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Frauenverachtend? Menschenverachtend! Arrogantes Arschloch!
Dennoch vermochte Hope nicht, etwas darauf zu erwidern. Zu viele Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Das alles lief anders als erwartet. Mit Turbogeschwindigkeit in die falsche Richtung. Nur war sie nicht in der Lage, die Notbremse zu ziehen.
Sollte das nun heißen, Chief Rice hatte sie hier einberufen, um ihr mitzuteilen, dass ein anderer Conrads Posten als Leiter ihrer Einheit übernehmen würde? Wer? Womöglich noch ein vollkommen Fremder?
„Zu meinem großen Bedauern kannte auch Conrad meine Einstellung diesbezüglich und nahm mir das Versprechen ab, dass ich Ihnen eine Chance geben werde…“ Rices Unmut über diese Sache stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als ob er in Erwartung einer Zuckerstange stattdessen in eine saure Zitrone gebissen hätte.
Hope zog die Augenbrauchen hoch. Und jetzt Klartext bitte!, hätte sie ihm gerne entgegengespien, aber das stand ihr nicht zu. Also schwieg sie weiter und harrte der Dinge, die da kommen mochten.
Der Chief seufzte. „Da ich davon ausgehe, dass Ihnen früher oder später ohnehin ein Fehler unterläuft, ist es ja nur eine Zeitsache, die sie die – sagen wir Vertretung für Captain Harper übernehmen. Denn dass sie scheitern werden, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Alle Frauen in anspruchsvollen Positionen scheitern irgendwann. Und wissen Sie auch warum? Weil sie einfach nicht dafür gemacht sind, Verantwortung zu übernehmen!“
Hope sog die Wangen ein und biss sich auf die Innenseite, um nicht zu platzen. Wieso stand sie immer noch hier? Wieso warf sie ihm nicht ihre Marke vor die Füße, sagte ihm, dass sie auf ihn und seine Einstellung scheiße und reichte unverzüglich ein Versetzungsgesuch ein?
Weil es genau das ist, was er erreichen möchte, gab sie sich selbst die Antwort.
„Was stehen Sie hier noch herum, Miss Cromworth?“, schlug Rice nun einen harschen Ton an. „Haben Sie keine Arbeit? Unsere Unterredung ist längstens beendet. Sie kennen nun meine Einstellung Ihnen gegenüber. Fühlen Sie sich also beobachtet in allem, was sie tun und entscheiden. Ich werde jeden Schritt, den Sie machen, mit Argusaugen überwachen und seien Sie gewiss, dass ich nur darauf warte, dass Ihnen ein Missgeschick passiert. Falls sie noch darauf warten, dass ich Ihnen den Status eines „Captain“ verleihe, muss ich Sie leider enttäuschen. So lange ich hier das Regiment führe, wird keine Frau die Macht über ein Schiff erhalten. Und sei es auch nur ein kleines Paddelboot. Guten Tag, Miss Cromworth.“
Ein Team zu leiten, ohne einen höheren Status zu besitzen, war nicht einfach. Vor allem, da Hope die ganze Zeit über bereits auf gleicher Ebene mit ihren Kollegen zusammengearbeitet hatte. Sie waren praktisch eine eigene kleine Familie… Eine Familie, die nun zwei neue Adoptivkinder aufzunehmen plante.
Hope blätterte durch die Personalakten, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen, ohne wirklich bei der Sache zu sein. Bei dem ersten Polizisten, Christian Taylor, handelte es sich zwar um eine Versetzung, doch Luke Dorians Antrag war eine Neubewerbung. Der junge Mann konnte zwar einige Jahre im Streifendienst vorweisen, doch verfügte er über keinerlei Erfahrungen in der Ermittlungsarbeit. Hope hätte eigentlich erwartet, dass ein älterer Detective ihr Team komplettieren würde, beziehungsweise dass man ihr als zukünftige Leiterin dieser neu zusammengewürfelten Einheit zumindest ein Mitspracherecht bei der Besetzung der offenen Stellen zukommen ließ.
Dem war nicht so und sie konnte sich gut denken, auf wessen Mist das gewachsen war. Chief Rice würde ihr sämtliche Steine in den Weg legen. Soll er doch!
Christian Taylor wirkte auf den ersten Blick vielversprechend. Beste Beurteilungen, top Leistungen… Seine Akte sah geradezu ‚frisiert‘ aus. Warum wird ein so hoch angesehener Top-Detective plötzlich versetzt? Milwaukee müsste alles daran gesetzt haben, ihn behalten zu können… Hope blätterte weiter, doch die gewünschten Erläuterungen blieben aus. Wenig Information, nur Lobesworte. Anscheinend war es dem Polizeipräsidium der größten Stadt Wisconsins ein großes Anliegen gewesen, diesen Kollegen loszuwerden. Das kann ja heiter werden.
Hope blickte auf die Uhr. In zehn Minuten war das erste Meeting unter ihrer Führung angesetzt. Das erste Zusammentreffen des Teams seit Bertrams Selbstmord. Und Conrads Tod. Das erste Mal, dass sie wieder beruflich zusammenkamen. Es ging weiter. Auch ohne Conrad. Es muss… Auch wenn ich momentan nicht weiß, wie.
Sie war absolut nicht vorbereitet auf dieses Meeting. Es war nicht so, dass Hope sich nicht den Kopf darüber zerbrochen hätte, was sie sagen und wie sie auftreten wollte. Doch richtige Worte wollten sich einfach nicht finden lassen. Es war einfach eine Scheiß-Situation; so hätte es jedenfalls Conrad ausgedrückt. Vielleicht war das der geeignetste Einstieg. Der, den Conrad gewählt hätte; der, der ihm aus der Seele gesprochen hätte. Hope schluckte. Die Erinnerungen waren schmerzhaft.
Noch ein Blick auf die Uhr und Hope schlug die Akten zu. Auch wenn alles weitere sich ergeben musste und keiner Planung unterlag, so war sie sich doch zumindest sicher, dass sie bei ihrem unerwarteten Einstand nicht zu spät kommen sollte.
Trotz dieses guten Vorsatzes war Hope die Letzte, die das Konferenzzimmer betrat. Adrian zwinkerte ihr aufmunternd zu, Grace lächelte traurig und Marc nickte zum Gruß. Hope vermied es absichtlich, sich auf Captain Harpers Platz niederzulassen. Vielleicht wenn sie eines Tages selbst Captain war, doch momentan fühlte es sich einfach nicht richtig an.
Mit zitternden Fingern legte sie einen Stapel weißer Blätter vor sich ab. Dann räusperte sie sich, blickte in die Runde und sagte mit fester Stimme: „Das ist eine absolute Scheiß-Situation.“ Sie hätte nicht mit Sicherheit vorhersagen können, ob die übrigen ihre Aussage so auffassten, wie sie gemeint war, doch das allgemeine Schmunzeln überzeugte sie, dass sie die richtigen Worte gewählt hatte. „Ich hatte heute Morgen ein Gespräch mit Chief Rice… Fürs Erste werde ich die Leitung unseres Teams übernehmen.“
„Was heißt, fürs Erste?“, schaltete Adrian sich sofort ein und verengte die Augen.
„Der Chief stellt mich sozusagen in Probezeit ein“, versuchte Hope das offensichtliche Misstrauen des Polizeichefs in ihre Fähigkeiten mit netten Worten zu kaschieren.
Adrian schüttelte verständnislos den Kopf. „Das kann ja wohl nicht sein Ernst sein! Es war allen immer klar, dass du Harpers Nachfolge antreten wirst. Das ist wirklich das Letzte.“
Hope rückte unruhig auf ihrem Stuhl. Detective Adrian Glover war ein sehr guter Freund und absolut loyal gegenüber seinem Team, aber dennoch war es in dieser Situation angebracht, den Mund zu halten und abzuwarten. Sie stand unter ständiger Beobachtung, das hatte der Chief ihr deutlich zu verstehen gegeben und Hope wollte auf keinen Fall, dass ihre Freunde Schwierigkeiten bekamen, weil sie sich zu sehr hinter sie und damit gegen die Führungsebene stellten. „Es ist schon okay“, versuchte sie die Sache abzuschwächen. „Ich denke, es ist auch für Chief Rice eine außergewöhnliche Situation, mit der er nicht recht umzugehen weiß. Wir sollten uns allen etwas Zeit geben.“ Das war gelogen. Chief Rice würde seine Meinung bezüglich Frauen in Männerberufen niemals ändern. „Wir sollten uns jetzt erst einmal auf die nächsten Tage konzentrieren“, schlug Hope vor. „In der Hoffnung, dass die bösen Buben Shreveports uns ein paar Stunden Galgenfrist gewähren, bevor sie wieder zuschlagen, wäre es mir ein Anliegen, dass wir uns als Truppe neu zusammenfinden. Wir haben zwei Kollegen verloren. Keiner von uns hätte jemals für möglich gehalten, dass in Bertram ein so versessener, kranker Geist schlummert.“ Das zustimmende Nicken ermutigte Hope, weiterzusprechen. Du machst das gut, spornte sie sich an. Die richtigen Worte kommen automatisch. „Conrad“, sie holte tief Luft und blinzelte ein paar forsche Tränen weg. „Er wird uns sehr fehlen.“ Er fehlt mir! „Ich… werde niemals seinen Platz ausfüllen können, wie er es getan hat. Aber ich gebe dennoch mein Bestes.“
Nach einem kurzen Schweigen, in dem wohl jeder noch einmal für sich Abschied von ihrem langjährigen, hochgeschätzten Captain nahm, stellte Adrian klar: „Du bist ab sofort der Boss, du sagst, was gemacht wird, Hope. Und du weißt, dass wir alle immer hinter dir und deinen Entscheidungen stehen werden!“
„Wir unterstützen dich, wo wir können“, pflichtete Marc ihm bei. „Hey, wir sind doch ein Team! Und wenn wir ehrlich sind, warst du doch schon die letzten Jahre stets die Besonnene, die Denkerin und Planerin. Conrad hat sich voll und ganz auf dich verlassen. Du wirst einen prima Job machen!“
Grace stand auf und schlang ihre Arme um Hope, die vor Rührung nur noch verschwommen durch den Tränenfilm ihrer Augen sehen konnte, und versicherte ihr: „Wir schaffen das. Du bist unser neuer Captain, auch wenn du diesen Titel nicht von offizieller Seite hast und wir dich nicht so nennen dürfen.“
„Bleiben wir bei Hope“, schniefte Hope und nahm dankbar das von Marc angebotene Taschentuch entgegen. „Wir schaffen das“, wiederholte sie dann und fühlte sich unglaublich wohl, so gute Freunde zu haben.
Montag, 02. November, 15.30 Uhr
„Herein.“ Hope war überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass jemand an ihrem ersten Arbeitstag in neuer Position an ihre Tür klopfte. Eigentlich hatte sie gehofft, die erste Woche ruhig angehen zu können. Schonfrist sozusagen. Ließen das nicht sogar Straftäter neuen Gefängnisleitern zukommen?
Adrian, Marc und Grace schrieben die Berichte des letzten Falls, um zumindest auf sachlich-korrekter Ebene mit dem, was geschehen war, abzuschließen. Hope selbst befand sich noch immer im Zwiespalt mit sich selbst darüber, ob sie Conrads Büro zu ihrem eigenen umgestalten oder einfach so belassen sollte, wie es war. Was sie definitiv benötigte, war ihr Computer. Conrads Maschine war aus dem vorigen Jahrhundert und dementsprechend laut und langsam. Damit endete jedoch ihre Entschlussfreudigkeit.
Die Tür fiel auf und das erste, was Hope entgegenströmte, war eine dichte Wolke süßlichen Parfums, welches offenbar über den abgestandenen Zigarettenrauch hinwegtäuschen sollte, der unterschwellig mitschwang.
Hope blinzelte und erkannte die in Nerz ummantelte Dame erst, als sie unmittelbar vor ihrem Schreibtisch zum Stehen kam. „Was haben Sie im Büro meines Mannes zu suchen?“, keifte die Frau ohne Umschweife und warf dabei ihre künstlich zurechtgemachte Dauerwelle in den Nacken.
Hope legte langsam und mit Bedacht den Stift zurück auf den Schreibtisch, den sie kurz zuvor aufgenommen hatte, um die Initialen C.H. näher zu betrachten, die am oberen Ende in vornehm geschwungener Schreibschrift eingraviert waren. Conrad Harper. Ging man die Sache jedoch von hinten nach vorn an, so ließe sich auch problemlos ein Cromworth, Hope hineingeheimnissen. „Mrs. Harper, ich wusste nicht, dass Sie heute vorbeikämen, um die Sachen Ihres Mannes abzuholen“, entschied Hope sich für einen diplomatischen Weg ohne Gegenangriff. „Sie hatten sich nicht bei mir angemeldet, oder?“
„Bei Ihnen?!“ Mrs. Harpers Stimme schien Purzelbäume zu schlagen, so dass sich Hope unwillkürlich ein Vergleich zu Mozarts berühmter Figur der Königin der Nacht aufdrängen wollte. „Nein. Niemals. Das ist das Zimmer meines Mannes und ich werde mich zu keiner Zeit bei Ihnen anmelden oder gar um Ihre Erlaubnis betteln, wenn ich die Habseligkeiten meines liebsten Conrad hier abholen möchte.“ So bist du mei-ne Toch-ter ni-mme-er-mehr. Hahahaha-hahaha. Hahahaha-hahaha. Hahaha-ha. Haha. Haha-haa. Mrs. Harper presste sich bei der Erwähnung ihres verstorbenen Ehemannes eine Träne aus dem mit übertrieben blauen Lidschatten angepinselten Auge und wischte diese sogleich theatralisch mit einem bestickten Seidentaschentüchlein ab, bevor der Mascara verschwimmen und ihr Aussehen ruinieren konnte. Fühlt nicht durch dich – Sarastro Todesschmerzen. Sarastro Todesschmerzen…
Hope hob die Brauen. Hörte das denn heute überhaupt nicht mehr auf? Nur Anfeindungen und Geringschätzungen. Was hatten nur alle gegen sie? Habe ich was verpasst? Steht auf meiner Stirn: Bitte mach mich fertig, das gefällt mir!?
„Nun, genau genommen ist das jetzt mein Büro…“, versuchte Hope freundlich zu erklären und sich dabei den ausladenden Mantel als weitschweifenden, an einen abendlichen Horizont erinnernden, sternbesetzten Umhang aus Der Zauberflöte vorzustellen. An Mrs. Harper war eine bilderbuchreife, arrogante Diva verloren gegangen. Dafür hätte sie definitiv großes Talent aufgebracht.
Mrs. Harper zog eine Grimasse. „Nun, genau genommen“, wiederholte sie dreist, „glaube ich das nicht. Jedenfalls nicht nachdem, was man so hört…“
Hope war nahe daran, in die Luft zu gehen und die düstere Königin in den Abgrund zu stürzen. Oder besser noch, in das gleißende Licht der Mittagssonne… Mit mühevoll unterdrücktem Zorn sagte sie drohend: „Verlassen Sie sofort dieses Büro. Und wenn Sie das nächste Mal planen, die Habseligkeiten Ihres Mannes heimzuholen, dann vereinbaren Sie vorher einen Termin mit mir!“
Die farbkastenroten Lippen verzogen sich zu einem noch breiteren Grinsen und Mrs. Harper blieb fest an ihrem Platz stehen. „Ich denke nicht, dass ich mir das von einem Flittchen wie Ihnen sagen lassen werde. Wie oft mussten Sie mit meinem Mann schlafen, bis Sie diesen Posten bekommen haben, hm? Zweimal die Woche? Täglich?“
Hope fiel vor Erschütterung der Unterkiefer herab. Sie war sprachlos ob dieser bodenlosen Frechheit. Regelrecht entsetzt. Sie spürte, wie ihre Zunge Worte zu formen versuchte, doch ihr Gehirn war zu blockiert, um entsprechende inhaltliche Informationen auszusenden, und ihr Innerstes zu sehr damit beschäftigt, Tränen der Resignation zurückzudrängen. Schließlich bracht sie mit bebenden Lippen hervor: „Was maßen Sie sich an, mich derart zu beleidigen? Raus hier. Sofort!“ Mit einer entschlossenen Bewegung war Hope in der Höhe und stampfte mit ausladenden, wütenden Schritten zur Tür, um sie aufzureißen und dieser unverschämten Person den Ausgang zu weisen. „Raus!“, wiederholte sie noch einmal, so fest sie nur konnte.
„Ich denke ja gar nicht daran, dieses Zimmer zu verlassen. Nicht ehe ich die Sachen meines Mannes zusammengepackt habe“, erwiderte Mrs. Harper ruhig und sichtlich erheitert über Hopes aufgebrachte Reaktion.
Hope bebte vor Wut über ihre eigene Hilflosigkeit. Eine solch dreiste Frau war ihr noch selten untergekommen. Am liebsten hätte sie ihre Pistole gezückt und die verwöhnte, hochnäsige Dame damit nach draußen befördert. Doch das wäre mit Sicherheit bereits das erste Fehlverhalten gewesen, auf das Chief Solomon Rice geradezu fanatisch wartete. Ob er Mrs. Harper sogar persönlich hergeschickt hatte, um sie zu provozieren?
In diesem Moment tauchte vom Flur her Adrian auf. „Gibt es hier ein Problem?“, fragte er mit seiner sonoren, ruhigen Stimme.
Hope schluckte, um sich zu sammeln. „In der Tat“, bestätigte sie dann mühevoll beherrscht. „Mrs. Harper weigert sich trotz mehrfacher, deutlicher Aufforderung, mein Büro zu verlassen.“
Adrian runzelte die Stirn und schien die Reichweite des Unausgesprochenen abzuschätzen. Schließlich wandte er sich an die Lady in Pelz und sagte mit freundlicher Schärfe: „Mrs. Harper, wir alle bedauern Ihren Verlust zutiefst und sicher können wir alle nicht im Mindesten nachfühlen, wie Ihnen nach dem Tod Ihres Gatten zumute ist. Doch ich muss Sie dennoch leider bitten, jetzt zu gehen. Selbstverständlich können Sie jederzeit mit Detective Cromworth oder mit mir einen neuen Termin vereinbaren, damit wir Sie auch gebührender empfangen können als unter den momentanen Turbulenzen, die hier im Präsidium Einzug gehalten haben. Es tut uns sehr leid, aber Sie sehen ja, dass bei uns auch einiges neu geordnet werden muss und dass Ihr Mann auch hier eine große Leere hinterlassen hat.“
Mrs. Harper schürzte die Lippen und machte auf ihrem hochhackigen Absatz kehrt. Langsam und gemächlich stöckelte sie auf die beiden zu, musterte Hope vom tiefschwarzen Haaransatz bis zu den uneleganten Sneakern und sagte dann mit unverhohlener Geringschätzung: „In der Tat. Das sehe ich.“ Dann warf sie sich den Nerz fester um die Schultern und stolzierte hoch erhobenen Hauptes davon, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Adrian, nachdem Mrs. Harper um die Ecke gebogen war und lediglich noch der Duft nach diesem schrecklich süßen Parfum an ihren Auftritt erinnerte.
Hope nickte. Sie fühlte sich elend und zittrig, aber sie war erleichtert, dass Adrians autoritäres Auftreten den unliebsamen Gast verscheucht hatte.
„Du bist ganz blass“, stellte Adrian fest und in seinen grauen Augen lag Besorgnis.
Hope wankte mit unsicheren Schritten zurück ins Büro und ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder. „Sie hat mich als Flittchen bezeichnet“, sagte sie noch immer verständnislos. „Nach allem, was man so hört, hüpft sie mit jedem Kerl ins Bett und nennt mich ein Flittchen. Mich!“ Sie spürte heiße Tränen in den Augen brennen und brach abrupt ab, bevor sich ihre Stimme überschlug. Wieso ärgerte es sie sehr, was diese Frau dachte? Hope wusste, dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. Ihr Verhältnis zu Conrad war niemals ein derartiges gewesen.
Adrian gab ein verächtliches „Pah“ von sich. „Solch eine Frechheit. Du könntest Anzeige wegen Beamtenbeleidigung erstatten. Oder wegen Verleumdung, da sind die Strafen höher gesteckt. Was bildet diese Frau sich überhaupt ein? Plustert sich auf wie eine Gräfin, und in Wirklichkeit ist sie die einzige, die Conrad keine ehrliche Träne hinterherweint.“
In diesem Punkt konnte Hope ihrem Kollegen nur zustimmen. „Danke“, flüsterte sie schließlich.
„Ach, schon gut.“ Adrian winkte ab. „Ich bin sicher, du wärst auch alleine mit ihr fertig geworden.“
Hope musste unwillkürlich grinsen. „Ich war drauf und dran, sie mit meiner Waffe durchs gesamte Haus zu scheuchen.“
Adrian lachte. „Na, das hätte ich gern gesehen. Nächstes Mal schalte ich mich nicht ein.“
Hope atmete tief ein und wurde wieder ernst. „Vielleicht doch“, sagte sie. „Bei dem kleinsten Fehltritt wird Chief Rice mich in die Wüste schicken. Er wartet nur darauf, dass ich versage.“ Sie schwiegen einige Augenblicke und in Hope keimte wieder der Gedanke, welch ungeheures Glück Samantha Carrington hatte, Adrian Glover ihren Freund nennen zu dürfen. Verlobten, verbesserte sie sich mit Erinnerung an den Ring an dem Finger der jungen Brünetten, den sie bei Conrads Beerdigung stolz getragen hatte. Samantha war im letzten Jahr zu einer wirklich guten Freundin geworden und Hope war nicht der Typ Frau, der davon unzählige besaß. Sie war äußerst vorsichtig in der Auswahl ihrer Vertrauenspersonen. Sie gönnte den beiden Verliebten ihr Glück von Herzen, doch ihre unbeschwerte Fröhlichkeit führte Hope stets die Leere in ihrem eigenen eintönigen Leben vor Augen. Diesen Platz in ihrem Herzen, den noch niemals jemand auszufüllen vermocht hatte. Ob es tatsächlich für jeden Topf einen passenden Deckel gab?
„Hope, ich würde heute gerne etwas früher gehen. Sam hat ihre Präsentationsprüfung und ich möchte sie mit einem selbst gekochten Abendessen überraschen.“ Was für ein verflucht gut aussehender Traummann, der auch noch wusste, was Frauen wollen! Das Leben war einfach ungerecht…
„Selbstverständlich.“ Hope räusperte sich, um mit ihren Gedanken in das Hier und Jetzt zurückzukehren. „Ach Adrian, eines noch. Ich habe hier die Akten der zwei neuen Kollegen, die uns zugeteilt wurden. Sie werden unser Team ab nächster Woche komplettieren.“
Adrian nickte. „Okay“, sagte er langsam. „Und wo liegt das Problem?“ Er war wirklich extrem aufmerksam.
„Einer der beiden ist bereits länger dabei“, begann Hope umständlich. „Detective Christian Taylor. Versetzung. Aber der andere scheint ein echter Frischling zu sein. Ich selbst sehe mich nicht in der Lagen, mich seiner Einführung zu widmen, weil ich das alles selbst erst auf die Reihe kriegen muss. Grace ist mir aber noch zu jung; ich habe Angst, es könnte sie überfordern, einen Neuling als Partner zu haben.“
„Verstehe“, sagte Adrian. „Es ist für Marc und mich kein Problem, für einige Zeit andere Partner zu haben, falls es das ist, was du mir mitteilen möchtest. Schließlich sind wir nicht verheiratet“, fügte er augenzwinkernd hinzu.
Hope atmete erleichtert aus. „Ich danke dir.“
Adrian schüttelte abwehrend den Kopf. „Nun komm schon, Hope. Wir sind doch ein Team. Einer für alle – Alle für einen. Außerdem gibt Marc bestimmt einen guten Ausbilder ab. Der wird mit unserem Frischling schon fertig. Oberlehrer sein, wird ihm Spaß machen. Und Grace und ich kommen auch prima miteinander klar. Mach dir nicht so viele unnötige Sorgen. Das wird schon alles. Du hast viel zu wenig Selbstvertrauen. Du wirst Conrads Platz perfekt ausfüllen. Captain!“
Hope schmunzelte unter einem plötzlichen Anfall von Optimismus und Tatendrang. „Ich kriege diesen Titel! Ob es dem Chief passt oder nicht.“
„Das ist die richtige Einstellung!“, stimmte Adrian ihr zu. „Wir lassen uns hier nicht unterkriegen. Von keinem!“
Mittwoch, 04. November, 8.30 Uhr
Nach dem ersten Erfolgserlebnis mit der neuen Wohnung, dem Glücksgriff einer Vermieterin wie Mrs. Weyler und einer gehörigen Portion Schlaf, war Chris guter Dinge, auch eine geeignete Vorschule für seine Tochter zu finden. Es war Mittwoch und für kommenden Montag war sein erster Arbeitstag festgelegt. Demnach war es höchste Zeit, eine Betreuungsinstitution für Elise ausfindig zu machen.
Auf dem Weg zwischen Finn Street und Texas Avenue, in der sich das Shreveport Police Department befand, gab es drei Einrichtungen, die über Betreuungsangebote für Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren verfügten: das Rainbow-House, den Little People’s Kindergarten und die Villa Sunshine, die zwar sämtliche Verbindungen zur Holy Church of Scientology abstritt, sich gegenteilige Meinungen jedoch hartnäckig hielten. Chris setzte die Villa Sunshine deshalb vorsichtshalber auf den letzten Platz der möglichen Optionen. Zwischen den beiden anderen ließ er seine Tochter wählen und anhand der Bilder, die er für Elise auf sein Tablet zauberte, entschied sich das Mädchen für das farbenfrohe Gebäude des Rainbow-House.
„Ich will aber das rote Kleid anziehen!“, schimpfte Elise und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Aber das ist viel zu dünn“, erklärte Chris mit Blick auf die Uhr. In einer knappen Stunde war er mit der Leiterin des Rainbow-House verabredet. „Für ein leichtes Sommerkleidchen ist es heute zu kalt. Was hältst du von dem grünen, wenn es unbedingt ein Kleid sein muss?“
„Ich hasse grün!“, schmollte Elise und stampfte mit dem Fuß auf.
Chris verdrehte die Augen. Frauen waren also schon als kleine Mädchen so schwierig, wenn es um die Auswahl des geeigneten Outfits ging. „Ich könnte dir grüne Bänder ins Haar flechten“, schlug er vor.
Noch vor wenigen Monaten hätte er jeden anderen Mann belächelt, der die Fertigkeit besaß, für Männerhände ungeeignete Frisuren zu kreieren. Männlich war das jedenfalls nicht. Er seufzte. „Elli“, bat er, doch das kleine Mädchen blieb eisern.
„Wir haben auch rosa Haargummis“, hielt sie dagegen und schob trotzig das Kinn vor.
Wie ihre Mutter…
Chris wehrte den Gedanken sofort ab. „Dann eben rosa und rot“, gab er sich geschlagen und kramte in Elises Kinderkoffer nach einem weißen Wolljäckchen, das neben den üblichen Rüschen-verspielten Verzierungen über jede Menge bunter Flecken verfügte, die jedem Waschmittel standhaft trotzten. „Aber plus Jacke“, sagte er etwas strenger. „Deal?“
Elise überlegte. „Deal“, willigte sie schließlich ein und schlüpfte in Kleid und Jäckchen.
Chris setzte Neue-Klamotten-kaufen als einen Punkt auf seine imaginäre To-Do-Liste, von der er gerade das Stichwort Wohnung-finden gestrichen hatte. Zwei Wochen zwischen dem Ende des einen und dem Beginn eines neuen Vollzeitjobs waren einfach nicht genug. Insbesondere dann nicht, wenn man seine gesamte Vergangenheit zurückließ.
„Gibt es dort jeden Tag einen Regenbogen?“, fragte Elise, während sie sich umständlich in eine Strumpfhose quälte.