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»Wir haben schon viel über diese Geschichte gelacht«, meint Bob mit einem breiten Grinsen. »Manchmal ist meine Perspektive, meine Reaktion auf Dinge das Einzige, worauf ich noch Einfluss habe. Das war jedenfalls einer dieser Momente.«
Auch Audrey hat etwas daraus gelernt. »Anscheinend lerne ich nur dann wirklich etwas, wenn mir nichts mehr anderes übrig bleibt, als mich an Gott zu wenden«, gesteht sie. »In dieser Nacht lernte ich, wie wichtig es ist, alle meine Sorgen auf Gott zu werfen. Sie gehören ihm, und ihm kann ich absolut vertrauen. Und natürlich habe ich auch gelernt, dass man immer erst durchzählen sollte, bevor man wieder weiterfährt.«
4 Lektionen auf dem Eis
Neulich ging ich zu einem Boxkampf, und dann wurde plötzlich ein Eishockeyspiel daraus.
RODNEY DANGERFIELD
Als kleiner Junge war ich fest davon überzeugt, dass die Erwachsenen mich tot sehen wollten. Zum einen haben sie mich in die Welt des Eishockeys eingeführt (ein Spiel für steif gefrorene Menschen, die bereit sind, alles zu tun, um wieder warm zu werden). Sie haben uns scharf geschliffene Kufen an die Füße geschnallt, uns Stöcke und ein hartes Gummigeschoss, auch Puck genannt, in die Hand gedrückt, und uns dann auf glattes Eis gestellt. Und was haben sie dann gemacht? Sie haben sich hinter einem Schutzzaun versteckt, um zu beobachten, was dann passiert. Über die Jahre brach ich mir beim Eishockey zweimal die Nase (der kleine Trainingsunfall aus Kapitel 2 nicht mitgerechnet). Im Laufe der Zeit hatte ich mir jede einzelne Rippe irgendwann einmal gebrochen. Aber ich begann, dieses Spiel wirklich zu lieben.
Seit ich dem Schiedsrichter bis zum Knie reichte, war ich schon sportbegeistert.
In Kanada, wo ich aufgewachsen bin, ist Eishockey Staatsreligion. Kinder und Erwachsene gehen gleichermaßen einmal in der Woche, manchmal sogar jeden Tag zum Gottesdienst in die örtliche Eishalle und beklagen sich nie, dass die Predigt zu lang ist. Im Winter zog ich mir jeden Morgen die Schlittschuhe an, stolperte die Straße hinunter, dass die Funken in alle Richtungen sprühten, bis ich zu unserer Freiluft-Eisfläche kam. Dort lernte ich schon mit drei Jahren, mit den Großen Hockey zu spielen. Ich lernte, mich mit dem Puck zwischen den besten Spielern hindurchzuschlängeln und mit größter Präzision zu schießen. Ich lernte auch, wie man mühelos über eine Eisfläche gleitet, manchmal auch auf dem Po, oder ich krachte Kopf voraus in die Bande und wachte erst am nächsten Mittwoch verwirrt wieder auf.
Vielleicht liegt es daran, dass ich den Puck ein paar Mal zu oft abbekommen habe, aber ich vermisse diese Zeiten.
Damals war Samstag Badetag. Vom Ältesten bis zum Jüngsten stiegen wir der Reihe nach in die Badewanne, um uns den Dreck der ganzen Woche vom Leib zu schrubben. Das war eine der Gelegenheiten, bei denen es nicht von Vorteil war, der Jüngste zu sein. Bis ich an der Reihe war, war das Wasser, vorsichtig ausgedrückt, schon ziemlich trüb, und ich konnte es kaum erwarten, mich im Wohnzimmer mit den anderen ums Radio zu setzen und den kanadischen Eishockeyspielen zu lauschen. Oh, wie ich das Grölen der Menge liebte. Und die Spannung in der Nachspielzeit. Wenn die Namen der Spieler genannt wurden, weckte das Träume von Ehre und Ruhm: Gordie Howe, Frank Mahovlich, Bobby Orr, Phil Callaway. Ich stellte mir tatsächlich vor, wie der Kommentator mit aufgeregter Stimme hastig rief: »Es ist Callaway, der da übers Eis saust … er durchbricht die Verteidigung … er schießt … Toooooor! Oh Mann, so etwas Aufregendes habe ich nicht mehr gesehen, seit die Alliierten in der Normandie einmarschiert sind!«
Ich war mir ganz sicher, dass das meine Bestimmung war, und verfolgte meinen Traum mit vollem Einsatz.
Schon bald spielte ich in einer echten Mannschaft, in einem echten Eisstadion, mit echten Helmen, um unsere echt harten Schädel zu schützen. Während der Rest der Welt noch schlief, gingen wir jeden Samstagmorgen in eine leere Eishalle, um zu spielen. Manchmal schaute ich dann zu der leeren Zuschauertribüne auf und stellte fest, dass sie gar nicht so leer war. Mein Vater war da. Irgendwie hatte er nach einer anstrengenden Arbeitswoche noch die Kraft aufgebracht, sich aus dem Bett zu wälzen, um mir zuzuschauen. Mein Vater schien zu glauben, dass ich mehr Talent hatte als die Toronto Maple Leafs und die New York Rangers zusammen, und das ließ er auch alle wissen, indem er laut schrie, wenn ich ein Tor schoss (was in jenem Jahr zweimal vorkam) und mit seinen großen Lederhandschuhen klatschte.
Ich sehnte mich so sehr danach, seine Handschuhe zu hören, und konnte es kaum erwarten, als Profi zu spielen. Dann würde ich Mama und Papa zu den Spielen fliegen lassen, ihnen Karten in der ersten Reihe kaufen, direkt hinter den Spielerbänken. Sie könnten dem Trainer bei schwierigen Entscheidungen helfen.
In jenem Jahr gewannen wir nur ein Spiel (weil der Torwart der gegnerischen Mannschaft nicht kam), aber mein Vater hat mir immer Mut gemacht.
»Mein Sohn«, sagte er immer auf dem Heimweg vom Eisstadion, während er meine schwere Ausrüstung trug und ich den Hockeyschläger, »du bist nicht der Erste, der gegen eine Wand rennt.« Dann zählte er alle möglichen Menschen aus der Geschichte auf, die zunächst versagt hatten: Thomas Edison machte zweitausend vergebliche Versuche, bevor er die Glühbirne erfand. Henry Ford ging fünf Mal pleite, bevor es ihm gelang, ein Auto zu bauen.
»Aber Papa«, widersprach ich, »unser Ford Meteor springt nicht an. Deshalb gehen wir ja zu Fuß.«
»Mein Sohn«, sagte er unbeirrt, »mach dir darüber keinen Kopf. Du musst es nur machen wie die Briefmarke: Du musst einfach dranbleiben, bis du am Ziel bist.«
In der zehnten Klasse blieben wir dran, hatten unsere erste siegreiche Saison und gewannen die Bewunderung von ein paar Hundert Teenager-Mädchen. Dieses Jahr war ein Meilenstein für mich. Es geschah etwas, das meine Zukunftsträume für immer veränderte.
Das war so.
Ende März. Das Endspiel. Es war ein Ereignis von solcher Bedeutung für unsere kleine Stadt, dass unser Eisstadion mit Millionen, oder zumindest einigen Hundert Zuschauern gefüllt war, die ihre Stars sehen wollten. Als ich durch den Türspalt der Umkleidekabine nach draußen spähte, hatte ich das sichere Gefühl, dass das mein ganz großer Abend würde. Das jahrelange Training würde sich jetzt auszahlen. All die Zuschauer, die auf dem Schwarzmarkt ihre 25 Cent für die Karte bezahlt hatten, würden nicht enttäuscht werden.
Aber im Verlauf des Spiels schmolzen meine Träume immer mehr dahin. Als die Uhr die letzte Spielminute anzeigte, verwandelte sich mein Traum sogar immer mehr in einen Albtraum. Wir lagen 3:2 zurück, als ich aufs Spielfeld ging. Jeden Moment würde die Schlussglocke ertönen und das Spiel zu Ende sein. Wir brauchten ein Wunder. Wir brauchten Phil Callaway.
Und so nahm ich einen Pass aus der Ecke an und schoss den Puck geschickt am Torwart vorbei, der sich der Länge nach aufs Eis warf. Das rote Licht leuchtete auf und die Mädchen drehten durch. Es stand unentschieden, und ich war der Held. Ich hatte das Tor meines Lebens geschossen.
Nur ein Tor konnte noch schöner sein: das Siegtor in der Nachspielzeit.
Während ich in der Umkleidekabine saß und darauf wartete, dass das Eis präpariert wurde, spähte ich durch den Türspalt in die Zuschauermenge. Macht euch bereit, ihr Glücklichen. Heute ist mir das Schicksal wohlgesonnen. Heute ist mein Tag. Ihr werdet noch Jahre an mich denken. Als ich letzte Woche das leere Tor nicht getroffen habe, habt ihr mir Mut gemacht und zugerufen:
Ist schon recht. Ist okay.
Wir lieben dich trotzdem, Callaway.
Aber heute Abend wird das nicht vorkommen. Heute brauche ich euer Mitleid nicht. Heute will ich nur euren Beifall. Donnernden, überschwänglichen, bewundernden Beifall.
Und tatsächlich erzielte ich nach etwa fünf Minuten Nachspielzeit das Siegtor. Dieser Moment ist in meiner Erinnerung jederzeit abrufbar, manchmal sogar in Zeitlupe. Der Puck rutschte auf das Tor zu, ich hechtete vorwärts und versuchte verzweifelt, sein Ziel zu besiegeln. Die Zuschauer sprangen auf, als ich den Puck über die Torlinie schob.
Die rote Lampe leuchtete auf.
Die Zuschauermenge grölte.
Die Mädchen schrien.
Aber sie jubelten nicht wegen mir.
Ich hatte nämlich soeben ein Eigentor geschossen.
An die nächsten sechs oder sieben Jahre meines Lebens kann ich mich kaum noch erinnern. Ich weiß noch, dass ich schnurstracks in die Umkleidekabine geflüchtet bin und mir ein weißes Handtuch über den Kopf geworfen habe. Und ich kann mich noch an die Kommentare erinnern: »Mach dir keinen Kopf, okay? Das hätte jedem passieren können … wenn er so unkoordiniert ist.«
Ich zog mir das Handtuch über die Ohren, um das Gelächter nicht zu hören. Dann zog ich meine Schlittschuhe aus und hängte sie an den Nagel – für immer.
Ich konnte nicht wissen, dass Basketball-Star Michael Jordan aus seiner Schulmannschaft fliegen würde, dass Louis L’Amours erster Western von 350 Verlegern abgelehnt wurde, oder dass Albert Einstein einfache mathematische Gleichungen nicht lösen konnte (seine Frau half ihm bei der Steuererklärung). Es hätte mir vielleicht geholfen zu wissen, dass der Manager der Radioshow Grand Ole Opry zwölf Jahre zuvor einen Nachwuchssänger nach einer Vorstellung rausgeschmissen und ihm geraten hatte, wieder Lastwagenfahrer zu werden. Aber Elvis Presley wurde trotzdem Sänger.
Doch in jener Nacht dachte ich nicht an Elvis.
Ich verließ nur vollkommen erschüttert das Eisstadion.
Als ich nach Hause kam, ging ich geradewegs in mein Zimmer. Mein Vater hatte wegen einer heftigen Grippe nicht zum Spiel kommen können.
»Wie war es?«, fragte er, als er in der Tür zu meinem Zimmer stand. Er studierte mein blasses Gesicht und ahnte die Antwort schon.
»Ach, Papa«, sagte ich mit gesenktem Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen. Du bist ohnehin schon krank.«
Ich ließ mich aufs Bett fallen, verschränkte die Hände hinterm Kopf und starrte an die Decke. Mein Vater kam herein, setzte sich neben mich aufs Bett und sagte nichts.
»Hast du schon mal was so Dummes gemacht, dass du dir sehnlichst gewünscht hast, die Zeit um 24 Stunden zurückdrehen zu können und den Tag noch mal von vorne anzufangen?«, sagte ich.
»Na ja«, meinte mein Vater, »ich habe einmal mit einer 22er den Scheinwerfer des alten Mr. Henderson zerschossen … und dann habe ich …«
Zum ersten Mal seit Jahren unterbrach ich meinen Vater mitten im Satz. Dann setzte ich mich auf, vergrub das Gesicht in den Händen und erzählte ihm alles: wie schockiert die Zuschauer waren, wie peinlich es in der Umkleidekabine war, mein Spiel, an das man sich zu meiner Schande für immer erinnern würde. Ich wagte nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Das Gesicht eines stolzen Vaters, der große Träume für seinen jüngsten Sohn gehabt hatte.
Eine Minute lang herrschte Schweigen. Dann legte mein Vater mir die Hand aufs Knie und tat das Letzte, was ich in diesem Moment erwartet hätte: Er fing an zu lachen.
Und ich konnte kaum glauben, was ich dann tat … Ich lachte mit ihm.
Es war das Letzte, mit dem wir beide gerechnet hätten, aber es war das Beste, was wir tun konnten.
Inzwischen sind mehr als 20 Jahre vergangen, seit Vater und ich auf meiner Bettkante gesessen und zusammen gelacht haben. In meiner Erinnerung ist es der Abend, an dem ich beschloss, wieder Eishockey zu spielen. Ich spiele selbst heute noch Eishockey. Mit den Jahren ist es mir sogar gelungen, ein paar Tore zu schießen – und zwar ins richtige Tor. Aber keines dieser Tore war je so denkwürdig wie jenes Tor in der Nachspielzeit. Es wird mich mein Leben lang daran erinnern, dass die größten Siege im Leben oft in unseren Niederlagen errungen werden.
Noch Jahre danach wachte ich manchmal nachts schweißgebadet auf, weil ich von jenem Tor in der Nachspielzeit geträumt hatte, aber sobald ich mich dann an die Hand meines Vaters auf meinem Knie erinnerte, musste ich von einem Ohr bis zum anderen grinsen. An jenem Abend habe ich etwas entdeckt, das selbst die schwersten Lasten leichter erscheinen lässt.
Es ist die einfache Tatsache, dass ich einen Vater habe, der mich liebt, ganz gleich, was ich getan habe, ganz gleich, wo ich war, ganz gleich, wie schlimm es gerade steht. Jesaja hat das sehr schön ausgedrückt:
Berge mögen einstürzen und Hügel wanken,
aber meine Liebe zu dir wird nie erschüttert …
Das verspreche ich, der Herr, der dich liebt!
JESAJA 54,10
Ich habe es schon tausendfach erlebt. Diejenigen, die wissen, wo man sie findet, entdecken auch angesichts überwältigender Tragödien oder unüberwindlicher Hindernisse Freude. Mein Vater war sich dessen vielleicht nicht bewusst, aber an jenem Abend hat er mir einen Einblick in das Wesen meines himmlischen Vaters gegeben, der von unschätzbarem Wert ist. Er hat mir sein Mitgefühl, seine Vergebungsbereitschaft und seine Gnade gezeigt. Er hat mir einen himmlischen Vater gezeigt, der verrückt ist nach seinen Kindern, und der gerne lacht.
5 Die Entscheidung
Der Unterschied zwischen den Menschen ist gering,
aber dieser kleine Unterschied macht den großen
Unterschied. Der kleine Unterschied ist ihre Einstellung.
Der große Unterschied ist, ob sie positiv ist oder negativ.
CLEMENT STONE
Wenn Sie mich einmal sonntagnachmittags zu sich nach Hause einladen, werden Sie ganz schnell eine meiner störendsten Angewohnheiten kennenlernen. Nein, ich esse nicht zu viel (es sei denn, es gibt Pizza). Ich kaue auch nicht an meinen Fingernägeln (es sei denn, wir schauen uns zusammen ein Baseball-Meisterschaftsspiel an). Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass wir gerade zusammen bei Ihnen im Wohnzimmer sitzen und Tee trinken, wenn mein Kopf sich plötzlich zur Seite neigt und meine Augen die Wand hinter Ihnen anstarren. Nicht, dass ich Sie ignoriere oder am Einschlafen bin. Ich betrachte einfach nur Ihr Bücherregal.
Dieses problematische Verhalten habe ich schon in frühester Kindheit entwickelt. Wahrscheinlich könnte mir ein guter Psychologe helfen, aber ich weiß, dass mein Vater daran schuld ist. Mein Vater hatte damals einen Buchladen, und bei uns daheim waren die Wände voll mit Büchern. Wir hatten im Flur Bücher, in der Küche, in meinem Zimmer. Manchmal landeten sie sogar in der Badewanne oder auf dem Dach. Ich bin heute noch davon überzeugt, dass mein Hals rechts kürzer ist als links, weil ich jeden Abend mit verdrehtem Kopf im Bett lag und die Buchtitel las, bis das Licht ausging. Die Schatzinsel. Charles Spurgeons Predigtnotizen. Alice im Wunderland. Foxes Buch der Märtyrer. Als ich fünf war, habe ich einmal fünf blau eingebundene Hardy-Bücher in einen Heizlüfter gestopft. Ich weiß heute noch nicht, warum ich das getan habe. Aber niemand hat sie vermisst. Bei den Callaways gab es nie viel Geld, aber dafür jede Menge Bücher.
Die Bücher mit Kurzgeschichten hatte ich am liebsten. Vielleicht lag es daran, dass ich das Musterbeispiel für ein ADS-Kind war (fragen Sie nur mal Mrs. Dolson, meine Lehrerin in der dritten Klasse). Aber auch heute noch mag ich kaum etwas lieber, als an einem Winterabend mit einer Tasse heißer Schokolade vor einem knisternden Kaminfeuer zu sitzen und Kurzgeschichten zu lesen. Ganz gleich ob Science-Fiction, Krimi, Abenteuergeschichte – es hat etwas ungeheuer Befriedigendes, wenn man in nur vier oder fünf Minuten unterhalten, überrascht und herausgefordert wird.
Kurz nach meinem Les Misérables-Wochenende mit Ramona gab mir ein Freund eine Geschichte, die das alles sehr schön fertigbrachte. Es war die Geschichte von Jerry.
Jerry ist die Art von Mensch, der man gerne beim Einkaufen begegnet. Er hat immer ein freundliches Wort, einen Witz oder zumindest ein Lächeln bereit. Es braucht nicht viel, um ihn zum Lächeln zu bringen. Jerry freut sich schon, wenn alle Räder seines Einkaufswagens in die gleiche Richtung laufen. Wenn man ihn fragt, wie es ihm geht, dann antwortet er höchstwahrscheinlich: »Wenn es mir noch besser ginge, müssten aus mir Zwillinge werden!«
Es kommt selten vor, dass die Mitarbeiter ihrem Chef folgen, wenn er den Arbeitsplatz wechselt, aber bei Jerry war das der Fall. Sie liebten seine Einstellung. Jerry ist ein Ermutiger und merkt sofort, wenn jemand einen schlechten Tag hat. »Sehen Sie es einmal positiv«, sagt er. »Wenn Ihnen die Sonne ins Gesicht scheint, müssen Sie öfter niesen. Das ist gut für Sie.«
Eines Tages fragte ihn einmal ein Freund: »Ich verstehe das nicht, Jerry. Du kannst doch nicht immer nur gut drauf sein. Wie machst du das?«
Jerry erwiderte: »Jeden Morgen, wenn ich aufwache, sage ich zu mir selbst: ›Jerry, du hast heute die Wahl: Du kannst gute Laune haben, oder du kannst schlechte Laune haben.‹ Dann entscheide ich mich für die gute Laune. Jedes Mal, wenn etwas Schlimmes passiert, habe ich die Wahl, das Opfer zu sein, oder etwas aus der Situation zu lernen. Ich entscheide mich dafür, etwas daraus zu lernen. Jedes Mal, wenn jemand sich bei mir beklagt, habe ich die Wahl, mitzujammern, oder auf die positiven Dinge des Lebens hinzuweisen. Ich entscheide mich für das Positive.«
»Ja schon«, wandte sein Freund ein, »aber ganz so einfach ist es auch nicht.«
»Oh doch, ist es«, sagte Jerry. »Im Leben geht es immer um Entscheidungen. Wenn man mal alles andere außen vor lässt, ist jede Situation eine Entscheidung. Wir haben die Wahl, wie wir auf eine bestimmte Situation reagieren wollen. Wir haben die Wahl, welchen Einfluss andere Menschen auf unsere Stimmung haben. Wir haben die Wahl, gute oder schlechte Laune zu haben. Du hast die Wahl, wie du dein Leben leben willst.«
Eines Tages ließ Jerry die Hintertür seines Restaurants offen stehen, ohne zu ahnen, dass seine Theorie gleich aufs Äußerste auf die Probe gestellt werden würde.
An diesem Tag kamen drei Einbrecher herein und bedrohten Jerry mit einer Pistole. Als er versuchte, den Safe zu öffnen, rutschte Jerrys Hand vor Nervosität vom Zahlenschloss ab.
Die Einbrecher gerieten in Panik.
Und schossen auf ihn.
Jerry kam sofort in die nächste Unfallklinik. Nach einer 18-stündigen Operation und mehreren Wochen auf der Intensivstation wurde er schließlich aus dem Krankenhaus entlassen. Splitter der Kugeln steckten immer noch in seinem Körper. Später einmal fragte ihn sein Freund, wie es ihm gehe. Jerry erwiderte: »Wenn es mir noch besser ginge, müssten aus mir Zwillinge werden … willst du mal meine Narben sehen?«
Sein Freund lehnte dankend ab, fragte aber: »Was ist dir durch den Kopf gegangen, als die Einbrecher vor dir standen?«
»Als Erstes habe ich daran gedacht, dass ich die Tür nicht abgeschlossen hatte«, erwiderte Jerry. »Als ich dann am Boden lag, musste ich daran denken, dass ich zwei Möglichkeiten hatte: Ich hatte die Wahl zu leben oder zu sterben. Also habe ich mich entschieden zu leben.«
»Hattest du keine Angst?«, fragte sein Freund.
Oh doch, Jerry hatte Angst. »Aber die Rettungssanitäter waren super«, erzählte er seinem Freund. »Sie sagten mir immer wieder, dass alles gut werden würde. Aber als sie mich in die Notaufnahme schoben, und ich den Ausdruck auf den Gesichtern der Ärzte und Schwestern sah, bekam ich wirklich Angst. In ihren Augen war zu lesen: ›Der Mann ist so gut wie tot.‹ Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste.«
»Was hast du getan?«
»Nun, eine große, kräftige Schwester rief mir Fragen zu. Sie fragte, ob ich gegen irgendetwas allergisch sei, und ich antwortete: ›Ja!‹«
Die Ärzte und Schwestern hielten inne und sahen ihn mit sorgenvollen Gesichtern an.
Jerry holte tief Luft und sagte laut: »Ich bin allergisch gegen Kugeln!«
In ihr Gelächter hinein sagte Jerry: »Operieren Sie mich so, als sei ich lebendig, und nicht so, als sei ich tot.« Und das taten sie.
Heute arbeitet Jerry immer noch in der Gastronomie. Seine Mitarbeiter folgen ihm immer noch von einem Arbeitsplatz zum nächsten, genießen seine ermutigende Art und lernen von seinen positiven Ratschlägen. Jerry würde Ihnen heute ohne zu zögern sagen, dass er nur durch das Geschick einiger Ärzte, Schwestern und Rettungssanitäter noch am Leben ist. Aber wenn Sie sich eine Weile mit ihm unterhalten haben, merken Sie, dass er auch wegen seiner bewundernswerten Einstellung noch am Leben ist.
Joni Eareckson Tada, die seit einem Badeunfall querschnittsgelähmt ist, würde Jerrys Einstellung befürworten. Ich hatte das Vorrecht, mich schon mehrmals mit Joni zu unterhalten, und dabei sagte sie mir einmal: »Leid hat ein ungeheuer positives Potenzial, aber es kann auch zerstören. Durch Leid können Familien zusammenwachsen und vereint werden, aber es kann Familien auch durch Selbstsucht und Bitterkeit zerstören … Es kommt ganz darauf an – auf uns und darauf, wie wir reagieren.«
Ich bin genau wie Jerry – genauso allergisch gegen Kugeln (der Fachausdruck dafür ist Ballistophobie). Und ich kann mir genauso wenig wie Jerry aussuchen, wann und wo sie mich treffen. Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich kann es nicht. Das Einzige, was ich bestimmen kann, ist meine Reaktion, meine Einstellung und wie ich damit umgehe.
Wie ist das bei Ihnen? Wie reagieren Sie auf die Kugeln, die Sie im Leben treffen? Oder auf die Kakteen?
In Sprüche 17,22 heißt es: »Ein fröhliches Herz ist die beste Medizin, ein verzweifelter Geist aber schwächt die Kraft eines Menschen.«
Wofür entscheiden Sie sich heute? Für ein fröhliches Herz? Oder für einen verzweifelten Geist, der Sie schwächt?
Eines Abends an Thanksgiving konfrontierte mich mein Sohn Jeffrey direkt mit dieser Frage.
6 Thanksgiving im finsteren Tal
Wir haben jeden Moment im Leben die Möglichkeit,
uns für ein dankbares Herz, eine gnädige Einstellung
und eine freudige Haltung zu entscheiden.
TIM HANSEL
In Alberta wird es früh Herbst. Die Apfelbäume sind voller kleiner Äpfel, so rot wie die Abendsonne, und die Zweige hängen bis zum Boden. Die ehemals grünen Felder liegen kahl da und erinnern mit ihren goldenen Stoppeln an wärmere Tage. Ein paar Stunden nach dem traditionellen Truthahnessen lag ich mit drei Kindern auf mir auf dem Sofa und las ihnen die Geschichte vom barmherzigen Samariter vor. Ramona kam herein, rief mich, bekam wieder einen Anfall und stürzte zu Boden. Sie war bewusstlos, und ich trug sie ins Schlafzimmer, um den Kindern den schlimmen Anblick zu ersparen. Später, als sie schlief, nahm ich die Kinder in den Arm, weinte mit ihnen und versuchte so gut wie möglich, ihre Fragen zu beantworten.
»Wird Mama sterben?«, fragte Jeffrey, unser Jüngster.
»Das weiß ich nicht, mein Schatz«, gab ich zu. »Aber eines weiß ich: Gott wird immer da sein, und ich werde auch bei euch sein.«
»Was hat sie?«, fragte Stephen.
»Das wissen wir nicht genau. Aber die Ärzte versuchen, es herauszufinden.«
Später, nachdem ich ihre Fragen beantwortet hatte, lag ich mit meinen eigenen Fragen im Kopf wach. Ich bin zwar Humorist, aber manchmal finde ich das Leben gar nicht zum Lachen. Warum lässt Gott uns durch so viele Täler gehen? Und wie sollen wir dankbar sein, wenn die Berggipfel im Nebel verschwinden?
Um halb eins stand eine kleine Gestalt in der Tür. Durch die Nachtbeleuchtung im Flur erkannte ich nur Jeffreys Umrisse. »Ich kann nicht schlafen, Papa«, sagte er. Da ich in sechs Stunden ohnehin wieder aufstehen musste, taumelte ich verschlafen aus meinem schönen warmen Bett und ließ meine schöne warme Frau zurück, um ihn wieder ins Bett zu bringen, an dem ich mir den Zeh anstieß. Dann sagte ich mit einer Stimme, die drei Oktaven zu hoch war, zu ihm: »Jeffrey, denk mal an 100 Dinge, für die du dankbar bist.« Dieses Spiel hatten wir schon öfter gespielt.
Er sah mich verschlafen an, kratzte sich den Kopf und fragte: »Was denn, Papa?«
Ich dachte einen Moment lang nach. »Na ja, mich zum Beispiel. Bist du dankbar für deinen Papa?«
»Ja«, sagte er. »Außer jetzt, da bist du nicht gut drauf.«
Ich vergrub mein Gesicht an seiner Brust, drückte ihn an mich und hörte ihn lachen.
»Tut mir leid, mein Sohn.«
Jeffrey streichelte mir über meine beginnende Glatze. »Ist schon in Ordnung.«