- -
- 100%
- +
Beunruhigend, denkt Clare, diese Person hat so viel Ähnlichkeit mit ihr, wie ein enger Verwandter, aber je länger sie ihn betrachtet, desto unsicherer wird sie, ob sie sich das nicht alles nur einbildet.
Er hat eine raue, narbige, gräuliche Haut. Sie hat eine sehr helle, sehr glatte Haut.
Er ist missmutig, kleinlich. Sie lächelt viel, schmeichelt gern.
Es scheint, als ob Essen für diesen Mann eine große Herausforderung darstellt, denn Clare hat bemerkt, dass er seinen Löffel sehr seltsam mit den Fingern der linken Hand hält, die Großtanten ihm allerdings, vor lauter Angst, ihn zu belästigen, gar keine Hilfe anbieten.
Nervenschäden, denkt Clare mit einem Anflug von Mitleid. Und vielleicht auch Gehirnschäden. Sie erkennt einen steinernen, ausdruckslosen Blick in seinen Augen.
»Gerard, mein Lieber! Dies ist eine Nichte von dir – Clare –«
»– eine Nichte, die du noch nicht kennst, mein Lieber. Die wir alle noch nicht kennen – eine große Überraschung …«
Gerard schaut Clare missbilligend an, ohne sie überhaupt richtig zur Kenntnis zu nehmen. Sie ist ein Eindringling, so scheint es; stört sein Frühstück und seine Zeitungslektüre. Er nickt ihr widerwillig zu, murmelt etwas, was Hallo heißen könnte. Oder auch nur ein dunkles Murren war – mh.
»Clare, Liebes, – das ist unser Neffe Gerard, der hier im Haus wohnt – mit uns zusammen –, seit seine Mutter verstorben ist –«
»Der jüngere Bruder deines Vaters, Clare –«
»Nein. Gerard war älter –«
»Nein, war er nicht. Er war jünger …«
»Jünger als Conor – zu jener Zeit. Aber jetzt ist Gerard älter.«
»Na ja, er ist älter geworden. Jedes Jahr, älter geworden.«
»Genau das habe ich doch gesagt! Jedes Jahr, älter.«
Gerard ist ein magerer Wolfshund, mit eingefallen Wangen, immer auf der Hut, jemand, dem unbehaglich wird, wenn man über ihn redet, als wäre er nicht anwesend. Sein Gesichtsausdruck erinnert an den in Kummer und Qual im siebzehnten Jahrhundert von Alessandro Casolani in Öl festgehaltenen Märtyrer St. Bartholomäus. Clare denkt sich, dass die betagten Großtanten mit ihrem Geplänkel – unter dem Vorwand, freundlich und beschützend sein zu wollen – absichtlich die Geduld ihres Neffen auf die Probe stellen wollen.
»– und trotzdem, du weißt es genauso gut wie ich – Gerard ist nicht alt. Gerard ist –«
»– für uns, immer noch ein Junge.«
Irgendetwas an Gerard scheint entstellt, denkt Clare. Sie ist irritiert davon, dass seine Augen so große Ähnlichkeit mit ihren eigenen haben, sie liegen aber tiefer in den Höhlen, von Schatten umrandet. An seinem Kinn sprießen dünne Haare, und seine Wangen zeigen winzige, matt glänzende Blutspuren, so als ob er sich in Eile oder sehr unvorsichtig rasiert hätte. Sein linkes Ohr sieht geschunden aus, beide Ohren sind gerötet. Er trägt zusammengewürfelte Kleidung, eine braune, lockere Tweedjacke, ein schwarzes T-Shirt, Cordhosen. Die Tweedjacke ist alt und an den Ellbogen durchgescheuert, doch ganz offensichtlich aus hochwertiger Wolle; das schwarze T-Shirt verleiht ihm ein salopp priesterliches Aussehen.
»Hallo! Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen – Gerard.«
Eigentlich viel zu vertraulich – Gerard. Clare überlegt sich, ob er von ihr die Anrede Onkel Gerard erwartet hätte.
Obwohl sie sich unwohl fühlt in ihrer Haut, schafft Clare es doch, Optimismus und Freude auszustrahlen. Im Zweifelsfall ist es für eine attraktive jüngere Frau einfach klug, die Naive zu spielen. Sie möchte gemocht werden! – unbedingt. Ist Clare denn nicht Gerards lang verloren geglaubte Verwandte, irrtümlicherweise als Waisenkind weggegeben? Sollte Gerard sie nicht eher anlächeln, mit einem Gesicht, das wundersames Erstaunen ausdrückt, ein herzliches Willkommen?
Sollte Gerard nicht von seinem Stuhl aufspringen, zu ihr hineilen, sie umarmen? – sodass seine starken Arme ihre Rippen zu zerquetschen drohen?
Sollte Gerard nicht ihre Wangen küssen, sie freudig anlachen, mit ihr lachen?
Doch der finstere Gerard bewegt nur leicht seine Schultern unter der Tweedjacke. Clare hört ihn etwas murmeln wie ja oder ah. Kein Zweifel, er ist verärgert, weil er beim Zeitunglesen gestört wird, die gefaltet neben seiner Porridgeschüssel liegt.
»Ich bin Clare. Ich glaube – deine Nichte? Ich meine – eine deiner Nichten …«
Wie absurd! Clare merkt, dass ihr Gesicht brennt, wie peinlich. Als Kind ist man Personen wie Gerard gegenüber leicht verletzlich, genauso wie gegenüber etwas älteren Kindern, die einen mit ihrem undurchschaubaren, scheinbar feindseligen Verhalten einschüchtern; man erkennt, dass sie einen verachten oder zumindest ablehnen, doch man hat keinen Schimmer, warum das so ist, weil man doch eigentlich nichts getan hat, was sie hätte verärgern können. Ohne zu wissen, warum, bemüht man sich unablässig weiter, lächelt bis das Gesicht schmerzt, in der Hoffnung, dem anderen wenigstens ein gleichgültiges Lächeln zu entlocken, wohlwissend, dass alle Bemühungen zum Scheitern verurteilt sind.
Doch Clare ist kein Kind mehr. Clare Seidel ist dreißig Jahre alt. Sie ist eine viel attraktivere Person als dieser wächserne Gerard Donegal, den sie unter anderen Umständen, in einer anderen Umgebung keines Blickes gewürdigt hätte. Clare sollte diesem tückischen Gelände längst entwachsen sein, von dem man doch nur als Kind seinen Peinigern nicht entkommen kann, weil das Klassenkameraden sind, mit denen einen die wohlmeinenden Erwachsenen zusammengestopft haben und mit denen man dann in einer Hölle feststeckt.
Die Großtanten werden jetzt ungeduldiger, tadeln provozierend: »Clare ist deine Nichte, Gerard. Wir haben dir gestern von ihr erzählt. Erinnerst du dich nicht? Sie ist die Tochter von –«
»– du erinnerst dich: Conor.«
Gerard blickt noch finsterer drein. Schüttelt den Kopf, nein.
Clare fragt sich, was sie davon halten soll. Gerard erinnert sich nicht an seinen verstorbenen Bruder Conor, oder möchte sich nicht erinnern? Oder er glaubt vielleicht nicht, dass die junge Frau, der er vorgestellt wurde und die ihn weiterhin hoffnungsvoll anlächelt, tatsächlich seine Nichte ist.
»Clare ist Conors jüngstes Kind, Gerard –«
»Du erinnerst dich – da bin ich mir sicher.«
Clare ist verwirrt, den Namen Conor so häufig zu hören, so beiläufig.
Zum ersten Mal hat sie »Conor« laut ausgesprochen gehört, denkt sie. Wenn nicht Lucius Fischer ihn am Telefon erwähnt hatte. – Sie kann sich nicht erinnern.
Eine unerklärliche Magie umgibt diesen Namen, der sie zum Weinen bringen möchte, doch ein Lächeln auf ihre Lippen zaubert. Mein Vater.
Genauso bei der Frau namens Kathryn, ihrer Mutter. Meine Mutter.
Überwältigend für Clare, dieses Rätsel, von dem sie nicht weiß, wie sie es lösen könnte, diese Erkenntnis, dass die drei Fremden in diesem Raum, hier direkt vor ihr, nicht nur Blutsverwandte sind, sondern dass sie ihren Vater gekannt haben, und dass sie, wann immer sie wollen, einfach so nebenbei über ihn sprechen können – Conor.
Seit sie denken kann, hat Clare ihre Situation akzeptiert – Waisenkind. Keine Verwandten. Und jetzt …
Clare hat die Geburtsurkunde, die ihre Mutter Hannah ihr per Eilpost geschickt hat, sorgfältig gelesen. Ein offizielles Dokument, das Clare sicher früher schon einmal gesehen, doch wegen geringen Interesses auch wieder vergessen hatte.
Warum sollte es mich kümmern, wer ich einmal gewesen bin? Sie haben mich weggegeben, sie haben sich einen Dreck um mich geschert.
Die Namen ihrer (leiblichen) Eltern schienen für Clare nichts mit realen Personen zu tun zu haben, so wie man die Namen weit entfernter Orte auch nicht mit realen Orten verknüpft. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass diese Fremden ab ihrer Geburt nicht mehr existierten, als ob ihre Geburt deren Tod herbeigeführt hatte; obwohl es doch gar keinen Grund für solch einen bizarren Gedanken gab. Sie hat immer gewusst, oder hätte wissen müssen, dass sie erst zur Adoption freigegeben wurde, als sie schon zwei Jahre alt war, fast drei. Nicht als Neugeborenes.
»Clare ist unser Gast, Gerard! Auch dein Gast.«
»Clare ist hierhergekommen, um Mr. Fischer zu treffen, Gerard – unseren Anwalt.«
»Auch deinen Anwalt!«
»Sie ist den ganzen Weg von Philadelphia hierhergefahren, ist das nicht beeindruckend? Ganz allein mit dem Auto.«
»Wegen des Testamentes – des Testamentes deiner lieben Mutter. Du erinnerst dich –«
»Sie hat auch geerbt. Deine Nichte Clare.«
»Die alte Farm in der Post Road, mein Lieber. Leider – ja …«
»Du könntest Clare ja vielleicht mal hinfahren, damit sie sieht, was sie geerbt hat –«
»– eine gute Gelegenheit, dass ihr euch kennenlernt, du und Clare –«
»– es sei denn –«
»– es sei denn, natürlich –«
»– du möchtest lieber nicht.«
Die Worte hängen wie eine Herausforderung in der Luft. Lieber nicht.
Bei diesen Worten steht Gerard abrupt vom Tisch auf. Sein Stuhl rutscht hart über den Holzboden.
Er gibt ein Knurren von sich, verachtend, spöttisch. Entblößt gelbliche Zähne in einem erbosten Gesicht. Seine Augen schlingern in ihren Höhlen hin und her, doch er schaut Clare nicht an – er hat Clare nicht ein einziges Mal angeschaut.
Mit seiner linken, gesunden Hand greift er seine Mütze und die gefaltete Zeitung und verlässt polternd den Raum durch die hintere Tür.
Hinterlässt einen Geruch von Asche, ein ungewaschener männlicher Körper, ungewaschenes Haar. Nicht einmal ein kurzer Seitenblick.
Die Großtanten sind wie erstarrt, weit aufgerissene Augen, in Alarmbereitschaft wie ein Vogel Strauß. Aus ihren Mündern zischende Laute, tsss. Clare wundert sich, warum sie nicht dankbar sind, dass ihre Fragerei den mürrischen Mann aus ihrem Blickfeld getrieben hat.
»Oh je! Es tut uns so leid, Clare –«
»Normalerweise ist unser Neffe Gerard nicht so –«
»– grob –«
»– schüchtern. Er fühlt sich unter Fremden nicht sehr wohl –«
»– sogar dann nicht, wenn die Fremden Familienangehörige sind –«
»– zurückgeblieben, menschenscheu –«
»– dickköpfig, stur –«
»– schrecklicher Schock – Trauma –«
»– früher war er gescheit –«
»– so gescheit wie Conor –«
»– nein! – nicht annähernd –«
»– doch. Als er am Priesterseminar anfing –«
»– aber nicht so gescheit wie Conor – nein –«
»– fleißiger als Conor, auf jeden Fall. Und –«
»– gläubig. Gottesfürchtig.«
»Ja, und jetzt behütet Gott ihn –«
»– Das sollte er, ja! Nach all dem, was Gott getan hat –«
»– schhh! Glaubst du, Gott hört das nicht?«
Die Großtanten vertrauen Clare an, dass ihr »Junggesellen-Onkel«, Gerard Donegal, früher einmal Jesuit werden wollte. Er war im Priesterseminar Saint Joseph in Portland, Maine, bis er aus »persönlichen, familiären Gründen« aussteigen und nach Cardiff zurückkehren musste, um mit seinen Eltern zusammenzuwohnen.
Seit dem Tod seines Vaters übernahm er die Rolle des Chauffeurs für seine verwitwete Mutter, in den letzten Jahren musste er sie hauptsächlich zu Arztterminen und zum Gottesdienst in die St. Cuthbert’s Church fahren. Allen rundherum war klar – Gerard war ein äußerst treusorgender Sohn. Er sorgte sich um die Instandhaltung des Anwesens und verdiente sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten in der Nachbarschaft.
Doch stets verfolgte er seine persönliche Pilgerreise, bis heute.
Wirklich? – Clare konnte es nicht glauben. Der gequälte Gesichtsausdruck, die gelblichen Zähne und die abwehrenden Augen passten ihrer Meinung nach nicht zu einer religiösen Geisteshaltung …
»Oh, doch – sehr wohl. Gerard ist zwar kein sehr geselliger Zeitgenosse – wie du sicher gemerkt hast! – aber er ist ein sehr verlässlicher Arbeiter. Er mäht Wiesen, schneidet Bäume, kehrt Laub mit einem richtigen Rechen zusammen, nicht mit solch einem fürchterlichen Laubbläser – nein, mit einem riesigen, riesigen Rechen, wie man ihn gar nicht mehr kaufen kann. Er wird graben, graben, graben, wo immer man es braucht. Er befreit die Zufahrten vom Schnee. Er arbeitet im Regen – im Schnee. Er kann Gebüsche lichten. Er kann Hausdächer reparieren, Kamine. Er kann kaputte Fenster austauschen. Er kann Malerarbeiten erledigen – so gut wie jeder Profi und viel preiswerter. Natürlich kann er auch eine Waffe benutzen – Gewehr, Schrotflinte. Man kann ihn anheuern, um Murmeltiere zu schießen, Waschbären – Schädlinge, die den Garten zerstören. (Gerard schießt aber keine Rehe – obwohl Cardiff überflutet ist von Weißwedelhirschen. Es ist gesetzlich verboten, Rehe innerhalb der Stadtgrenzen zu jagen, aber Gerard wird sie, wenn man ihn darum bittet, wegscheuchen.) Es gibt tatsächlich Damen entlang der Acton Avenue, die sehr von ihm abhängig sind – ›Was täten wir nur ohne Gerard Donegal!‹, sagen sie. Er hatte sich als Neunzehnjähriger im Priesterseminar eingeschrieben, wollte Gott als Priester dienen, und eine ganze Zeit lang war er auch glücklich dort. Seine Mutter war so stolz auf ihn – wir waren alle sehr stolz auf ihn – aber dann …«
»Also – neunzehn war einfach jung –«
»Neunzehn war nicht jung. Nicht für einen Seminaranfänger.«
»Neunzehn war jung, Gerard war einfach zu jung – blauäugig, sagten manche. Zu gottesfürchtig.«
»Was er alles auf sich genommen hat, diese harte Arbeit, Latein zu lernen, sich so sehr zu bemühen, des Priesteramtes würdig zu sein –«
»– gut zu sein –«
»– ein Gefäß, das mit Gott gefüllt werden will –«
»– mit Jesus –«
»– einfach zu viel für den armen Gerard – glauben wir –«
»Und dann – unsere Familientragödie …«
»Der arme Gerard! Alles endete so – abrupt …«
»Ah, was sagst du da? Du meinst, der arme Conor?«
»Conor, Gerard – unsere geliebten Neffen! – Gott sei uns allen gnädig.«
Clare hat aufmerksam zugehört. Sie fühlt sich wie ein Kind inmitten boshafter Erwachsener, die sich unverständlich schnell in einer Art Geheimcode unterhalten. Sie kann die Bedeutung der Worte nicht verstehen. Sie muss mit jeder Faser ihres Seins zuhören. Was wollen die Großtanten ihr sagen?
Clare hört sich selbst mit schwacher Stimme stammeln: »Das – heißt – dann – wohl – dass – sie – nicht mehr – leben? Also, meine Eltern?«
Bestürzte Stille. Elspeth und Morag tauschen schnell einen flüchtigen Blick, antworten aber nicht, so als ob ihre ahnungslose junge Verwandte etwas wirklich Obszönes von sich gegeben hätte.
Selbstverständlich sind deine Eltern tot. Niemand spricht mehr von ihnen.
Was hast du denn geglaubt – dass sie alle diese Jahre gelebt und nur auf dich gewartet haben?
Clare möchte ihre Großtanten gar nicht anschauen, möchte gar nicht sehen, wie sie sie anschauen – mitleidig? mitfühlend? entrüstet?
Sie bedankt sich für das Frühstück und bietet ihre Hilfe an, den senfgelben Tisch abzuräumen, doch mit einem Zischen gibt Elspeth ihr zu verstehen, still zu sein.
»Bitte, Clare! Das wollen wir gar nicht hören. Du bist doch Gast in Maude Donegals Haus.«
Morag stimmt ihr nachdrücklich zu. »So ist es. Ich räume den Tisch ab. Jetzt beginnt meine Schicht, glaube ich.« Sie hievt sich hoch auf ihre kurzen Beine und prustet los, wie nach einem fragwürdigen Witz.
Wie es aussieht, wechseln die Großtanten sich mit der Hausarbeit ab. Sie erklären Clare, dass sie bis zum Termin beim Nachlassgericht und bis alle Grundstücksangelegenheiten abgewickelt sind, gezwungenermaßen die Zahl der Hausangestellten verringern müssen.
»›Abwechseln‹ – hör sich einer das an! Ich tue hier die meiste Hausarbeit.«
Morag lacht lauthals auf.
»Tust du nicht! Das ist eine Verleumdung.«
»Was? Verleumdung?«
»Ich erledige alle finanziellen und geistigen Arbeiten, was viel anstrengender ist …«
Während das Gezänk der Schwestern hin- und hergeht, schweift Clares Blick durchs Fenster nach draußen. Wohin ist Gerard verschwunden? Sie kann nur eine Ligusterhecke sehen, die wild über einen Weg aus gebrochenen Steinplatten wächst, Regentropfen. Es scheint, als ob Gerard in diese Richtung verschwunden wäre, aber keine Spur von ihm.
»Gerard lebt mit euch in diesem Haus zusammen?«, fragt Clare.
»Gerard lebt in diesem Haus, wie wir auch«, sagt Elspeth.
»Wir sind keine Donegals, weißt du – Morag und ich. Unser Familienname ist Lacey.«
Elspeth spricht mit einem Anflug von Stolz, so als ob der Name Lacey Clare beeindrucken könnte. Morag korrigiert: »Unser Mädchenname ist das – Lacey.«
»Sei nicht albern! Lacey ist unser Familienname, nicht unser Mädchenname – weil wir doch gar nicht verheiratet sind.«
»Ja, natürlich sind wir nicht verheiratet! Ich auf jeden Fall nicht.« Morag lacht noch einmal von Herzen.
»Und deswegen können wir gar keinen ›Mädchen‹namen haben, wenn wir gar nicht verheiratet sind. Wir haben doch nur unseren eigenen Familiennamen. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, ich spreche mit einem dickköpfigen Idioten, der nicht die einfachsten Dinge versteht.«
Elspeth lacht verbittert, rollt ihre Augen in Clares Richtung.
Aber Morag ist fest entschlossen, Clares Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. »Maude war die einzige Lacey-Schwester, die sich getraut hat, zu heiraten. Sie hatte den Mut, der den anderen fehlte. Diese Herausforderung, ›die Spezies zu reproduzieren‹ –, eine Aufgabe, die für manch anderen zu groß ist.«
»Und sie hat sehr gut gewählt. Einen älteren Herrn –«
»– Le-land –«
»Sie hat uns aber nie im Stich gelassen – oder nicht sehr lange.«
»Was meinst du damit – nicht sehr lange? Maude war immer sehr großherzig zu ihrer Familie –«
»– fast immer –«
»– und als dann diese Tragödie über ihr Leben hereinbrach, brauchte sie ihre Schwestern nah bei sich.«
Tragödie? – das muss der Autounfall sein, denkt Clare. Aber sie traut sich nicht, die Großtanten auf dieses sensible Thema anzusprechen.
Die Großtanten erzählen Clare, dass Gerard kurz vor seiner Priesterweihe aus dem Seminar hatte aussteigen müssen. Eine furchtbare Tragödie für einen jungen Mann, wo er doch fünf, sechs Jahre so hart dafür gearbeitet hatte. »Wie lange es auch immer dauert, Jesuit zu werden. Es ist eine sehr lange Zeit. Er war tiefgläubig – spirituell – so ganz anders, als er jetzt ist. Und es war Gerard, der den Unfall – entdeckt hat.«
Clare steht stocksteif, hört zu. Den Unfall?
»Solch ein Anblick, das war eine traumatische Erfahrung für Gerard. Er hat sich nie wieder erholt. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch, wie es so heißt – hat sich nie davon erholt.«
»Und welch Tragödie für die Kirche, solch einen tiefgläubigen Priester zu verlieren! Jeder, der ihn kannte, sagte, er sei dazu bestimmt, Priester zu werden – schon als er ein kleiner Junge war, konnte man die Gottergebenheit in seinem Gesicht sehen.«
»Er sang im Chor – ein glockenreiner Knabensopran …«
»Ganz anders als Conor – der war kein Typ, der alles in der Welt aufgegeben hätte für Gott, so wie Gerard …«
»Oh, Conor! Er hat auch einen hohen Preis bezahlt – weil er die Welt zu sehr geliebt hat.«
»Weil er sie zu sehr geliebt hat.«
»Ach ja! Gott hab ihn selig.«
»Gott hab sie alle selig.«
Clare hört gespannt zu, dankbar. Sie? War damit ihre Mutter gemeint, Kathryn? Sie glaubt, dass die Großtanten ihr in ihrer wahnsinnig verqueren Art wichtige Informationen mitteilen werden. »Der Unfall – meinst du den Unfall, in dem meine Eltern gestorben sind? Ein Autounfall?«
Elspeth fängt Morags Blick ab, so als ob sie sie warnen wollte – Kein Wort.
Doch jetzt sprechen alle so offen. Clare vermutet, dass man von ihr erwartet, alles mitzubekommen und nachzufragen.
»Du hast gesagt, Gerard habe den Unfall ›entdeckt‹? Heißt das – auf der Straße? Auf der Autobahn? Ist er rausgefahren, um zu schauen, wo sie geblieben sind? Willst du das damit sagen?« Clare fühlt sich wie ein strampelnder Schwimmer kurz vor dem Ertrinken. Doch die Großtanten blicken sie nur stumm an, als beobachteten sie sie von Land aus, neugierig abwartend, nicht sehr wohlwollend.
Elspeth seufzt wieder einmal, gereizt. Morags schmaler Mund verzieht sich, um ein Lachen zu unterdrücken.
»Wer hat denn gesagt, dass Gerard jemanden auf der Autobahn entdeckt hat? Niemand. Gerard war derjenige, der – (wir kennen überhaupt keine Einzelheiten darüber, sie wurden uns vorenthalten) – sie entdeckt hat –«
»– die Körper …«
»– die Überreste, wollte ich sagen. Überreste heißt das doch, glaube ich.«
»Überreste ist ein schrecklicher Begriff! Hör auf damit.«
»Hör du auf. Mach dich nicht lächerlich.«
Clare fühlt sich benommen, orientierungslos. Es macht ihr Mühe, die beiden betagten Damen weiterhin freundlich anzulächeln, wenn die beiden ihrerseits nur sich gegenseitig anblicken und Clare ignorieren, so als ob das Gespräch sie gar nichts anginge.
Sie haben eine Salve kleiner Pfeile in ihr Herz geschossen. Und sie hat keine Ahnung, wie schwer sie jetzt schon verwundet ist.
»Entschuldigt mich! Es reicht«, sagt sie, bevor sie sich auf den Weg die Treppe hoch in ihr Zimmer macht. In dem antiquierten Bad neben ihrem Zimmer muss sie vor der altertümlichen Toilette hockend einem Würgeanfall nachgeben, sie schwitzt, fühlt sich hundeelend; sie schafft es lediglich, eine dünne, widerlich schmeckende Flüssigkeit auszuspucken. Doch das, was sie so krank fühlen lässt, ist ein harter und klebriger kleiner Ball in ihrem Magen, der sich nicht so leicht rauswürgen lässt.
Hassen sie mich, weil ich Erbin des Anwesens ihrer Schwester bin? Weil ich nicht eine von ihnen bin, kein Recht habe, hier zu sein? Haben sie mich etwa vergiftet – nochmals?
8.
Fest entschlossen hatte sie diese Gedanken ihr ganzes Leben lang verdrängt – die Gedanken an ihre (leiblichen) Eltern.
Jetzt ist sie besessen von den Gedanken an sie. Sie fressen sich wie Zecken tief in ihr Fleisch.
Winzige, verhasste Insekten, die man sich nicht traut mit einer Pinzette herauszuziehen, aus Angst, ihre schwarzen Körper in Stücke zu reißen, unwiederbringlich.
Will unbedingt wissen, ob ihre Eltern noch leben oder tot sind. Und falls gestorben, wie? Warum? Und warum wurde sie zur Adoption freigegeben, wenn die Donegals doch wohlhabend waren?
Clare wird nachfragen, wo ihre Eltern begraben sind. (Wenn sie überhaupt begraben sind. Egal, wo.) Ein Friedhofsbesuch hier in Cardiff. Wie auf einem traumgleichen Foto von Julia Margaret Cameron wird sie durch diesen grauen und gespenstischen Tag wandeln, unter schweren Wolken und prasselndem Regen.
Hartnäckig und trotzig wie ein Kind wird sie versuchen, sich ihre eigenen Gedanken zu verbieten. Vielleicht ist ja einer von den beiden noch am Leben, wenigstens einer. Kann doch sein.
Welch große Erleichterung, das bedrückende Steinhaus in der Acton Avenue verlassen zu können!
Draußen ist die Luft frischer. Sie kann tief durchatmen. Der verhangene Himmel scheint sich Schicht für Schicht in durchscheinende Wolken aufzulösen. Sie schaut herum, fragt sich, ob sie ihn sieht – wen? Eine hinkende Gestalt …
Aber nein. Niemand.
Fährt in die Innenstadt von Cardiff zu Lucius Fischers Kanzlei. Ihr Termin ist um elf Uhr morgens, und sie möchte auf keinen Fall zu spät kommen. Ihre Gedanken sind ein heilloses Durcheinander, zerfahren. Weiß nicht, was sie von ihren Großtanten halten soll – ob sie auf ihrer Seite sind.
Möchte sich nicht lächerlich machen. Natürlich meinen die betagten Großtanten es gut mit ihr. Sie sind nervtötend, zum Verzweifeln – aber im Grunde sind sie ihre Freundinnen.
Trotz allem – Clare hat das Gefühl, dass die beiden sich manchmal über sie lustig machen. Sie verhöhnen, gehässig.