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Als Greti ein Jahr nach Hildi die Matura machte, wagte sie es allerdings nicht, den Vater zu fragen, ob sie wie die Freundin in Bern studieren dürfe.374 Aus der innigen Verbindung wurde eine Brieffreundschaft, die die beiden auch dann noch aufrecht erhielten, als Hildi einige Jahre später mit ihrem Mann nach Amerika zog und eine Familie gründete. Sie wurde Dozentin, er Professor an der Universität von Chatanooga (Tennessee). Bis ins hohe Alter schrieben sich die beiden Freundinnen.
Möglicherweise wäre Joos Roffler ebenso eifersüchtig gewesen, hätte er entdeckt, dass seine Tochter einen Mann liebt. Schliesslich reagierte er auch auf Gian, der kurze Zeit später in Gretis Leben trat, mit Eifersucht. Fest steht jedoch auch: Die Selbstverständlichkeit, mit der Greti und ihre Freundinnen Frauenbeziehungen lebten, teilte er nicht. Damit war er ganz Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, während in der Flammenkrankheit der Internatsschülerinnen die Kultur romantischer Frauenfreundschaften des neunzehnten Jahrhunderts nachzuwirken scheint. Die österreichische Historikerin Hanna Hacker stellt fest, dass innige Verhältnisse jedenfalls unter bürgerlichen und adeligen Frauen mindestens bis ins späte neunzehnte Jahrhundert kulturell nicht geächtet, sondern vielmehr unterstützt und gleichsam zelebriert wurden.375
Caroll Smith-Rosenberg, die Frauenbeziehungen im neunzehnten Jahrhundert in Nordamerika anhand von Briefen analysiert hat, schreibt: Die wesentliche Frage ist nicht, ob diese Frauen Geschlechtsverkehr miteinander hatten und so als hetero- oder homosexuell definiert werden können. Die Tendenz des zwanzigsten Jahrhunderts, Liebe und Sexualität im Rahmen einer dichotomisierten Welt von abweichendem und normalem Verhalten, von genitaler und platonischer Liebe zu sehen, ist den Gefühlen und Einstellungen des neunzehnten Jahrhunderts fremd und vermittelt ein von Grund auf verzerrtes Bild von den emotionalen Beziehungen dieser Frauen. Diese Briefe sind wichtig, weil sie uns zwingen, solche Liebesbeziehungen in einem bestimmten historischen Kontext zu situieren.376 Ab Ende des neunzehnten Jahrhunderts begannen sich Ärzte und Psychiater mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen zu beschäftigen und entwickelten den Begriff Homosexualität. Diese neue öffentliche Aufmerksamkeit brachte betroffene Frauen – und Männer – in die Defensive.
Dreissig Jahre, bevor Greti ihre Freundschaft zu Hildi rechtfertigte, hatte sich eine andere Bündnerin gegen ähnliche Vorwürfe gewehrt: Meta von Salis, geboren 1855 im Schloss Marschlins in Igis, anderthalb Kilometer vom Pfarrhaus entfernt, in dem Greti später aufwuchs.377 Als junge Erwachsene pflegte die Adlige eine schwärmerische Freundschaft zur Deutschen Theo Schücking. Die beiden Frauen besiegelten ihre Beziehung mit Blut und einem Ring und malten sich ein gemeinsames Leben aus. Ihre Wege trennten sich allerdings bald.378 Kurz darauf begegnete Meta von Salis an der Universität Zürich, wo sie später als erste Frau in Geschichte promovierte, der Fotografin Hedwig Kym, Tochter des Professors Ludwig Kym.379 Meta und Hedwig wurden Freundinnen fürs Leben. Sie unternahmen zahlreiche Reisen miteinander und waren in der Frauenbewegung aktiv.380 Auch andere ledige Akademikerinnen ihrer Generation lebten als Freundinnen zusammen, etwa die Ärztin Caroline Farner und ihre Lebensgefährtin Anna Pfrunder. Meta von Salis beschrieb die Frauenfreundschaft als Phänomen ihrer Zeit.
Solange die Frau eine abhängige, gänzlich von der Familie bestimmte, in ihr begrenzte Stellung einnahm, konnte Freundschaft in dem weiten und tiefen Sinn (…) bei Frauen gar nicht aufkommen. Sie entstand nicht, weil ihr die Lebensbedingungen, Handlungsfähigkeit und Handlungsfreiheit fehlten. Kaum waren diese durch die berufliche Ausbildung und um sich greifende Befreiung der Frauen von männlichen Vormündern, Brüdern und Schwägern gegeben, so zeitigten sie auch die köstliche Frucht der Freundschaft à toute épreuve zwischen Frauen.381
Diese Freundinnenpaare waren gesellschaftlich respektiert – solange sie niemandem in die Quere kamen. Als Caroline Farner und Anna Pfrunder Mitte der 1880er-Jahre zwei Waisenkinder aus Pfrunders Verwandtschaft bei sich aufnahmen, zerrte sie ein Onkel der Kinder vor Gericht: Die Frauen hätten es nur auf das Vermögen der Waisen abgesehen. Im Prozess, der sogar in Deutschland wahrgenommen wurde,382 kam es zu einer Schlammschlacht gegen Caroline Farner. Der Kommentator der NZZ diffarmierte die Ärztin aufgrund ihres Äusseren. Dr. med. Karoline Farner erscheint mit Herrenkragen und weiter Krawatte383, das kurzgeschnittene Haar in der Mitte gescheitelt und auf die Stirn vorfallend. (…) Ihr durchaus männlich gebildetes Gesicht zeigt dabei den Ausdruck gespanntester Aufmerksamkeit.384 Meta von Salis verteidigte ihre Freundin in einer achtzigseitigen Broschüre mit dem Titel Der Prozess Farner – Pfrunder. Darin wehrte sie sich gegen den impliziten Vorwurf, die Frauen führten eine sexuelle Beziehung – und versuchte unausgesprochen auch sich und Hedwig Kym als keusch darzustellen.
Dass eines der entsetzlichen Entartungsgebilde der Hyperkultur auch den Namen Freundschaft trägt, ist zu bedauern, aber die beiden zu verwechseln, wird nur einem mit den raffiniertesten Lastern vertrauten Gesellen gegeben sein. Das Giftgeschwür heftet sich an die Existenzen beschäftigungs- und interesseloser, überreizter Genussmenschen, die keusche Blume der Freundschaft385 entspringt dem Boden einer arbeitsfrohen, pflichttreuen Lebensführung.386
Giftgeschwür, Entartungsgebilde, Hyperkultur: Meta von Salis benutzte Begriffe, die die körperliche Liebe zwischen Frauen als entsetzliche Seuche, genetischen Defekt oder Zivilisationskrankheit darstellten. Ihr Vokabular erinnert an zeitgenössische rassistische und antisemitische Schriften. Tatsächlich las die Bündnerin die Bücher des französischen Rassentheoretikers Arthur de Gobineau.387 Mit den Rassentheorien untermalten Aristokratinnen wie Meta von Salis ihre Machtansprüche, die in der Demokratie an Legitimation verloren hatten.
1904 verkaufte Meta von Salis Schloss Marschlins ihrem Cousin, dem Rechtsprofessor Ludwig Rudolf von Salis-Maienfeld, und war nur noch sporadisch zu Besuch auf dem Anwesen. Sie liess sich und Hedwig Kym auf der italienischen Insel Capri eine Villa bauen.388 Meta von Salis war damals knapp fünfzig Jahre alt, Greti wurde erst zwei Jahre später geboren. Der neue Schlossbesitzer amtete lange Jahre als Kirchgemeindepräsident von Igis389.
Maria Metz, geb. 1935, Tochter von Gretis Schwester Käti
Meine Mutter erzählte ab und zu von den Einladungen im Schloss Marschlins. Die Kinder (also Greti und ihre Geschwister) mussten sich in Gala stürzen und nobel tun. Sie gingen nicht gern dorthin, weil sie im Schloss nichts anfassen durften. Sie mussten ruhig dasitzen und darauf achten, dass sie richtig assen. Meta von Salis sass manchmal auch mit am Tisch. Die Kinder verstanden nicht, worüber die Erwachsenen sprachen. Was sie begriffen: Dass Meta von Salis eine hochgescheite Frau war.390

Igis,
Februar 1931
Ein Neugeborenes liegt nackt auf der Waage. Trotz der untergelegten Windel ist die Waagschale hart. Eben noch hat es auf dem weichen Kissen gelegen. Irritiert über den Vorgang, sucht es Kontakt zur Mutter, doch sie ist mit der Waage beschäftigt. Sechsmal am Tag legt sie das Kind auf die Schale, um sicherzugehen, dass es genug zunimmt. Kein Wunder, muss sie genau auf die Skala schauen, um die Gewichtszunahme von einer Wägung zur nächsten zu registrieren. Obschon das Kind reichlich Babyspeck hat – bei der Geburt ist es fast anderthalb mal so schwer wie ein durchschnittliches Neugeborenes –, sorgt sich die Mutter permanent um sein Gewicht und führt akribisch Buch über die Trinkmengen. Von Anfang an misst sie das Kind an vorgegebenen Normen. Entspricht es ihnen nicht, ist das für die Mutter ein Grund zur Beunruhigung. Ihre Sorge kann sie nicht unmittelbar mit dem Vater des Kindes teilen. Er ist noch in Brasilien, ihre Briefe dorthin sind mindestens zwei Wochen unterwegs. Brüderlein, ich glaube, es ist niemand so ein Angsthase wie eine Mutter. Wenn ich keine Waage hätte, würde ich es ja gar nicht merken. Das wird dann391 etwas für Dich. Statt Holzklötzlein kannst Du dann Deinen Sohn wägen.392
Später wird sich Enkel Andres daran erinnern, wie er seinen Grosseltern Gian und Greti im Altersheim stolz seinen Erstgeborenen präsentierte, ihren dritten Urenkel. Beide beugten sich über das Baby. Nani sagte nur: Nennt ihn ja nicht Dominic, er heisst Gian Domenic. Und Neni schaut das Kind an und beginnt gleich mit ihm zu spielen.393
Einsame Geburt
Igis, Pfarrhaus, Januar 1931. Tag um Tag verging, und jeden Tag verlor Greti Fruchtwasser.394 Immer wieder hatte sie Schmerzen in der Gebärmutter.395 Dr. Jeklin untersuchte sie und stellte fest, dass das Kind in Steisslage lag. Sie sehnte sich nach Gian und war doch froh, dass er sie in diesem Zustand nicht sah. Liebes, sei Du froh, dass Du nicht hier bist. Es wäre schwer für Dich, untätig meine stumpfe Verzweiflung zu sehen. Tagsüber, im hellen Sonnenschein, geht es, aber wenn es anfängt zu dunkeln und ich immer müder werde, dann muss ich allein sein, stehe in der dunkeln Stube und starre hinaus gegen die Berge, von denen noch ein mattes, blauweisses Licht fliesst.396
Sie mochte nicht müssig herumsitzen und nutzte die Zeit, um an einem Berufsbild für Theologinnen zu arbeiten.397 Darin wollte sie nicht nur begründen, warum sie Frauen für ebenso geeignet hielt wie Männer, um Gottes Wort zu verkünden, sondern auch einen Überblick über die Fortschritte in Sachen Pfarramt für Frauen geben. Sechs Tage nach dem Blasensprung spürte sie beim Erwachen Wasser zwischen den Beinen. Am Freitag morgen fing es an so stark zu gehen, dass ich unserem Kleinen vier Windeln einweihte.398
Ungeduldig wartete Greti auf die Morgenpost, die die Basler Nachrichten brachte.399 Darin fand sie den ersehnten Bericht der Synode: Verwendung der Frau im Kirchendienst400 war der zweispaltige Artikel überschrieben, der die Debatte ausführlich wiedergab und auch die erwartungsvolle Stimmung unter den zahlreichen Frauen auf der Tribüne beschrieb.401 Die Voten waren überwiegend positiv, ebenso das Resultat: Die Basler Kirche schuf ein neues Hilfsamt, Theologinnen durften fortan als Pfarrhelferinnen seelsorgerisch tätig sein und aushilfsweise auch Predigten und alle weiteren kirchlichen Amtshandlungen – Trauungen, Beerdigungen und Taufen – vornehmen. Sie erhielten so einen ähnlichen Status wie ihre Kolleginnen in Zürich, mit dem symbolischen, aber nicht unwichtigen Unterschied, dass die Basler Kirche auch eine Ordination der Theologinnen vorsah.
Der Entscheid befriedigte Greti nicht ganz. Sie wollte sich nicht mit einem eingeschränkten Pfarramt zufriedengeben, sah aber auch, dass sie und ihre Mitstreiterinnen bei der politischen Grosswetterlage kaum auf mehr hoffen konnten.402 Sie arbeitete die Nachricht aus Basel in ihr Berufsbild ein. Mittags schlief sie zwei Stunden tief und fest. Dann setzte sie sich wieder an die Schreibmaschine und schrieb. Als ich die Korrektur403 las, fingen die leisen ersten Schmerzen an, und zwischen den beiden ersten starken Wehen schrieb ich mit zittriger Hand die Adresse. Sie war dankbar, dass das Kind so lange gewartet hatte. Mehr Verständnis kann ich von ihm nie verlangen!404
Dann ging es endlich richtig los.405 Die Wehen wurden schnell heftiger, die Abstände dazwischen immer kürzer. Bei jeder Welle hielt sich Greti mit beiden Händen an einer Stuhllehne fest. Als sie nicht mehr stehen konnte, führte Anny, die Hebamme, sie ins Schlafzimmer und zog ihr ein Nachthemd und das weisse Bettjäckchen an, das die Schwiegermutter aus Pontresina geschickt hatte. Bei jeder Wehe stützte die Hebamme Greti im Rücken. Um halb zehn Uhr abends kam Dr. Jeklin und untersuchte sie. Der Kopf des Kindes sei zuvorderst, alles komme gut. Wie es bei Sterbenden oft vorkommt, so trug ich heftiges Verlangen, aufzustehen, wegzugehen und alles zurückzulassen. Zum Ersatz richtete ich mich mühsam in die Knie auf und stemmte mit den Händen gegen die Bettstatt. Ich hörte den Arzt sagen: «Eine jede sucht sich anders zu helfen.» Nach einer Weile hiess er mich, mich wieder hinzulegen, weil er so keine Kontrolle habe. Ich wartete immer noch darauf, dass die Schmerzen nun so stark werden würden, dass ich schreien müsste. Die Hebamme presste nun Gretis angezogenen Knie gegen ihren Leib. Ganz unten hinaus, fest, so ist’s recht, tief atmen und grad noch einmal, redete sie der Gebärenden zu. Nach einer Weile merkte Greti, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hörte den Arzt sagen: Es verhält irgendwo. Er versuchte nachzuhelfen, drückte vom Darm und von der Blase her, doch ohne Erfolg.
Ich kämpfte weiter, das Schwierigste war wieder einmal das Warum in meinem Leben: warum ging es denn nicht vorwärts. Eine Narkose war vollkommen ausgeschlossen, da ich ja alles selber tun musste.406 Dazu waren die Schmerzen ja sehr leicht zu ertragen. Es verrann wieder eine Stunde, da plötzlich, ohne dass ich selber etwas Besonderes spürte, sagte der Arzt: Jetzt haben wir den Kopf und jetzt auch grad das Popeli. Es lag einfach plötzlich da und soll schon mit der Nase geschnuppert haben, bevor es brüllte. Ich sah zwei rosige Beinlein und zwei Ärmlein zwischen meinen Beinen in der Luft herumfahren und hörte zwei kräftige Kläpse klatschen, dann schrie ein hohes Stimmlein zweimal auf.
Sie fingen an, den Nabelstrang zu unterbinden, als ich unsern Sohn mit den Worten begrüsste: Könnt Ihr ihn nicht ein bisschen weiter wegnehmen? Er strampelte mit seinen Füsschen immer gegen meine wunde Stelle, so dass ich ihn von Herzen wegwünschte. Sie schnitten ihn ab und badeten ihn. Er wurde gewogen: Mami durfte ihn auf die Arme nehmen: Freudentränen rannen ihr über die Wangen. Sie wollte ihn mir bringen, ich schüttelte nur den Kopf, denn die wunde Stelle brannte mich entsetzlich, auch war die Nachgeburt noch bei mir. Nun kamen sie wieder zu mir. Dr. Jeklin machte ein paar Press- und Drückbewegungen auf meinem Bauch und plötzlich ging ein ungeheurer, warmer Blutkuchen ab, und sofort war mir «vögeliwohl». Ich hatte aber noch etwas vor mir: Der grosse Bub hatte mir drei Dammrisse gerissen, sie mussten noch vernäht werden, ich gab aber keinen Laut von mir. Und nun begann ein allgemeines Lob über meine Tapferkeit während der ganzen Nacht. Als ob sie denn wüssten, wie wenig oder wie sehr es wehgetan. Wenn ich kein einziges Mal geschrien, so war dies sicher nur, weil ich eben nicht musste. Als der Dr. sagte: «Es ist doch nicht, dass es ein Bub ist?», antwortete ich: «Ja, aber das nächste muss dann ein Mädchen sein!» Ich dachte also schon an das nächste!
In São Paulo wartete Gian schon seit Tagen auf eine Nachricht. Am 24. Januar frühmorgens war es soweit.407
CABOGRAMMA
M. 1 LANDQUART 12 3.30 24 ZIR
CAPREZ
RUA 7 ABRIL 68 SPAULO
SOHN SAMSTAG 3 UHR BEIDE WOHL
GRETI
Auf dem Weg zum Polytechnikum ging er beim Telegrafenamt vorbei.
GROSSE FREUDE
WUENSCHE GUTE GENESUNG ERWARTE
LETTERTELE JETZTIGES BEFINDEN
FREUNDLICH WORT GIANIN
Im Büro behielt er die Neuigkeit für sich.408 Sie schien ihm zu kostbar, um sie mit jemandem zu teilen. Als er abends nach Hause kam, wartete die erbetene Antwort.
NORMALER VORGANG BEGINN NEUNZEHN ENDE DREI UHR
NEUN PFUND BEIDE MUNTER409 FREUDE
GRETI
Immer wieder schaute sich Gian die beiden kleinen Fotos an, die Greti ihm vor einigen Wochen geschickt hatte von sich und dem leeren Korb.410 Liebes, wie hast Du es überstanden, und «er», wie sieht denn «er» aus?, erkundigte er sich. Es ist schon so unrecht, dass ich hier wie ein Murmeltier schlafe und mich so wohl wie nur möglich fühle, währenddessen Du Dich in Schmerzen quälst. Wirst Du diese Nacht wohl schlafen können? Du musst mir dann jeden Abend erzählen, was Du alles erlebt und gefühlt hast, seitdem Du von mir fort bist, sonst verliere ich den Zusammenhang zwischen uns beiden und «ihm», und «es» soll mir doch nicht fremd vorkommen.411
Während Gian diese Zeilen schrieb, brach fast zehntausend Kilometer412 weit weg in Igis der Morgen an. Greti erwachte nach der ersten kurzen Nacht als Mutter. Auf dem Tisch stand ein Strauss roter Nelken, den ihre Freundin Verena mitgebracht hatte.413 Greti fühlte sich sehr müde, aber gleichzeitig munter.414 Neben ihr lag das Kind im Zainli und schlief.415 Komisches Gefühl, dass «es» nicht mehr bei uns ist und «selbständig» und so gross in seinem Korb.416 Sie nahm den Brief zur Hand, den sie drei Tage zuvor angefangen hatte, als sie noch verzweifelt am Warten war, und fügte mit zittriger Schrift ein paar Zeilen hinzu.
Sonntag, 25. Januar 1931
Brüderlein, hast Du mir einen «Gwaltgüggel» mitgegeben! Er ist sehr gross: neun Pfund. Durchschnitt eines Neugeborenen: 6,2 Pfund. Ich hatte nicht gewusst, dass so ein eintägiges Wesen so brüllen kann. Er hat die letzte, seine erste ganze, Nacht gebrüllt von zehn bis vier Uhr ohne Unterlass und von da an ein bisschen ergebener und mit Unterbruch. Brüderlein, wir werden beide fest zusammenstehen müssen, um seinen Starrkopf anheben zu mögen. Von der Geburt schreibe ich Dir morgen. Heute noch zu müde.417
Zwei Wochen später hielt Gian den Brief mit dem ausführlichen Geburtsbericht in Händen. Als er ihn las, war er erleichtert und stolz zugleich. Du gutes tapferes Greti, Liebste, weisst Du denn, welche Freude ich an Deinem Brief habe!418 Ich kauerte vor jedem Satz, las ihn langsam und gespannt und fand mich bald laut lachend, bald misstrauisch abwartend und ernst. Aber Du hast so glänzend geschildert, dass ich es miterlebte, als ob ich auch bei Dir gewesen wäre, dazu wusste ich ja auch, dass es nicht sehr schlimm kommen sollte, was ich, wenn ich bei Dir selbst gewesen, nicht hätte wissen können. Und wie das Kind419 in Nanis Arme gelegt wurde, da merkte ich, dass auch ich feuchte Augen hatte. Dass Du es von Dir weghaben wolltest, begreife ich gut, es freut mich «usinnig», wie Du Dich verhalten hast. Deine Sachlichkeit ist ganz glänzend.420
Noch immer konnte Greti kaum glauben, dass sie dieses Kind empfangen, ausgetragen und geboren hatte. In Gedanken nannte sie die Zeugung das Wunder vom 14. April.421 Dass sie den Zeitpunkt der Empfängnis genau geplant hatte, daran wollte sie sich mittlerweile nicht mehr erinnern. Es ist zu mir gekommen aus Eigenwillen, da wir meinten, sein Dasein noch nicht verantworten zu können. Da «es» nun aber wider unseren Willen uns geworden war, konnte es nicht anders sein als dass «es» uns geschenkt worden.422 Das Wunder hatte jetzt einen Namen: Gian Andrea Caprez. Gretis Vater bedauerte, dass der Enkel nicht Roffler hiess.423 Sie pflichtete ihm insgeheim bei, trauerte aber nicht um den Stammhalter, sondern um die Anerkennung ihres Beitrags an dem kleinen Wunder. Ganz recht ist es nicht: die Mühen haben wir Frauen, aber unseren Namen dürfen wir dem Erfolg der Schmerzen nicht geben. Aber Name ist Schall und Rauch. Wie der Mensch ist, ist die Hauptsache.424 Für beide Grosselternpaare war Gian Andrea das erste Enkelkind. Sie nannten es liebevoll Hans-Hühnchen und wussten sich nicht zu fassen vor Freude.425
Die Erziehung war für Greti vom ersten Tag an ein Kampf. Gemäss der modernsten Säuglingspflege sollte eine Mutter ihr Kind alle vier Stunden stillen, angefangen um sechs Uhr früh. Um zehn Uhr abends gab sie ihm die letzte Mahlzeit, danach für acht Stunden nichts mehr. Hebamme Anny blieb die ersten drei Wochen nach der Geburt im Pfarrhaus und unterstützte Greti dabei, den Stillrhythmus einzuhalten. Die Grossmütter zeigten sich skeptisch, ein solch strenges Regime war ihnen fremd. Doch Greti wollte das Kind früh ans Durchschlafen gewöhnen.426 Es sei ja zum Besten für alle, rechtfertigte sie sich vor Gian. Wenn die beiden Nanis erzählen, dass sie bei ihren Kindern ein ganzes Jahr jede Nacht fünf bis sechsmal aufgestanden seien, so will ich lieber jetzt noch ein paar Nächte das Geschrei und die Bächlein meiner Milch, dafür aber nachher Ruhe für mich, Dich und es.427
So leicht, wie Greti gehofft hatte, gewöhnte sich Gian Andrea allerdings nicht an die Stilldisziplin. Hans-Hühnchen versucht es noch jede Nacht, unsere Herzen zu erweichen, berichtete sie Gian am vierten Tag nach der Geburt. Aber weder die «Gluggeri» noch die Mutter sind barmherzig. Sie schweigen, wenn sie auch nicht schlafen können. Freilich wenn man bedenkt, dass er von vier bis halb sechs brüllt, schmatzt und mit offenem Mäulchen in der Luft herumfährt, es an seinen Fäustchen und dem Kopfkissen versucht und unterdessen aus der übervollen Brust der Mutter zwei Bächlein rinnen, so ist dies viel geopfert für den Götzen Erziehung.428 Sie fühlte sich ohnmächtig, und in ihr regten sich leise Zweifel, ob der eingeschlagene Weg der richtige sei. Doch dann riss sie sich zusammen. Es muss werden, wir müssen es zum Durchschlafen, zu acht Stunden Ruhe bringen.429
Am sechsten Tag war Greti der Verzweiflung nah. Das Kind brüllte nachts immer noch zwei Stunden, obschon es tagsüber viel trank. Sie befürchtete, die Erziehung werde so nie gelingen.430 Die Nächte waren eine Qual, und auch tagsüber kam Greti nicht zur Ruhe. Der Besuch gab sich die Klinke in die Hand, Gians Mutter hatte sich gleich für mehrere Tage einquartiert. Sie sehnte sich danach, zwei Tage am Stück ganz allein zu sein mit dem Kind.431 Nur über den Besuch ihrer Freundin Verena freute sie sich. Verena, die Weggefährtin, mit der Greti alles besprechen konnte, was sie bewegte: die Arbeit als Theologin, Ehe und Mutterschaft und die Möglichkeit, alles miteinander zu verbinden.
Die beiden waren schon einen langen Weg zusammengegangen. Während des Studiums hatten sie es beide nicht für möglich gehalten, Pfarramt und Familie zu vereinbaren, und im Sommer 1928 hatten beide eine Entscheidung getroffen, die sie für definitiv hielten. Verena wählte die Berufung und trennte sich von ihrem Liebsten, Greti stand kurz davor, das Studium aufzugeben und zu heiraten. Jede bewunderte die andere für ihre Klarheit und versuchte, sie gleichzeitig für die eigene Überzeugung zu gewinnen. In ihren Briefen hielten sie Zwiesprache.
Greti: Wovon träumst denn eigentlich Du, wenn Du träumst? (…) Verena, ich möchte Dich einmal lieben sehen, ganz und ehrlich. Es wäre auch Dir Erfüllung, nicht Erfüllung des demütig liebenden Weibes, aber Erfüllung Deines Menschen, wie es eben auch ein jedem Manne Erfüllung seines Menschen ist.432
Verena: Ich glaube schon, dass die Ehe eine Erfüllung ist. Aber sie ist nicht die Erfüllung des Lebens. Ich denke, für den Christen wird das selbstverständlich sein. Die Ehe, die wirkliche Ehe, ist nichts Naturhaftes, sondern etwas Geistiges433, und deshalb ist sie (…) auch irgendwie Berufung.434
Greti: Was nützt es denn, dass wir diese Ideale haben, wenn der, den wir lieben, nicht so viel verdient, dass wir eine Magd haben können, denn zum Weibtum gehört das Putzen und Windelnwaschen. «Die Dinge sehen, wie sie sind.»435
Verena: Du musst nicht denken, dass ich meinen Weg für eine Lösung der Frauenfrage halte. Das wäre eine höchst verzweifelte Lösung oder vielmehr der grundsätzliche Verzicht auf eine Lösung. (…) Die Lösung der Frauenfrage (…) kann meines Erachtens nur darin liegen, dass es immer mehr auch der im Beruf stehenden Frau ermöglicht wird, zu heiraten.436
Greti: Dass es Dir schwer wird, Deine Kraft, die Du doch für so unendlich Wichtigeres und Grösseres einsetzen kannst, für solche Dinge zu brauchen, begreife ich wohl.437 Die Frage «Frau und Studium» löst sich mir eben so, dass ich mein Leben in die Hand Gottes gegeben.
Verena: Ich glaube, dass auch die Theologie noch weiter irgendwie einen Anspruch an Dich hat. Siehst Du, es ist doch etwas vom Allerwichtigsten438, dass es innerhalb der Ehe, gerade unter den Hausfrauen, Menschen gibt, die nicht darin aufgeben.439 Dann werden die Grenzen, die Du Deiner Wirksamkeit als Frau steckst, schon nicht zu enge werden, auch wenn Du gar nichts Theologisches mehr treibst. Wir brauchen Dich, Dein Mitwissen, Deine Teilnahme, Dein Verständnis.440
Schliesslich hatten sie beide, jede für sich, gespürt, dass eine Beschränkung auf das Eine oder das Andere nicht das Richtige wäre. Verena war zu Walter zurückgekehrt, Greti hatte weiter studiert. Und irgendwann war in ihnen die Überzeugung gereift, dass Ehe und Beruf zu vereinen sein müssten, und dass, wenn andere es nicht für möglich hielten, sie es ihnen beweisen würden. Nun, da sie Abschluss und Trauschein441 besassen, standen sie vor der Frage, wie sie ihre Utopie verwirklichen konnten. Verena träumte davon, mit ihrem Mann zusammen ein Pfarramt zu übernehmen. Zusammen hatten sie sich in Hundwil im Hinterland des Kantons Appenzell Ausserrhoden beworben – er als Gemeindepfarrer, sie als seine Mitarbeiterin. Zunächst sah es eigentlich gut aus für sie. Der Kirchenvorstand zeigte sich offen, wollte aber vor der Zusage die Meinung der Kantonalkirche einholen.442 Der Kirchenrat und die Synode reagierten positiv, mahnten aber, die Theologin dürfe nicht zu oft predigen. Zu weit wollte man nicht gehen, ein halbes Pfarramt solle in Hundwil nicht entstehen. Trotz dieses verheissungsvollen Signals entschied sich die Kirchgemeinde schliesslich für einen Pfarrer, der im Dorf schon länger bekannt war.443 Zur Zeit versuchten es Verena und Walter im glarnerischen Mollis, wo die Pfarrstelle schon länger verwaist war.444 Grosse Chancen rechnete sich Verena jedoch nicht aus.