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Es dauerte einige Augenblicke, bis Chris begriff, wovon sie sprach. „Im Rainbow-House?“, fragte er nach. „Bestimmt.“
Elise strahlte. „Wohnt der Regenbogen dort?“
Chris lachte. „Wahrscheinlich, ja. Oh je, Süße, du hast die Strumpfhose verkehrt herum. Zieh sie nochmal aus.“ Die Kunst des Strumpfhosen-Anziehens gehörte ebenfalls nicht zu den Eigenschaften, über die ein Mann verfügte. Wie hatten die feinen Kerle im Mittelalter das nur ausgehalten?
Elise gehorchte und überließ es ihrem Daddy, die Sache in Ordnung zu bringen. „Wenn das stimmt“, überlegte sie laut, während Chris sich abmühte, das enge, gummiartige Kleidungsstück über ihre kleinen Füße und Beine zu stülpen, „dann bringe ich dir den Goldschatz mit. Dann können wir uns ganz viele Süßigkeiten kaufen. Und du musst nicht mehr arbeiten gehen.“
Da hätte ich definitiv nichts dagegen… „So ein Topf voll Gold wäre wirklich prima“, sagte Chris und gab den Versuch auf, die Strumpfhose vollkommen frei von Falten zu kriegen. „Aber zuerst sollten wir dafür sorgen, dass wir nicht zu spät kommen.“
Mittwoch, 04. November, 09.30 Uhr
Das Rainbow-House in der Milam Street machte seinem Namen alle Ehre. Die Außenfassade war in frohem, strahlendem Gelb gestrichen, das Dach mit karmesinroten Ziegeln gedeckt. Die Eingangstür himmelblau, die Fensterrahmen waren von einem saftigen, dunklen Grün. In grellem Orange strahlten die beiden Säulen, die das kleine Vordach trugen und gleich zwei Zinnsoldaten den Eingang flankierten, und in lila Lettern prangte in comicähnlicher Schrift ‚Welcome to Rainbow-House‘. Einzig ein Lebkuchenhaus hätte womöglich noch als größerer Anzugsmagnet für Kinder wirken können.
Elise stand mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund staunend auf dem Gehsteig. „Was steht da, Daddy“, fragte sie, mit ausgestrecktem Arm auf den Schriftzug zeigend.
„Herzlich Willkommen im Rainbow-House“, las Chris.
Die Tür war verschlossen und auf sein Läuten hin erfolgte zunächst keine Reaktion. Elise trat bereits unruhig von einem Fuß auf den anderen und wollte gerade anfangen, zu nörgeln, als eine Frau mittleren Alters mit knallpinkem Kostüm und lustiger Hochsteckfrisur an die Tür kam und von innen öffnete. Ihr Lächeln sprühte vor Lebensfreude. „Sie müssen die Taylors sein“, sagte sie strahlend. „Herzlich Willkommen im Rainbow-House.“ Sie reichte Chris die Hand, ging dann in die Hocke, um auf Augenhöhe mit Elise zu sein, und begrüßte auch sie mit Händedruck. „Du bist also Elise? Ich finde deinen Namen wunderschön. Ich bin Maya.“
„Hallo Maya“, sagte Elise weniger schüchtern als Chris vermutet hatte.
„Na, dann kommt doch erst einmal herein“, schlug Maya vor und führte Vater und Tochter durch einen schmalen Gang, von dem zu beiden Seiten verschiedenfarbige Türen abgingen. An den hellbeige getünchten Wänden hatte sich eine Vielzahl Kinder durch bunte Abdrücke ihrer kleinen Hände verewigt.
„Unser Kindergarten hat drei Gruppen“, begann Maya zu berichten. „Die Blue Birds, die Red Rabbits und die Green Guyneas. Das ist die Gruppe, in der ich einen Platz für dich habe“, erklärte Maya und wies auf eine grüne Tür mit einem großen Bild eines Meerschweinchens. „Das gelbe Zimmer dort hinten ist mein Büro. Ich würde vorschlagen, dass ich dich zuerst in deiner Gruppe vorstelle und du dich dort umschaust. Währenddessen kann ich mit deinem Vater noch ein paar langweilige Erwachsenendinge besprechen und danach holt er dich wieder hier ab. Megan ist sehr nett. Sie und ich betreuen die Green Guyneas.“
Elise warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu, der offenbar heißen sollte: Ist das okay, was Maya vorschlägt? Chris nickte beruhigend. „Es dauert auch bestimmt nicht lange“, versprach er und hielt sich im Hintergrund, während Maya die grüne Tür öffnete und mit Elise an der Hand in eine lärmende Gruppe Kinder trat.
Der Gruppenraum war größer als er von außen den Anschein hatte und verfügte über einen riesigen Mal- und Basteltisch, eine Puppenkuschelecke, eine Baunische, eine Lesecouch und über jede Menge weiterer Spielsachen. Ein absolutes Traumparadies, das jedes Kinderherz schneller schlagen ließ. Über allem dominierte ein gigantischer Regenbogen, aus klitzekleinen Mosaiksteinchen zusammengeklebt, die Decke und spannte sich über zwei gegenüberliegende Wände bis zum Boden. Wow, staunte Chris und hob beeindruckt die Brauen. Hier steckte so viel Liebe und Hingabe in jedem Detail, dass das Große und Ganze wirklich atemberaubend war.
Während er noch immer fasziniert die Aufmachung des Gruppenzimmers begutachtete, hatte Elise es sich bereits, an der Hand eines anderen Mädchens, mit ein paar Plastikzootieren in der Bauecke bequem gemacht.
Eine Frau mit blonder Kurzfrisur und lila Haarspitzen winkte ihm lachend zu. Megan, kombinierte Chris und winkte vorsichtig zurück.
Die beiden Erzieherinnen besprachen sich kurz, dann kam Maya zurück und schloss die Tür hinter sich. Schlagartig war der Lärm gedämmt und Chris fühlte sich, als ob er gerade aus einer laut beschallten Diskothek ins Freie getreten wäre.
„Folgen Sie mir, Mr. Taylor“, forderte Maya ihn auf und ging zielstrebig auf die kanariengelbe Tür zu, hinter der sich ein kleines Büro voll farbenfroher Regale, Möbel und Ordner auftat.
„Ihr Haus macht seinem Namen wirklich alle Ehre“, stellte Chris fest, während er sich auf einem roten Stuhl niederließ.
Maya nickte stolz. „Farben sind unheimlich wichtig. Sie bringen Abwechslung und Fröhlichkeit in unser Leben. Aber kommen wir zum Formellen. Sie sagten am Telefon, Sie seien alleinerziehend?“
Chris nickte. „Ja, das stimmt.“ Mit der folgenden Pause versuchte Maya wohl zu bezwecken, dass er ihr weitere Details zu dieser Situation preisgab, doch Chris konnte solche unausgesprochenen Andeutungen meisterhaft ignorieren.
Als die Pause zu lange zu werden drohte, räusperte sich Maya und fuhr fort: „Und ich nehme an, Sie sind berufstätig?“
„Richtig. Ich arbeite bei der Polizei.“
Ein „Oh“ in zweideutigem Tonfall. „Das bedeutet, Sie arbeiten Schicht?“
„Ich hoffe nicht“, sagte Chris. Er konnte auf eine Standpauke verzichten, die ihm ins Gewissen reden sollte, dass er als alleinige Bezugsperson für seine Tochter auch noch unregelmäßige Arbeitszeiten hatte. „Jedenfalls nicht regelmäßig“, fügte er vorsichtshalber hinzu.
Maya zog die Stirn kraus, gab sich aber mit der Aussage zufrieden. „Unsere Betreuungszeiten dauern von sieben Uhr früh bis fünf am Abend. Freitags ist bereits um halb zwei Schluss. Im August und im Dezember ist das Rainbow-House für jeweils drei Wochen geschlossen.“
„Das passt“, sagte Chris und verteilte im Kopf bereits seinen Jahresurlaub.
„Prima. Zum finanziellen Teil… Unser Haus ist geringfügig teurer als die umliegenden Einrichtungen. Das rührt daher, dass…“
„Wenn es Elise hier gefällt, dann werde ich sie anmelden“, versuchte Chris eine lange Sache kurz zu machen. Geld spielte in Bezug auf seine Tochter keine Rolle.
„Na dann“, sagte Maya abschließend. „Ich gebe Ihnen die Anmeldedokumente mit. Wir können Ihre Tochter gemeinsam abholen und Sie besprechen das in aller Ruhe zu Hause mit ihr. Ich warte dann morgen auf Ihren Anruf.“
Freitag, 06. November, 13.30 Uhr
Es gab noch so vieles zu erledigen und die Zeit raste. Chris hatte zwar bereits den kürzesten Weg zum Supermarkt und eine preisgünstige Tankstelle mit Imbiss in der Nähe gefunden. Es gab zwei Spielplätze, die für Kinder in Elises Alter geeignet waren; bei keinem von ihnen würde er sie jedoch unbeaufsichtigt spielen lassen. Ein Frisör bot seine Dienste direkt in der Finn Street und nur drei Häuser entfernt an, so dass er sich am Morgen noch einen neuen Haarschnitt gegönnt hatte, bevor er nach dem Wochenende seinen neuen Job begann. Die Wartezeiten auf den Ämtern hatten ihm täglich einen Strich durch die straffe Planung gemacht, doch mit dem Ende der Woche waren Elise, er und sogar das Auto erfolgreich umgemeldet. Christian Taylor und seine Tochter waren nun offizielle Bürger der Stadt Shreveport.
Der wichtigste Punkt, der für dieses Wochenende noch anstand, lautete: einen Taco-Bell finden, denn Elise liebte die mexikanischen Köstlichkeiten, die diese Fastfoodkette anbot.
Als Chris sein glückliches, blondes Mädchen nach Kindergartenende abholte, kam ihm in den Sinn, dass sie ihm einiges voraus hatte. Sein anstehender Neubeginn beim Shreveport Police Department lag ihm schwer im Magen. Während Elise diese Hürde mit Leichtigkeit genommen hatte, bereitete Chris allein der Gedanke an neue Kollegen, neue Fälle, neue Vorgesetzte Bauchschmerzen. Ein neuer Partner…
Es war nicht einfach, jemanden zu finden, bei dem die Chemie stimmte, das Ganze harmonierte, so dass man über Jahre hinweg den Großteil des Tages mit ihm verbringen konnte. In Milwaukee hatte Chris damals großes Glück gehabt. Auf eine solch glückliche Wiederholung konnte er wohl nicht hoffen.
„Wir haben heute gebacken, Daddy“, erzählte Elise in kindlicher Aufregung. „Einen Regenbogenkuchen. Der hatte alle Farben. Rot, gelb, lila, blau, grün… Sogar orange!“
Chris grinste. Lebensmittelfarbe… aber wenn es die Kleinen nun einmal glücklich machte. Skittles waren auch nicht gesünder und diese Bonbons aß er für sein Leben gern.
„Habt ihr dafür extra einen Regenbogen vom Himmel geholt?“, fragte Chris in vorbildhafter Vatermanier.
„Ne-in!“, sagte Elise und schlug sich die Hand an die Stirn. „Ach Daddy. Du weißt ja gar nichts.“
Er lachte. „Dann wirst du es mir wohl erklären müsse. Aber zuerst musst du mir verraten, ob der Kuchen dich so satt gemacht hat, dass du heute keine Lust mehr auf Taco-Bell hast.“ Vorsorglich hatte er den Gilbert Drive bereits ins Navigationssystem seines Wagens eingespeichert. „Und ein paar neue Klamotten müssen wir dir auch noch besorgen. Was hältst du von einem lustigen Vater-Tochter-Tag?“
Elises Augen strahlten noch heller als zuvor. „Juhu! Taco-Bell!“, jubelte sie.
Freitag, 06. November, 17.55 Uhr
Eine Woche voll Höhen und Tiefen lag hinter ihr und als Hope sich auf ihr weiches, weißes Kuschelsofa fallen ließ, fühlte sie sich erschöpfter als nach einer Woche voller Nachtschichten. Sie schloss die Augen und lauschte der Stille.
Wenn man davon absah, dass der pubertierende Marvin aus der Nachbarwohnung seine Stereoanlage wieder einmal auf Schwerhörigkeitsmodus eingestellt hatte, war es in dem großen Mehrfamilienhaus tatsächlich ruhig. Noch zu früh für lautes Fernsehprogramm, aber bereits zu spät zum Bohren oder Staubsaugen.
Noch zwei Tage zum Vorbereiten auf den großen Tag am Montag. Es war die erste, richtige Prüfung, die Hope zu bestehen hatte: die Einführung zweier neuer Kollegen. Und sie war die Chefin, der Boss, der Captain ohne Titel. Ihr Team wusste ihre Leistungen zu schätzen, doch bei den beiden Neuen würde sie sich ihren Status erst verdienen müssen. Dabei bereitete ihr der Frischling weniger Kopfzerbrechen als der gestandene Cop mit der frisierten Akte. Er war älter als sie und ganz sicher würde er sie nicht einfach so als Vorgesetzte akzeptieren, wie sie das von einem jüngeren Kollegen erwartete. Hoffentlich ist er wenigstens nicht so ein chauvinistisches Arschloch wie Rice…
Das erste, lautere Geräusch, das an ihr Ohr drang, war das Knurren ihres eigenen, hungrigen Magens. Hope überlegte, dass sie viel zu müde und viel zu faul dafür war, sich selbst an den Herd zu stellen. Ein Anruf beim China-Restaurant würde zu einem leckereren Abendessen führen als eine Stunde ihrer eigenen mittelmäßigen Kochkünste. Darüber hinaus hatte sie auch kaum Vorräte im Kühlschrank. Ihre Mutter hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
Hope setzte sich auf und blätterte durch die Post der vergangenen Tage, die sie allesamt unbesehen auf dem Wohnzimmertisch gesammelt hatte. Dabei war auch ein Faltblatt ihres Lieblingschinesen gewesen… Neben diverser Rechnungen, fiel ihr ein Brief in die Hände, der die Absenderadresse eines Notariats vorwies. Hope runzelte die Stirn und schließlich siegte ihre Neugier über den Hunger. Mit den Fingern riss sie ungeschickt den Umschlag auf, so dass die Briefmarke in Mitleidenschaft gezogen wurde, was jedem Philatelist das Herz gebrochen hätte.
Während sie die Zeilen überflog, wurde ihr flau im Magen. Was sie hier in Händen hielt, war eine Ladung zu einer Testamentseröffnung.
Kapitel 2
Montag, 09. November, 7.00 Uhr
Viel zu schnell war das Wochenende vorüber und auch wenn es Hope gelungen war, die nagenden Unsicherheiten zwei Tage lange auszublenden, so ließen sie sich jetzt nicht mehr aufhalten. Bereits um fünf Uhr war ihre Nacht vorübergewesen und auch zuvor hatte sie sich lediglich in einem unruhigen Halbschlaf befunden. Jetzt war es Punkt sieben Uhr und sie saß vor ihrem alten Schreibtisch, weil sie nicht den Mut aufbringen konnte, Conrads Büro für sich zu beanspruchen.
Die unterschiedlichsten Gedanken fuhren Achterbahn in ihrem Kopf und wenn sie so recht darüber nachgrübelte, konnte sie nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob die Ampel an der großen Kreuzung auf ihrem Arbeitsweg vorhin grün gewesen war, als sie ohne zu bremsen darüber gerast war.
Wieso erwähnt Conrad mich in seinem Testament?
Wie werden die beiden neuen Kollegen sein?
Um Himmels Willen, der erste von ihnen kommt bereits in einer Stunde!
Hoffentlich lässt sich Mrs. Harper heute nicht wieder blicken, um Conrads Büro auszuräumen.
Auch auf ein weiteres Zusammentreffen mit Rice kann ich gut verzichten.
Was steht in diesem Testament, das mich betrifft?
„Ach Conrad. Wenn deine Frau das erfährt, wird sie toben wie eine Furie.“
„Guten Morgen, Hope!“
Hope fuhr herum und erkannte Adrian. „Hi“, sagte sie. „Du bist aber früh. Wir haben doch gar keinen akuten Fall.“
„Du bist noch früher“, konterte Adrian und legte Rucksack und Jacke ab. „Ich bin ja am Freitag so zeitig weg, da ist ein bisschen Arbeit liegengeblieben. Außerdem können wir nicht unbedingt auf eine weitere ruhige Woche warten.“
„Das stimmt“, nickte Hope. „Hat Sam ihre Präsentation bestanden?“
Adrian zuckte die Achseln. „Wer hätte daran gezweifelt?“, fragte er zurück. „Mit Bravur natürlich. Es wird höchste Zeit, dass ich sie heirate, bevor sie sich einen Klügeren als mich angelt.“ Er lachte, wie nur einer lachen kann, der sich der Liebe seiner Partnerin absolut sicher ist.
„Auf Hochzeiten gibt es immer leckeren Kuchen“, kommentierte Hope. Es wurde höchste Zeit, ins Büro zu gehen. Hier im Gruppenraum an ihrem alten Arbeitsplatz konnte sie unmöglich ein Kennenlerngespräch mit den neuen Kollegen führen. Außerdem musste sie ihren Schreibtisch für Detective Christian Taylor räumen. „Wenn du kurz Luft hast, könntest du vielleicht Samuel Bescheid sagen, dass er meinen Computer in Conrads Büro verkabelt? Allerdings erst wenn ich mit den Gesprächen durch bin.“
„Klar“, sagte Adrian. „Hollister arbeitet sowieso erst nach dem Mittagessen. Davor ist der Freak zu nichts zu gebrachen.“ Er zwinkerte und Hope ärgerte sich darüber, dass sie sich durch diese Geste geschmeichelt fühlte.
Adrian ist vergeben. Punkt, mahnte sie sich streng. Kannst dir ja Taylor anlachen. Auf dem Foto sieht er ja auch ganz nett aus.
Ein wenig schwermütig erhob sie sich und verabschiedete sich still von ihrem Schreibtisch. Sie hatte diesen Platz geliebt. Eine eigene Nische und trotzdem in der großen Gruppe. Mit ihrem Umzug in das Einmannbüro des Captains kam ihr automatisch eine von den anderen isolierte Stellung zu, mit der sie sich noch nicht anfreunden konnte.
Um kurz vor acht war Hope endlich startklar für erste Gespräch und sie war froh, dass Detective Taylor noch nicht da war. Als er jedoch zwanzig Minuten später immer noch auf sich warten ließ, schwang ihre Erleichterung in Ärger um. Für neun war ja bereits Luke Dorian bestellt und danach hätte sie die beiden neuen Kollegen gerne noch im Team eingeführt. Danach war ein gemeinsames Mittagessen im Bistro, welches im Erdgeschoss des Gebäudes gelegen war, vorgesehen. Dabei konnten sie sich gegenseitig besser kennenlernen. Hope konnte es nicht leiden, wenn man ihren Zeitplan durcheinander brachte, ohne dass sie etwas daran ändern konnte.
Montag, 09. November, 8.00 Uhr
Der Verkehr war die Hölle. Aber das war ja mal wieder typisch. Wenn es darauf ankam und Chris es eilig hatte, wollte einfach nichts laufen. Irgendein Schicksalsgott schien sich auf seine Kosten einen Spaß zu gönnen.
Erst hatte Elise nicht aufwachen wollen, dann war ihr beim Frühstück das Toast zu dunkel und die Milch zu heiß gewesen. Die Cornflakes waren nicht süß genug und nachdem die Milch endlich eine trinkbare Temperatur angenommen hatte, war sie mit einer Haut überzogen, die Elise eklig fand. Ihre Lieblingsstrumpfhose hatte ein Loch im Knie, das Chris zuvor nicht aufgefallen war, und es gab Tränen, weil die neue Strumpfhose am großen Zeh kniff. Deshalb bestand Elise darauf, ihre Sandalen zu tragen, was Chris ihr bei Regen und für Louisiana untypisch kalten Wind nicht erlauben konnte. Das Haarekämmen ziepte so sehr, dass Chris es schließlich aufgab und seine Tochter im Bed-Head-Look zum Kindergarten brachte.
Auf dem Weg fiel ihm auf, dass er das Pausenbrot für sie zu Hause neben der Spüle vergessen hatte, und so verloren sie noch unnötig viel Zeit in der Menschenschlange vor einer Bäckerei, in der heute nur eine Bedienung Dienst hatte. Dann waren die Laugenbrötchen aus und auch die Donuts mit dem hellen Überzug. Elise schmollte und erklärte Hungerstreik.
Nachdem er seine kleine Zicke endlich im Rainbow-House abgeliefert hatte, benötigte Chris fünf Minuten, um wieder herunterzukommen und sich zu sammeln. Dann fuhr er los, um geradewegs in den nächsten Verkehrsstau zu düsen und zwischen wütend hupenden Autos zu warten, bis irgendein dämlicher Truckfahrer sein gigantisches Gefährt in aller Seelenruhe rückwärts in irgendeine viel zu kleine Einfahrt gelenkt hatte.
Es war bereits viertel nach acht, als er seinen Wagen in das für Mitarbeiter der Polizei reservierte Parkhaus des Shreveport Police Departments lenkte und glücklicherweise recht schnell einen Parkplatz fand.
Gleich am ersten Arbeitstag zwanzig Minuten zu spät zu erscheinen, versprach beste Voraussetzungen! Damit kann ich mir der überschwänglichen Sympathien der neuen Kollegen sicher sein! Murphy lässt grüßen…
Hastig schwang er sich aus dem Fahrersitz und eilte durch die Eingangstür ins Gebäude, wo ihm eine Hitzewelle entgegenschlug und kräftiger Kaffeegeruch verführerisch empfing. Ohne weiter darauf zu achten, ging er zielstrebig zum Aufzug und wartete ungeduldig, bis die Türen sich öffneten.
In seinem Brief zur Einstellung stand, dass er sich in Zimmer 205 im zweiten Stock bei Detective Cromworth einzufinden hatte. Um acht! Mittlerweile war er gut eine halbe Stunde in Verzug. Blieb nur zu hoffen, dass sein neuer Chef kein Erbsenzähler war.
Aus dem engen Fahrstuhl heraus, blickte Chris sich nach beiden Seiten um, um abzuschätzen, in welcher Richtung Zimmer 205 lag. Er entschied sich für links und stellte fest, dass es tatsächlich die richtige Entscheidung gewesen war. Unmittelbar vor der steril-weißen Tür, die einen krassen Gegensatz zu den fröhlichen Farben des Rainbow-House bildete, angekommen, fühlte Chris seinen schnellen Herzschlag. Doch es blieb keine Zeit mehr, sich zu sammeln, und so klopfte er schwer atmend an.
Eine Frauenstimme bat ihn herein und während er noch grübelte, wie reich die Shreveporter Polizei sein musste, wenn sich Detective Cromworth eine Vorzimmerdame leisten konnte, trat er ein und hielt dann perplex im Türrahmen inne. Detective Cromworth konnte sich keine Vorzimmerdame leiste, die Vorzimmerdame war Detective Cromworth!
Montag, 09. November, 8.37 Uhr
Hope schaute demonstrativ auf die Uhr, als Detective Christian Taylor zur Tür hereinstolperte. „Schön, dass Sie es auch noch für nötig halten, zum Termin zu erscheinen“, empfing sie ihn, vielleicht ein wenig zu bissig, doch Unpünktlichkeit war eine Untugend, die Hope verabscheute. Wenn er bereits an seinem ersten Arbeitstag über eine halbe Stunde zu spät zum Dienst erschien, dann konnte sie sich die Verlässlichkeit dieses Kollegen bei zukünftigen Fällen an drei Fingern abzählen.
„Es tut mir leid, Detective“, sagte Taylor und besaß wenigstens so viel Anstand, ein schuldbewusstes Gesicht zu machen. „Der Verkehr… Ich bin erst seit einer Woche in der Stadt. Es wird nicht wieder vorkommen.“
Das kann ich abwarten. „Das käme mir sehr entgegen“, erklärte Hope. „Setzen Sie sich, Chris.“
„Detective Taylor“, berichtigte er sie und Hope war einen Moment lang verwirrt. „Ich zeihe es vor, einander auf der förmlichen Ebene zu begegnen“, führte Christian Taylor aus.
Arrogant also. Davon stand nichts in der Akte. Vielleicht war das der Grund, warum die Kollegen aus Milwaukee ihn loswerden wollten…
„Gut.“ Hope sammelte sich wieder und setzte erneut an: „Setzen Sie sich, Detective Taylor.“
Sie wartete, bis der neue Kollege ihrer Aufforderung nachgekommen war. Dann stellte sie sich vor: „Ich bin Detective Hope Cromworth und ich leite die Abteilung für Kapitalverbrechen. Ich weiß nicht, inwieweit man Sie über die Neustrukturierung unseres Teams in Kenntnis gesetzt hat. Neben Ihnen wird es noch einen weiteren neuen Kollegen geben. Die übrigen Teammitglieder stelle ich Ihnen später vor, für zehn Uhr ist ein Meeting angesetzt.“
Taylor nickte. „Prima.“
Hope fand dieses erste Gespräch zwar alles andere als prima, aber bitteschön, wenn er diesen Eindruck hatte, würde sie versuchen, ebenfalls gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Dann erzählen Sie doch kurz etwas über sich.“
Christian Taylor fuhr sich mit der Hand durch die kurze, schwarze Igelfrisur, was Hope als Zeichen dafür wertete, dass er trotz seiner überheblich wirkenden Haltung unter der Oberfläche auch ein wenig nervös war. „Eigentlich steht alles in der Akte, die Sie gelesen haben“, sagte er ausweichend.
Hope blickte ihn streng an. „Eigentlich steht gar nichts in der Akte, die ich gelesen habe“, entgegnete sie ihm. Wieso sind es immer die Arschlöcher, die gut aussehen? Sie erschrak über ihren eigenen abschweifenden Gedanken. „Außer dass Sie lange Zeit in Milwaukee gearbeitet haben. Was war der Grund für Ihre Neuorientierung hier im Süden?“
Detective Taylor hob die Schultern und senkte den Blick. „Es gab diverse Gründe privater Natur, die einen Tapetenwechsel verlangten“, antwortete er kurz.
„Hm“, brummte Hope. Das kann ich mir vorstellen. Doch sie hakte nicht weiter nach. Wie es schien, würde sie mit diesem Menschen niemals Freundschaft schließen, von daher mochte er seine privaten Probleme gern für sich behalten. Sie hatte derzeit genügend eigene Sorgen, die ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. „Sie haben dort aber bereits als Ermittler gearbeitet, ist das richtig?“
„Ja.“ Kurz und bündig.
Hope zwang sich, nicht die Augen zu verdrehen. Bei einem Bewerbungsgespräch hätte er definitiv verloren. „Es ist schade, dass wir nicht mehr Zeit haben, uns näher kennen zu lernen“, sagte sie mit einer gewissen Ironie, „doch, wie bereits erwähnt, habe ich gleich noch ein Gespräch mit dem zweiten neuen Kollegen. Ich werde Detective Glover bitten, Ihnen Ihren neuen Schreibtisch zu zeigen, dann können Sie sich ein wenig mit Ihrem neuen Job hier bekanntmachen. Er wird Ihnen auch das Besprechungszimmer zeigen, wo wir uns um zehn Uhr zusammenfinden. Und zwar pünktlich.“
Taylor hob den linken Mundwinkel und bewegte den Unterkiefer, verzichtete jedoch auf einen Kommentar zu ihrer spitzen Bemerkung.
Sollte Adrian sich mit ihm herumschlagen. Vielleicht hatte der ja mehr Glück. Blieb nur zu hoffen, dass Luke Dorian ein angenehmerer Zeitgenosse war.
Montag, 09. November, 9.55 Uhr
Luke Dorian war das exakte Gegenteil von Detective Christian Taylor, sowohl optisch, als auch charaktermäßig. Der blonde, junge Cop mit der hellen Haut und den blauen Augen war aufgeschlossen und sichtlich glücklich darüber, dass Hope ihn mit Vornamen ansprach. Er sprudelte wie ein Wasserfall von seinem bisherigen Aufgabenfeld – hauptsächlich bei der Highway Patrol – und von Kollegen und seiner Ausbilderin, die ihn alle in seiner Entscheidung, zur Kriminalpolizei aufzusteigen, unterstützt hatten. Luke war ambitioniert und freundlich und Hope war sicher, dass er sich gut in ihr Team einfinden würde. Im Gegensatz zu Taylor, der um seine Person und Vergangenheit ein riesengroßes Geheimnis machte. Irgendetwas hatte dieser Typ zu verbergen und seit ihrer Fehleinschätzung bezüglich Bertram Sand, der vor wenigen Wochen alles zerstört hatte, was Hope lieb und teuer war, war sie ein gebranntes Kind. Dem gutaussehenden Dunklen konnte sie nur mit Distanz und Misstrauen begegnen.