teil verstand Paula, der Rest der Mädchen Silke.
Silke tat mir genauso leid wie Paula, weil sie nie eine Mutter gehabt hatte. Paula hatte jetzt zwar eine neue Mutter, aber sie gab ihr die Schuld für ihren Heimaufenthalt. Dass die Stiefmutter sich nun auch noch einem fremden Mädchen zuwandte, machte bei Paula das Maß voll. Jeden Tag verprügelte sie Silke, zog sie an den Haaren, zerriss ihre Sachen und räumte ihr den Schrank aus. Dabei half die Clique von Paula kräftig mit.
Da ich Silke beistand, ließ sich Paula etwas ganz Besonderes einfallen. Es war an einem Nachmittag, wir spielten im Tagesraum. Plötzlich kam Paula mit ihrer Clique in den Raum und verkündete, wir sollten uns alle wieder vertragen. So richtig wussten wir nicht, was wir davon halten sollten, waren aber doch froh darüber, denn eine Spaltung in der Gruppe hatten wir noch nie.
Sie machte den Vorschlag, Turnsachen anzuziehen. Sie wollte uns dann zum Sport im Wald abholen. Wir waren begeistert und zogen uns um. Nach und nach holte sie jedes Mädchen einzeln. Da die Mädchen nicht zurückkamen, dachte ich, es sei alles in Ordnung. Paula fragte noch, ob ich den Schlüpfer unter der Turnhose ausgezogen hätte. Ich sagte: »Nein!« Sie verlangte, dass ich ihn ausziehe, aber das wollte ich nicht.
»Nun hab dich nicht so albern«, erwiderte sie und zeigte mir, dass sie auch keinen unter ihrer Turnhose trug. Da ich mich nicht zanken wollte, zog ich den Schlüpfer widerwillig aus.
Im Wald hatten die Mädchen eine Decke hingelegt. Wir machten erst gemeinsame Bodenübungen, dann sagte Paula zu mir: »Leg dich allein auf die Decke.«
Da mich alle Mädchen gespannt ansahen, ahnte ich nichts Gutes und fragte, was das werden solle. Paula legte sich auf die Decke und zeigte mir eine Brücke. Ich konnte auch im Sport keine Brücke aus dem Stand und weigerte mich.
»Hab dich nicht so, es wird schon gehen!«
Also legte ich mich hin und versuchte eine Brücke. Plötzlich stürzten sich alle Mädchen auf mich und versuchten, mir die Turnhose auszuziehen. Ich schrie und wehrte mich verzweifelt. Es war damals die Zeit, in der ich mich am meisten schämte. Mit meinen elf Jahren war ich groß und ziemlich weit entwickelt. In meiner Altersgruppe hatte noch kein Mädchen eine Brust oder Schamhaare. Durch meine Wut und Angst hatte ich mehr Kraft, als sie dachten. Da sah ich, wie hinter den Bäumen und aus den Büschen Jungs hervorkamen. In diesem Moment wusste ich, dass Paula alles so organisiert hatte. Die Jungs kamen johlend näher. Ich verspürte eine ungeheure Stärke in mir und schlug, kratzte, biss und spuckte. Die Turnhose hatten sie mir längst ausgezogen, da kam ich frei. Ich wusste, dass sie mir das Hemd ausziehen wollten, um mich nackt den Jungs zu zeigen. Ich sprang auf und schlug mit meiner ganzen Kraft Paula die Faust ins Gesicht. Soweit es ging, zog ich das Unterhemd herunter, rannte wie eine Wahnsinnige los. Bis zum Haus lief ich durch die Büsche, dann schaute ich mich um, es war kein Kind auf dem Weg. Schnell erreichte ich den ersten Hauseingang. Nun musste ich noch durch sämtliche Flure, um in meine Gruppe zu gelangen, die sich in der ersten Etage befand. Ich fror und zitterte vor Angst, von einem Kind gesehen zu werden, denn dann würde es am nächsten Tag das ganze Heim wissen. Ohne dass mir jemand begegnete, kam ich in meine Gruppe, lief ins Schlafzimmer, verkroch mich weinend unter meiner Decke und schwor mir, Rache zu nehmen, wenn ich älter sein würde.
Danach hatte ich öfter Alpträume – ich stand nackt im Wald, und wenn ich wegrennen wollte, kam ich nicht von der Stelle.
Ich brauchte aber gar nicht so lange auf meine Rache zu warten. Paula verknallte sich in meinen Bruder und wurde plötzlich nett zu mir. Ich sollte ihn ausfragen, wie er sie fände. Ich hatte meinem Bruder schon oft von Mädchen aus meiner Gruppe erzählt; wenn ich sie nicht leiden konnte, schilderte ich sie natürlich entsprechend. So erzählte ich ihm jetzt von Paula, wie bescheuert sie sei, und schwärmte gleichzeitig von einer anderen.
Mein Bruder und ich verstanden uns sehr gut, manchmal balgten wir uns auch in aller Freundschaft. Ich konnte sogar so weit gehen, ihn zu schlagen; er war zwar älter als ich und natürlich kräftiger, aber kleiner. Er hat sich nie gewehrt, er hatte mich zu lieb, das spürte ich. Außerdem gab es im Heim eine große Auswahl von Mädchen, und sich mit mir wegen einer zu streiten, dazu hatte er keine Lust. Wenn sich Paula nun aus Liebeskummer bei mir ausheulte, hatte ich meine Genugtuung.
Sie litt sehr unter der Nichtachtung meines Bruders und noch mehr, als er mit Uschi ging. Sie ließ dann ihre Eifersucht an Uschi aus, aber das war mir egal.
Schulalltag
Ich ging nicht gern zur Schule. Ich fühlte mich dort irgendwie eingesperrt. Meine Leistungen waren weder gut noch schlecht. Wie es mir gerade Spaß machte, lernte ich mal mehr oder mal weniger. Während des Unterrichts schaute ich lieber aus dem Fenster als auf die Tafel. Draußen sah ich die Kiefern mit ihren grünen Zweigen. Es gab Tage, an denen leuchtete der Himmel besonders blau. Das waren die Momente, in denen ich froh war zu leben und mir wünschte, es möge jeden Tag so einen blauen Himmel geben. Ich saß da, schaute aus dem Fenster und träumte von meiner Mutter. In solchen Augenblicken verzieh ich ihr, dass sie uns verlassen hatte.