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Hope eröffnete die Teamsitzung, zu der tatsächlich ausnahmslos alle rechtzeitig erschienen waren, mit gemischten Gefühlen. Sie blickte in die Runde und versuchte sich vorzustellen, wie die ‚Alteingesessenen‘ mit den beiden Neuen zu einer funktionierenden ‚Familie‘ zusammenwachsen konnten. Mit Detective Taylor gab es dazu wahrscheinlich keine Chance.
„Einen wunderschönen, guten Morgen. Ich danke euch, dass ihr alle eure Arbeit liegen gelassen habt und zur Einführung unserer beiden neuen Kollegen erschienen seid“, sagte Hope und überlegte, ob Taylor die verallgemeinernde, informelle Anrede des gesamten Teams bereits schon als persönliche Beleidigung betrachtete. Jedenfalls würde sie darauf keine Rücksicht nehmen. Sie mochte ihm als Einzelperson den von ihm geforderten Respekt durch Nachnamensnennung entgegenbringen, aber hier waren sie ein Team, auf das sie sich verlassen musste und zu dem sie auch eine gewisse Beziehung aufbauen wollte. Deshalb konnte sie Taylors Sonderstatus in dieser Hinsicht kein Verständnis entgegenbringen.
„Bevor ich große Reden schwinge, überlasse ich den zweien die Vorstellung ihrer Person selbst. Vorher fände ich es schön, wenn jeder von uns kurz etwas über sich selbst berichtet, damit unsere Kollegen einen kleinen Einblick in unser Team erhalten. Zum besseren Kennenlernen in ungezwungenerem Rahmen habe ich ein teaminternes Mittagessen unten im Bistro um zwölf Uhr veranschlagt. Adrian, darf ich dir das Wort als erstes übergeben?“
„Selbstverständlich“, nickte Adrian und straffte den Rücken. „Ich bin Detective Adrian Glover und seit acht Jahren in der Abteilung für Kapitalverbrechen. Bisher habe ich immer mit meinem Partner Marc zusammengearbeitet; durch die aktuelle Umstrukturierung werde ich in nächster Zeit jedoch mit Grace im Team ermitteln.“
„Grace bin ich“, verstand Grace Adrians Kopfnicken richtig. „Grace Packet.“
„Oder Bambi, weil sie noch so jung ist“, zwinkerte Marc.
Die rothaarige Detective lachte. „Oder Bambi. Gemeinsam mit unserem ehemaligen Kollegen Bertram Sand war ich unter anderem für die Zusammenarbeit mit der Justiz zuständig, was ich fortan als Hauptaufgabengebiet übernehmen werde. Und damit gebe ich weiter an den alten Marc.“
„Touché“, sagte Marc. „Detective Marc Williams. Wir haben uns ja bereits eben kurz kennengelernt“, erklärte er mit einem Nicken in Richtung Luke Dorian, „und ich glaube, dass wir ein ziemlich gutes Team abgeben werden. Ich fürchte, viel mehr gibt es von mir gar nicht zu berichten. Mein Lebenslauf gleicht dem meines werten Kollegen Glover.“
„Abgesehen davon, dass Marc mit unserer Gerichtsmedizinerin liiert ist“, warf Adrian ein. Alle lachten.
Abgesehen von Taylor.
„Luke?“, richtete Hope sich an den Jüngsten in der Runde.
„Ich bin Luke Dorian“, begann der Aufgeforderte. „Noch nicht Detective, aber ich hoffe, mit euch im Team einer zu werden. Bisher war ich hauptsächlich auf dem Highway unterwegs. Verkehrskontrollen, Unfälle, auch die eine oder andere Polizeiverfolgung. Ich bin jetzt Ende zwanzig und damit in einem Alter, wo ich mich neu orientieren möchte.“
„Ruhiger als auf der Straße geht es hier aber bestimmt auch nicht zu“, warnte ihn Marc.
Luke grinste breit. „Das hoffe ich doch“, verkündete er.
„Taylor“, kam Hope zum letzten Kollegen in der Runde.
Der Angesprochene hob den Kopf und für den Bruchteil einer Sekunde hielt er ihren Blickkontakt, was in Hope undefinierbare Gefühle heraufbeschwor. Sie war regelrecht erleichtert, als er wieder seine stoische Miene aufsetzte und mit seiner Vorstellung begann. „Detective Christian Taylor. Ich habe in Milwaukee ebenfalls für die Abteilung für Gewalt- und Kapitalverbrechen gearbeitet, habe also bereits einige Jahre Erfahrung in der Sache.“ Kurz und bündig. Wie zu erwarten war.
Wir werden ein absolutes Dream-Team, seufzte Hope, bemühte sich aber darum, ein heiteres Gesicht an den Tag zu legen.
„Marc, wäre es für dich in Ordnung, wenn du unsere beiden neuen Kollegen durchs Präsidium führst? Chief Rice wäre bereit, sie gegen elf-dreißig persönlich zu begrüßen. Mache sie mit allen wichtigen Leuten bekannt.“
„Klar – Boss“, sagte Marc und Hope registrierte die ungewollte Pause zwischen den beiden Worten. Luke wollte Detective werden, sie musste Captain werden. Boss wollte sie jedenfalls nicht sein. Das klang so böse und hatte einen überheblichen Beigeschmack. Nicht ihr Stil.
„Grace, du könntest mir einen großen Gefallen tun, indem du mir beim Zusammentragen von Conrads persönlichen Sachen aus seinem Büro hilfst. Alles müsste in Kartons verpackt werden, damit seine Frau sie demnächst abholen kann.“
„Selbstverständlich“, nickte Grace.
„Ich hätte noch ein paar Berichte fertigzustellen…“, vermeldete Adrian kleinlaut.
„Kein Problem. Dein nächster Termin ist erst für zwölf in der Cafeteria angesetzt“, beruhigte ihn Hope.
Montag, 09. November, 16.30 Uhr
Beim Lunch hatte Chris erfahren, dass Williams mit der – laut Erzählungen – superscharfen Leiterin der Rechtsmedizin Lynne Cooper zusammen war. Sein bisheriger Partner Glover war verlobt mit einer Frau, die in einem früheren Fall eine tragende Rolle gespielt haben musste; mehr wollten die Kollegen jedoch offenbar nicht preisgeben. Nicht, dass es ihn näher interessiert hätte. Es war nur so ungerecht, dass es bei allen anderen mit der Liebe funktionierte, während bei ihm…
Er schluckte und verscheuchte den Gedanken, ehe er ihn zu Ende führen konnte.
Es war Vergangenheit.
Und er hatte schmerzlich gelernt, dass man an der Vergangenheit nichts ändern konnte.
Menschen lernten aus ihren Fehlern, doch das half ihm in dieser Situation auch nicht weiter.
Sie war weg.
Und sie würde nie mehr zurückkehren.
Jetzt hatte er den unliebsamen Gedanken doch weiterverfolgt. „Ach, scheiß drauf!“, schimpfte er laut und lenkte seinen Wagen mit quietschenden Reifen aus der Parklücke.
Bambi-Grace war noch jung und unvergeben. Eigentlich hätte Detective Cromworth ihr den Jungspund Dorian als Partner zuweisen sollen. Die beiden hätten sicherlich nicht nur auf geschäftlicher Ebene prima harmoniert… Dann hätte er vielleicht das Glück gehabt, mit Glover zusammenarbeiten zu können.
Stattdessen würde die Chefin persönlich sich seiner annehmen.
Cromworth war eigentlich viel zu hübsch für diesen verhärmenden Job. Aber er war nicht hierhergekommen, um denselben Fehler noch einmal zu begehen. Er hatte sich geschworen auf Abstand zu gutaussehenden Frauen zu gehen, um nicht wieder derart leiden zu müssen wie in Milwaukee. Noch einmal könnte er das nicht ertragen.
Chief Solomon Rice war, nach seiner ersten Einschätzung, ein absolutes Arschloch und Chris konnte dankbar dafür sein, dass er in seiner Position als einfacher Ermittler – wahrscheinlich abgesehen vom Zusammensitzen beim feierlichen Bankett zu Thanksgiving – nicht viel mit ihm zu tun haben würde.
Der Technikfreak… Chris grübelte, bis er auf den Namen kam. Samuel Hollister. Einen wie ihn gab es wohl auch in jeder Polizeiwache. Die übrigen Personen, mit denen Williams ihn bekannt gemacht hatte, würde er nicht mehr auf die Reihe bekommen. Das brauchte Zeit.
Wie so Vieles Zeit brauchte.
Viel Zeit.
Montag, 09. November, 16.45 Uhr
Abgesehen von Adrian war das Großraumbüro leer, als Hope es betrat, um sich endgültig von ihrem alten, liebgewonnenen Schreibtisch zu verabschieden. Die übrigen hatten sich einen frühen Feierabend erlaubt, was ihnen nach den Strapazen der letzten Wochen absolut zustand. Die nächste Ermittlung würde nicht lange auf sich warten lassen und dann hieß es wieder Überstunden klopfen und Nachtschichten ackern.
„Was hältst du von den beiden Neuen?“, fragte Adrian mit ehrlicher Direktheit.
Hope hob die Schultern und ließ sich auf einem Stuhl neben ihm nieder. „Ich bin mir nicht sicher, ob sie in unser Team passen“, seufzte sie.
Adrian nickte verständnisvoll. „Keiner ist Conrad“, brachte er die Sache auf den Punkt.
Hope stützte die Ellbogen auf seinem Tisch ab und vergrub müde das Gesicht in den Händen. „Keiner ist Conrad“, wiederholte sie durch ihre eigenen Hände gedämpft. Dann rieb sie sich über die Augen und drückte den Rücken gerade. „Luke ist in Ordnung, aber es beruhigt mich, dass Marc ihn unter seine Fittiche nimmt. Ich glaube, dass seine Unerfahrenheit ihm im Ernstfall zum Verhängnis werden könnte, wenn er nicht einen guten Lehrer an seiner Seite hat. Aber ich denke, er wird es zum Detective schaffen.“
„Ja, das trifft meine eigene Einschätzung. Wir haben alle einmal klein und unerfahren angefangen und wir haben alle einen Mentor, zu dem wir aufblicken.“
Ich habe meinen Mentor verloren… „Deshalb hat er ja auch meine volle Unterstützung. Und Taylor ist ein seltsamer Kauz.“
Adrian lachte. „Das haben die Leute aus dem Norden doch so an sich.“
„Ich dachte, das zählt nur für Boston“, scherzte Hope. „Nein, im Ernst. Ich kann ihn nicht einschätzen und das macht mich unsicher ihm gegenüber.“
„Ich weiß, was du meinst. Er wirkt ein wenig undurchsichtig und grimmig. Aber wir wissen nicht, was der Job aus ihm gemacht hat. Uns haben die Ereignisse in diesem Jahr auch verändert. Jeden von uns.“
„Das stimmt“, überlegte Hope. „Vielleicht mache ich mir auch einfach zu viele Gedanken.“
„Definitiv“, stimmte Adrian ihr zu. „Ich mache jetzt Feierabend. Vielleicht solltest du das auch tun.“
„Mache ich“, sagte Hope. Sie wollte nur noch die Einstellungen an ihrem Computer überprüfen, den Samuel ihr im Laufe des Tages in ihrem neuen Büro installiert hatte. „Wir sehen uns dann morgen.“
Hope fuhr den PC hoch und versuchte, sich dabei bequem im Sessel zu positionieren. Wie immer, wenn sie nur kurz etwas nachsehen wollte, gestaltete sich diese Kürze zu einer ausgedehnten Computersitzung. Als mit Wucht die Tür aufgerissen wurde, war Hope vollkommen verdattert.
Heute in schwarzem Ledermantel mit großen, goldenen Stickereien auf Rücken, Armen und am Saum gekleidet, stürmte Mrs. Harper ins Büro. Mit zornesgerötetem Gesicht kam sie gerade noch rechtzeitig vor Hopes Schreibtisch zum Stehen.
Hope blieb nicht einmal die Zeit, den Mund zu öffnen, da prasselte eine wüste Schimpftirade wie eisige Hagelkörner auf sie herab.
„Wie können Sie es wagen, die persönlichen Habseligkeiten meines Mannes, die jetzt mein Eigentum sind, ohne mein Einverständnis lieblos in Kartons zu werfen? Das ist ja wohl die Höhe! Was bilden Sie sich eigentlich ein, wer Sie sind? Als er noch lebte, da haben Sie ihn ausgenutzt und er war so dämlich, auf Sie hereinzufallen, Sie elendes Flittchen!“
Hope platzte beinahe vor Wut. „Ich glaube, es war eher dämlich von ihm, dass er auf Sie hereingefallen ist!“
„Wie bitte?“, schrie Mrs. Harper mit überschlagender Stimme und schnappte stoßweise nach Luft, so dass ihre aufgespritzten Lippen wie das vorstehende Maul eines Fisches auf dem Trockenen wirkten. Wie sie sich aufführte, hatte sie nichts mehr mit der Königin der Nacht gemein. Diese wahrte wenigstens ihre Würde. „Das ist ja wohl die Höhe. Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren, darauf können Sie sich verlassen! Solch eine Dreistigkeit muss sich eine arme Witwe wohl kaum gefallen lassen!“
Mit wehendem Mantel fuhr sie herum und raste wie eine Furie aus dem Zimmer.
Noch ehe Hope das Ausmaß dessen, was eine Beschwerde dieser unverfrorenen Dame bei Chief Rice ausrichten konnte, abschätzen konnte, war Mrs. Harper auch schon wieder zurück. In Begleitung des Chiefs höchstpersönlich. Für gewöhnlich dauerte es Tage, bis Solomon Rice einen Termin freihatte, doch offenbar war es ihm eine besondere Herzensangelegenheit, Hope so schnell wie möglich aus ihrem Amt zu entheben.
„Hier sehen Sie, Chief“, sprudelte Mrs. Harper, die jetzt eine mitleidssuchende Miene aufgelegt hatte. „Alles weg. Eigenmächtig hat Ihre Detective die wertvollen Erinnerungen an meinen Mann ohne Rücksicht auf mögliche Schäden, die zerbrechliche Dinge nehmen könnten, in Kisten gesteckt. Und als ich sie höflich darauf hingewiesen habe, dass dies ein unangebrachtes Verhalten sei, war diese unverschämte Person sogar noch in der Lage, mich zutiefst zu beleidigen.“
Hope traute ihren Ohren nicht. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und erklärte zu ihrer Verteidigung: „Der höfliche Ausdruck, den Mrs. Harper mir gegenüber gebraucht hat, war Flittchen.“
„Was unterstellen Sie mir?“, rief Mrs. Harper konsterniert. „Wertester Chief, nun legt sie mir sogar noch Worte in den Mund, die niemals über meine Lippen kommen würden.“
„Genug“, sagte Rice bestimmt. „Sehen Sie, Miss Cromworth, das genau ist der Grund, warum ich Frauen in Führungspositionen nicht ausstehen kann. Ständig gibt es nur Probleme. Ich hatte Ihnen ja bereits eine Bewährungsfrist angekündigt. Sie sind gerade auf dem besten Weg, dieses Büro schneller zu räumen als Sie es bezogen haben. Das ist meine erste und letzte Verwarnung. Ich werde diesen Zwischenfall in Ihrer Akte vermerken.“
Dass der Chief sie vor den Augen und Ohren dieser widerwärtigen Person zurechtwies und herabwürdigte, übertraf wirklich alles. Hope war den Tränen nahe. Der Zorn über diese Ungerechtigkeit eines offensichtlich abgekarteten Spiels war einfach zu groß. Ich will hier weg. Weit weg. Ihr könnt mich alle mal!
„Mrs. Harper, selbstverständlich wird Cromworth für die Kosten dessen aufkommen, was in ihrem eigenmächtigen Handeln an Ihrem Eigentum zu Schaden gekommen ist.“ Die Worte zogen an Hope vorbei, ohne dass sie sie noch wirklich zur Kenntnis nahm. „Ich weiß, dass das den ideellen Wert des Vermächtnisses Ihres Mannes niemals aufwiegen kann, aber betrachten Sie es als kleine Entschädigung von unserer Seite. Sollte es in Zukunft noch einmal zu neuen Vorfällen dieser oder ähnlicher Art kommen, dann zögern Sie nicht, mein Büro aufzusuchen. Ich wünsche einen schönen Abend.“
Nachdem er aus dem Zimmer und außer Hörweite verschwunden war, setzte Mrs. Harper ein triumphierendes Lächeln auf, bei dem sie die Eckzähne wie Reißwerkzeuge bleckte.
Hope schaltete den Computer aus, ohne ihn herunterzufahren. Sie verspürte nicht die geringste Lust, noch länger unbeobachtet und ohne Zeugen an ihrer Seite in einem Raum mit dieser falschen Schlange zu sein. In Windeseile packte sie ihre Aufschriebe zusammen und erhob sich. Mochte Mrs. Harper doch in Conrads ehemaligem Büro versauern! Jedenfalls würde sie sich nicht die Blöße geben, auch noch in ihrer Gegenwart in Tränen auszubrechen.
Sie wollte gerade an der Frau vorbeieilen, da packte Mrs. Harper sie mit festem Griff am Arm. Hope fuhr herum und blickte direkt in die kalten, grünen Augen. „Wagen Sie es ja nicht, zur Testamentseröffnung meines Mannes zu erscheinen, junge Lady. Das will ich Ihnen nur geraten haben.“
Mit einem energischen Ruck riss Hope sich los. Sie war nicht in der Lage, eine entsprechende Antwort zu formulieren, sie wollte nur noch möglichst schnell hier raus und möglichst viel Distanz zwischen sich und diese unangenehme Dame bringen. Mit eiligen Schritten hastete sie den Flur entlang, nahm zwei Treppen auf einmal und rannte die letzte Teilstrecke im Parkhaus zu ihrem Wagen. Während ihr die Tränen jetzt in Strömen über die Wangen liefen, beschloss Hope, dass sie heute Abend nicht nach Hause fahren würde und lenkte das Auto stattdessen auf den Highway 49 in Richtung Süden.
Kapitel 3
Montag, 09. November, 20.10 Uhr
Vor dem kleinen, hellgelben Haus in der Chester Street in Alexandria parkte Hope ihren Wagen mit den Reifen auf dem Bürgersteig. In diesem Viertel der etwa einhundertzwanzig Meilen südlich von Shreveport ebenfalls am Red River gelegenen Großstadt war die Welt noch in Ordnung. Die englischen Rasen in den von weiß gestrichenen Holzzäunen umgebenen Vorgärten strahlten in saftigem Grün, obwohl es diesen Winter für Louisiana untypisch kalte Temperaturen hatte.
Hopes Mutter liebte Himbeeren, deshalb wirkte der Vorgarten von Haus Nummer Zwanzig kahler als die übrigen in dieser Straße, in denen pompöse Winterblüher in ihrer bunten Pracht miteinander konkurrierten. Ellen Cromworth hatte die Himbeersträucher fachgerecht zurückgeschnitten, damit sie im kommenden Frühjahr wieder austreiben konnten, was ihrem Garten jedoch zum momentanen Zeitpunkt ein recht tristes und verlorenes Aussehen verlieh.
Ihre Mutter stand hinter der Spüle und schaute aus dem Fenster. Als sie Hope erblickte, legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und sie winkte ihr aufgeregt zu, während von ihren Putzhandschuhen in grellem Neon-Pink munter der Spülschaum heruntertropfte. Dann verschwand der dunkle Haarschopf, um kurze Zeit später an der sich öffnenden Haustür wieder in Erscheinung zu treten.
Hope stellte den Schalthebel auf Parken, zog den Zündschlüssel ab und stieg aus.
„Hope!“, rief ihr die Mutter zu. „Was für eine Überraschung! Wieso hast du dich nicht angemeldet, dann hätte ich doch ein Abendessen vorbereitet! Oh…“ Sie hielt in ihrer Freude inne, als sie das verweinte Gesicht ihrer Tochter sah.
„Ich bin spontan hergefahren“, flüsterte Hope und fiel ihrer Mum um den Hals, ganz wie früher, als sie noch Mamas kleines Mädchen gewesen war. Ellen Cromworth war stets der sichere Hafen in ihrem Leben gewesen, eine enge Vertraute, ein Rückzugsort für alle Fälle, ein Auffangnetz, wenn sie ganz tief zu fallen drohte.
Ellen strich Hope sanft über den Kopf wie nur Mütter es tun und sagte: „Komm erst mal herein. Ich mache dir eine heiße Milch und Kekse habe ich auch da. Danach wird es dir gleich viel besser gehen.“
Denselben Effekt wie früher, als Kekse und Milch wirklich jede Kindersorge verscheuchen konnten, hatte das liebevoll zubereitete Frustessen zwar nicht, aber dennoch ging es Hope danach ein wenig besser.
Sie saß auf ihrem breiten Lieblingssessel, wohlig eingemummelt in eine kuschelweiche Decke, den mittlerweile dritten warmen Becher mit dampfender Milch in der Hand. Auf dem Wohnzimmertisch brannte ein Stövchen, auf dem Ellen gerade eine heiße Kanne Tee postierte, während sie in der linken Hand zwei Thermo-Teetassen jonglierte. Dann nahm sie auf der kleinen Couch Platz, die im rechten Winkel zu Hopes Sessel aufgestellt war, und lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu. „Ist es wegen Conrad?“, fragte sie. „Es hat mich tief getroffen, als ich deine Email über seinen Tod gelesen habe.“
„Ich habe eine Ladung zur Testamentseröffnung bekommen.“
„Oh.“
Hope nippte an der noch immer heißen Milch. „Conrads Frau war heute im Präsidium. Sie hat mich Flittchen genannt.“
Ellen legte die Stirn in Falten und wartete auf einen ausführlicheren Bericht und so sprach sich Hope alle Sorgen von der Seele. Sie erzählte vom Zusammentreffen mit Eleanor Harper, von der Feindseligkeit ihres Chiefs und der Arroganz des neuen Kollegen. Ihre Mutter hörte aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, trank schweigend ihren Tee und nickte hin und wieder, um Hope zu signalisieren, dass sie ihr noch folgen konnte.
Als Hope schließlich am Ende ihrer Berichterstattung angelangt war, neigte Ellen den Kopf und blickte ihre Tochter noch eine Weile nachdenklich an. „Woher kommen nur diese tiefen Selbstzweifel?“, fragte sie irgendwann ganz unvermittelt. „Du bist eine starke Frau. Du wirst dich doch nicht von einer Hure im Pelzmantel und einem Arschloch in Uniform kleinkriegen lassen!“
Klare Worte waren typisch für ihre Mum. Das Leben hatte sie geprägt. Nachdem sie mit siebzehn unverheiratet schwanger geworden war, hatten ihre streng katholischen Eltern sie aus dem Haus geworfen. In der Überzeugung, in Hopes Vater den Mann ihres Lebens gefunden zu haben, war sie nach Alexandria gekommen und bei ihm eingezogen. Doch noch ehe Hope das Licht der Welt erblickte, hatte der feige Kerl sich bereits aus dem Staub gemacht und lag bei einer anderen im Bett.
Ellen Cromworth hatte alles alleine geschafft. Arbeit, Kindererziehung, Haushalt… Es hatte Hope nie an etwas gemangelt. Ellen hatte Zeit und Geduld für sie, war liebevolle Mutter und verständnisvoller Vater zugleich, eine gute Zuhörerin und sie hatte ihrer Tochter stets alles ermöglicht, was diese sich in ihren Kopf gesetzt hatte. Hope wusste, was sie ihrer Mutter verdankte.
„Ich bin nicht so stark wie du.“, warf sie ein.
„Aber Conrad war der festen Überzeugung, dass du es bist“, hielt ihre Mum dagegen. „Sonst hätte er dich nicht für seine Nachfolge bestimmt.“
Hope verzog das Gesicht, denn gegen diese logische Argumentation gab es nichts einzuwenden. Der Captain hatte an sie geglaubt und sie gefördert. Bis zum letzten Atemzug, als er sie im Haus der Familie Thomas, in dem sich eine unglaubliche Tragödie zugetragen hatte, am Boden liegend und wohlwissend, dass er sterben würde, ermahnt hatte, sich nicht unterkriegen zu lassen. „Du bist für mich die Tochter, die ich nie hatte“, waren seine Worte gewesen. „Du bist stark und klug. Lass dir von niemandem jemals etwas anderes einreden. Versprich es mir!“
„Wenn Chief Rice mich raushaben will, dann wird er das auch schaffen“, sagte Hope missmutig. „Er ist derjenige mit Macht und Einfluss und die gewinnen immer.“
„Wenn du jetzt alles hinwirfst und davonrennst, dann hat er bereits gewonnen“, schlussfolgerte Ellen. „Und es wird irgendwo irgendwann wieder eine neue Hope geben, die derselben Ansicht sein wird und hinwirft. Außer du beweist heute hier und jetzt das Gegenteil. Nämlich dass es doch möglich ist, den Mächtigen die Macht zu nehmen, den Einflussreichen den Einfluss und den Rechthabern ihre vermeintlichen Rechte.“
Hope seufzte. Das klang alles so einfach. Dabei war es alles andere als das. Und sie war diejenige, die da durch musste. Das konnte ihre Mutter ihr nicht abnehmen. „Was würdest du an meiner Stelle tun?“
Ellen zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht“, gab sie offen zu. „Vielleicht würde ich das Handtuch werfen, um den Chief in seiner Überzeugung, dass Frauen in Verantwortungspositionen nichts verloren haben, zu bestärken. Und der Witwe damit die Genugtuung geben, dass sie mit ihrer Hinterhältigkeit Erfolg hatte. Und Detective Taylor die Möglichkeit bieten, zum Captain deiner Einheit aufzusteigen.“
„Ich hasse es, wenn du so gehässig bist“, murrte Hope, mehr darüber verärgert, dass ihre Mutter Recht hatte als über ihren vor Sarkasmus triefenden Satz. „Taylor wird niemals mein Team leiten. Vorher muss ihm zuerst einmal jemand Manieren beibringen und ihn von seinem hohen Ross holen.“
„Du magst ihn!“, rief Ellen aus und strahlte dabei übers ganze Gesicht.
Hope erstarrte. „Wie bitte? Nein!“, wies sie diese Idee weit von sich. „Niemals. Um Himmels Willen, Mum!“
Ellen lachte und Hope warf in gespielter Beleidigung ein Kissen nach ihr. „Aber er sieht doch bestimmt gut aus, nicht wahr?“, sagte sie neckisch.
„Mum, hör auf damit!“
„Ein kleines, heimliches Techtelmechtel mit einem Kollegen würde dir sicher guttun.“
Hope rollte mit den Augen. „Und mich wahrscheinlich schneller auf den obersten Platz auf Rices Abschussliste katapultieren, als ich Techtelmechtel aussprechen kann. Überhaupt – wer verwendet diesen archaischen Ausdruck heutzutage noch? Sowas kann nur von dir kommen!“
Ellen winkte ab. „Ich übe schon einmal Großmuttersprache“, zwinkerte sie. „Außerdem stehst du bereits auf dem obersten Platz dieser Liste. Egal was du tust oder wie absolut korrekt du dich verhältst, ein Fehler wird dir früher oder später unterlaufen, denn kein Mensch ist perfekt“, prophezeite sie. „Und dann schnappt die Falle zu und das einzige, was dich retten kann, wird die Unterstützung und Loyalität deiner Kollegen sein. Das Vertrauen deines Teams und zwar von jedem einzelnen. Also auch von Detective Taylor. Aber meine Tochter ist schlau, ich bin sicher, ihr wird eine Möglichkeit einfallen, auch seine Sympathie zu gewinnen. Was ist, wollen wir noch eine Folge Desperate Housewives gucken?“, schwenkte sie unvermittelt zu einem vollkommen anderen Thema.
„Diesen alten Kitsch?“, seufzte Hope. „Na los. Wirf die DVD schon ein. Kann ich danach wenigstens hier schlafen?“