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Greti betrachtete Verena, die an ihrem Bett sass. Sie war bis jetzt immer influenzakrank. Sie hat auch ganz magere Hände. Überhaupt ist sie müde und deprimiert.445 Offensichtlich zermürbte der Kampf die Freundin. Doch sie war zäh. Den Kopf in den Sand zu stecken, kam für sie nicht in Frage, auch darin waren sich die beiden Frauen ähnlich. Verena liess keine Gelegenheit aus, für ihre Sache zu weibeln. Ihren Vortrag über die Mithilfe der Frau in Kirche und Gemeindedienst konnte sie an vielen Orten halten, und er stiess auf grosses Interesse. Diskutierte irgendein kirchliches Gremium über die Zulassung von Pfarrerinnen, nahm Verena dazu Stellung, in einem direkten Brief an die Verantwortlichen oder einem Leserbrief.446 Ausserdem wollte sie den Austausch unter Kolleginnen fördern. Vor Kurzem hatte sie die Schweizer Theologinnen zusammengerufen, am Rand der Generalversammlung des Schweizerischen Verbands der Akademikerinnen in Zürich. Auch Greti war dabei gewesen, hochschwanger.447 Zu sehen, wie viele sie schon waren und wie jede an ihrem Ort für die gleiche Sache kämpfte, gab ihnen neuen Schwung.
Die Zahl der Theologinnen wuchs von Jahr zu Jahr. Zwar sassen die Studentinnen an den theologischen Fakultäten in Zürich, Bern und Basel immer noch allein oder höchstens zu zweit im Seminar.448 Doch zusammen mit den ausgebildeten Theologinnen waren sie nun schon über ein Dutzend, verstreut über die ganze Schweiz.449 Verena trug sich darum mit der Idee, einen Rundbrief zu initiieren, ein Forum für den Austausch zu praktischen Fragen, aber auch zum taktischen Vorgehen im Kampf für das Pfarramt.450
Als Verena abgereist war, versank Greti wieder im Trübsinn. Es geht uns beiden nicht sonderlich gut, berichtete sie Gian niedergeschlagen. Das Kind schlief immer noch nicht durch, und es wollte partout nicht zunehmen. Sie hatte starke Blutungen und befürchtete, ein Teil der Nachgeburt stecke noch in der Gebärmutter. Drei Wochen nach der Geburt reiste auch Schwester Anny ab, unter deren Fittichen sich Greti einigermassen sicher gefühlt hatte. Sie kam sich verlassen und hilflos vor wie ein verlorenes Kind.451 Die gut gemeinten Ratschläge von Mutter und Schwiegermutter halfen ihr nicht weiter. Die beiden Nani geben sich nun grosse Mühe, mir die Seligkeit des Kinderhabens und die Süssigkeit des Windelnwaschens klarzumachen und die Pflicht, das selber zu tun. Und ich habe es fast geglaubt. Abends, als ich dann allein war, hatte ich Moralischen und habe ein bisschen geheult, weil ich dachte, ich werde eine sehr schlechte Mutter werden.452
Mitten in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung hatte Greti einen brutalen Traum.453 Gian und sie feierten in einem Hotelzimmer in Zürich ihr Wiedersehen. Es sah genauso aus wie das Zimmer, in dem Gian Andrea und ich jetzt hausen. Wir zogen uns aus und legten uns zu Bett, ich gegen die Wandseite. Mein Herz war voll gespannter Erwartung und heisser Freude, nun würde all das wieder kommen, was früher gewesen. Da merkte ich, dass Du zögertest, dass Du zwar auch wolltest, Dich aber etwas hinderte, und dass Du mir dies doch zugleich gerne verborgen hättest. Und plötzlich sah ich es: Dein rechtes Bein war verstümmelt, es endete beim Knie in einem schmerzenden, roten Stummel. Eine Welle heisser und echter Liebe durchflutete mich, und ich suchte Dir zu zeigen, dass ich Dich so nicht weniger lieb hätte, beugte mich über Dich und streichelte und tröstete Dich unablässig. Wir waren beide traurig, als ich plötzlich eine grosse Freude spürte, Du schautest verwundert in meine freudestrahlenden Augen. Ich sagte fast jubelnd: «Jetzt muss ich nie mehr Angst haben, dass Du …», ich schwieg. Du verstandest sofort: «Dass ich auf einer verwageten Ski- oder Bergtour ums Leben komme und Dir so genommen werde.»
Ich lag so halb auf Dir, als plötzlich die Türe aufging, das Zimmermädchen hereintrat und schrie, wenn wir so beieinander seien, hätten wir sofort das Zimmer zu räumen. Ich war mit einem Satz zum Bett hinaus und stand bebend vor Zorn vor ihr, weil sie uns gestört im Heiligsten, da wir uns doch eben erst wieder seelisch einander fürs Leben neu gewonnen und verbunden hatten. So schrie ich sie an, sie hätte hier gar nichts zu suchen, wir wären verheiratet, im Übrigen sei das egal und gehe sie nichts an. Sie öffnete den Kasten, um meinen Pass zu suchen und daraus meinen Civilstand zu ersehen. Ich wurde noch wütender, da sie offenbar so zu Dir stand, dass sie es wagen durfte, Dir über den Kasten zu gehen – Jäh erwachte Greti. Unvermittelt wurde ihr bewusst, wie sehr sie auf Gian angewiesen war. Gerade jetzt, in diesem Moment, wo sie sich mit dem Kind so furchtbar allein fühlte, hätte sie ihn nötig gehabt. Das Bild des verkrüppelten Mannes stimmte sie froh, denn es besänftigte ihre Angst: Seit der Geburt spürte sie das Kind wie einen Klotz am Bein, es machte sie unfrei und von Gian abhängig. Mit seinem schmerzenden roten Stummel musste nun auch er bei ihr bleiben.
Jahrzehnte später wird sich Gretis Traum auf schreckliche Weise bewahrheiten: Nicht ihr Mann, sondern ihr Sohn Gian Andrea, der jetzt an ihrer Brust liegt, wird bei einem Lawinenunglück ums Leben kommen, mit knapp über fünfzig Jahren.

São Paulo,
1930
Ein ungewöhnliches Bild, inszeniert in den Strassen von São Paulo. Die Szene könnte auch irgendwo in Europa spielen: Die Architektur verrät nichts Ortsspezifisches, und schwarze Brasilianerinnen sucht man auf dem Bild vergeblich. Gretis schickes Beret und das figurbetonte Faltenkleid, Gians dunkler Anzug mit Krawatte und Hut – so elegant sieht man die beiden sonst kaum auf Fotos, nicht einmal sonntags. Vermutlich eine Konzession an die Umgebung. Statt zu flanieren wie die andern, liest Greti im Gehen eine Zeitschrift, den Mantel über die Schulter geworfen. Sie wirkt hoch konzentriert, aber skeptisch, Gian schreitet geduldig nebenher. Sie war diejenige, die bestimmte, wo es langgeht, sagen Verwandte und Bekannte bis heute unisono. Und er, gleichmütig und harmoniebedürftig, passte sich an. Im Gleichschritt zwar, aber nicht mit demselben Fuss voran, geht das Paar in der Menge. Ein Sinnbild für diese ersten Monate als frisch getrautes Ehepaar, das sich erst finden muss und immer wieder um das rechte Mass an Intimität und Autonomie ringt. Gekleidet wie die Paulistas, Schweizer Zeitungen lesend: Greti und Gian wollten sich alles offenhalten. Sie lernten die Landessprache fliessend (noch im hohen Alter benutzten sie Portugiesisch als Geheimsprache in einem Liebesbrief), und Greti arbeitete in der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde mit. Ob sie bleiben oder in die Schweiz zurückkehren würden, war noch unklar.
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