- -
- 100%
- +
Endlich war der Samstag da. Nach dem Einlass in die Disco machten wir uns gleich an die Haupttheke, um etwas zu bestellen. Siehe da: Es stellte sich heraus, dass sie in der Disco als Barfrau arbeitete! Also versuchte ich, nur noch bei ihr zu bestellen, klappte nicht immer, aber ich versuchte jedes Mal, dabei mit ihr ins Gespräch zu kommen, doch bei meinem Glück kam es höchsten zur Bestellung der Getränke. Nun ja, die Erfolgsquote war nicht sonderlich hoch.
Es vergingen zwei lange, sehr lange, wirklich unendlich lange, sagenhafte zwei Jahre, die ich so verbrachte, stets in der Hoffnung, sie irgendwie kennenzulernen. Aber es geschah: nichts. Und so machte ich mir ernsthaft Gedanken, nach etlichen abgespulten Kopffilmen verließ mich der Glaube und die Hoffnung, mich ihr zu nähern, herauszufinden, wer und was sie war. An dieses Gefühl musste ich mich erst gewöhnen, musste auch die Gewohnheit ablegen, ständig dort hinzugehen. Mein Kumpel und ich hatten nach so langer Zeit auch langsam die Schnauze voll von all den Gesichtern, die wir jedes Wochenende dort sahen – schon paradox, dass man keinen davon wirklich kannte. Wir verbrachten so viel Zeit mit diesen Fremden, dass wir sogar erkannten, wer schon wieder die gleichen Klamotten anhatte. Eigentlich bekloppt, oder?!
Also erkundeten wir neue dunkle Räume mit lauter Musik. War auch zwischenzeitig sehr witzig und cool, Neues zu sehen. Hin und wieder fiel der Name Pilsudski, jedoch ging es dabei nicht um den Staatsmann, sondern um die Disco, in der die Blonde arbeitete. Ab und an dachten wir daran, mal wieder dort hinzugehen, hielten uns aber doch eine Weile zurück, diesen Schritt zu tun. So bereisten wir im Umkreis von 200 km alle Disco-Sehenswürdigkeiten, ich glaube, wir haben keine ausgelassen. Doch es kam, wie es kommen musste, und wir landeten wieder da, wo das Spiel begonnen hatte.
Natürlich geht der erste Blick wieder an die Bar, doch sie ist nicht da. Einerseits bin ich erleichtert, andererseits kommen gewisse Stimmen in mir hoch … Na ja, ich will das Thema abschließen, wir wollen feiern – doch plötzlich traut mein Verstand meinen Augen nicht! Da ist sie, steht in direkter Blickrichtung zu mir. Schlagartig geht es mir gut, gleichzeitig kehrt die Sehnsucht zurück, sie kennenzulernen. Ich mustere sie von Kopf bis Fuß. Blaue, enge Jeans, ein weißes, ärmelloses Top. Die leicht gebräunte Haut glänzt, die Farben der Discokugel spiegeln sich in ihrer Kleidung und dem blonden Haar. Sie scheint glücklich und gelöst zu sein, tanzt ausgelassen mit ihren Freundinnen. Keine Ahnung, wie es geschieht, aber irgendwie tanzt sie direkt neben mir. Ich atme ihren Duft ein. Ich würde ihn am liebsten konservieren und nie wieder verfliegen lassen, wie der bekloppte Typ aus dem Buch Das Parfum . Leicht süßlich, mit einer Kopfnote, die sofort in der Nase hängen bleibt. Unsere Blicke treffen sich ab und an, doch eher unbewusst ihrerseits. Meine hingegen sind schon mehr als gezielt. Ich beobachte ihren Tanzstil, nach einigen Schritten können mein Kumpel und ich ihn nachtanzen. Im Rhythmus eingetaucht, machen wir eine Weile mit. Das kommt gut an, denn sie und ihre Freundin lächeln uns zu. Es läuft Hot In Here von Nelly, unsere Blicke werden immer tiefer und wiederholen sich in immer kürzeren Abständen, sodass wir die Hälfte des Liedes einander zugewandt sind. Ich muss sie ansprechen, komme, was wolle. Diesmal muss ich mich trauen! Aber wiederum: wie??? Ich habe nichts zu verlieren. Die Chance meines Lebens, also trete ich einen Schritt näher … und näher …, bis ich direkt vor ihr tanze.
Alle möglichen Satzanfänge gehen mir durch den Kopf – und dann das: „Hi, wie heißt du?“ Mir fällt spontan nichts anderes ein. Da die Musik so laut ist, muss ich ganz nah an sie heran, um zu fragen, und sie natürlich auch wieder ganz nah an mich heran, um zu antworten. Sie wirft mir kurz einen zögernden Blick zu und sagt mit einer hohen und zarten Stimme: „Malena.“
Da ist er nun, der Name. Erlösend speichert er sich sofort im Hippocampus ein, und von da an ist es nicht mehr einfach nur „die Blonde“. Wir kommen ins Gespräch, Fragen meinerseits und ihrerseits werden gestellt und beantwortet. Alles ist zu schön, um wahr zu sein, der Abend kann nicht übertroffen werden. Doch schon kurze Zeit später platzt die Seifenblase, ein großer Kerl in dunkler Tarnjacke wirft seinen Schatten über uns. Dieser Gesichtselfmeter scheint nicht gerade glücklich zu sein, er schaut mich mit grimmigem Gesichtsausdruck an und schiebt sich direkt in mein Sichtfeld. Packt sie am Arm, schleppt sie zur Seite und schubst mich dabei weg. Da er ca. einen halben Meter größer ist als ich, neigt er nur seinen Kopf zu mir, droht mir mit Schlägen und verschwindet mit ihr von der Tanzfläche. Ihr Blick wendet sich von mir weg. Sie dreht sich zum Gang und geht vor ihm her. Schlagartig ist das gute Gefühl weg. Was soll ich machen? Mich mit dem Typen anlegen? Nun ja, er ist einer der Türsteher, und davon gibt es ein paar in diesem Laden. Ich habe sie schon mehrmals in Aktion gesehen. Alle Pros und Kontras gehen mir durch den Kopf, doch bevor ich überhaupt reagieren kann, sind sie schon weg. Perplex stehe ich da, verstehe kurz die Welt nicht mehr und mache mich vor lauter Frust auf den Weg zur Theke. Ehrlich gesagt bin ich immer noch schockiert. Mit dieser Situation habe ich gar nicht gerechnet. Was ist sie, etwa sein persönliches Eigentum?! Wie kann sie das nur zulassen? An dieser Stelle zweifele ich an ihrer Charakterstärke, aber auch an meiner, denn wirklich was unternommen habe ich nicht. Hätte ich mich doch bloß auf die Schlägerei eingelassen.
Ich stehe eine ganze Weile an der Theke, will unbedingt bei ihr bestellen, doch sie ist mit anderen Kunden beschäftigt. Stur ignoriert sie mich, als ob ich der Schuldige für die eben abgelaufene Szene wäre. In der Zwischenzeit fragen mich einige andere Barkeeper, was ich möchte, ich bedanke mich und behaupte, dass ich schon bestellt habe. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie mich ebenfalls beobachtet. Nach einiger Zeit kommt sie auf mich zu und fragt, was ich haben will. Mir geht nur eine einzige Antwort durch den Kopf: „Dich!“ Doch alles, was ich sage, ist: „Was war das da gerade?“ Sie erwidert, dass sie mit dem Bruder von diesem Türsteher zusammen sei. Ein Schlag auf die Nase ist nichts dagegen. Alter, tut das weh! Frust kommt in mir hoch. Um kein Aufsehen zu erregen, bestelle ich nur noch einen Wodka Red Bull. Sie sieht die Enttäuschung in meinem Gesicht, wendete sich ab, macht mir den Drink, doch bei der Übergabe der Verzehrkarte berührt sie meine Hand mit einem Streicheln. Der Tacker durchbohrt die Karte, sie gibt sie zurück und sagt: „ Sorry!“ Beim Blick auf die Karte bemerke ich, dass sie gar nicht richtig gelocht hat. Das ist dann wohl ein Wiedergutmachungsdrink?! Aber wieder gut wird an diesem Abend gar nichts mehr …
Ich musste irgendwie all die Fragen, die in mir aufkamen, bewältigen. Wieso hat sie überhaupt mit mir getanzt und mir ihren Namen verraten? Doch eine Antwort fand ich nicht. Eine Zeit lang blieb es zwischen uns bei einem einfachen „Hallo“. Aber ein Virus hatte mich infiziert. Sie ging mir ständig durch alle Hirnwindungen und Nervenzellen. Eine Aussicht auf Heilung gab es nicht. Während des normalen Alltags lief sie mir vor meinem inneren Auge entgegen. Oft erwischte ich mich dabei, wie ich darüber nachdachte, was sie den Tag über machte oder welchen Beruf sie ausübte. Dabei blieb auch der Gedanke nicht aus, dass sie mit diesem Typen zusammen war. Ich redete mir ein, dass sie mit ihm nicht glücklich sein konnte, wenn sie doch mit mir getanzt hat und sich auch so eindeutig für mich interessierte. Das ist zumindest meine Einschätzung. Doch ich war zu schüchtern, um noch mal auf sie zuzugehen, wenn wir uns sahen. Noch nie hatte mir ein Mädel so den Kopf verdreht, ich verstand nicht, was da mit mir passiert ist an jenem Abend. Meine Kumpels sagten, dass ich mich verschossen hätte! Aber wie soll das gehen, wenn man die Person gar nicht kennt? L**** auf den ersten Blick? Nee, daran glaubte ich nicht!
Einige Wochen später sind wir wieder einmal in dem Club. Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, wir feiern ausgelassen und im Bruchteil einer Sekunde steht sie in meiner Nähe. Sie sieht mich an, kommt herüber. Streckt mir ihre Hand entgegen und fragt: „Wie gehts?“ Ich erwidere nur: „Gut, aber wo ist denn dein Bodyguard?“ Der hat seinen freien Tag, erfahre ich, und so kommen wir diesmal ungestört miteinander ins Gespräch. Wir verstehen uns auf Anhieb. Es folgen die üblichen Fragen wie „Was machst du so beruflich? Woher kommst du?“ usw.
„Physiotherapeutin“, antwortet sie, sie ist noch in der Ausbildung. Da sie leider nicht in Dortmund, ihrer Heimatstadt, angenommen wurde, besucht sie nun die Schule in Minden. Dort wohnt sie auch die Woche über, am Wochenende ist sie zu Hause und arbeitet nebenbei in der Disco. Spaßeshalber meine ich zu ihr, dass ich sie in Minden besuchen komme. Daraufhin gibt sie mir ihre Handynummer und die Adresse der Schule.
Ich muss meine Wahrnehmung glätten, nüchtern, sachlich die Ereignisse sacken lassen und erst mal verstehen, was gerade passiert. Es ist surreal – aber da ich große Sprüche gemacht habe, muss ich auch Wort halten. Was mir nichts ausmacht, im Gegenteil. Ich freue mich tierisch. Als ich den Zettel mit der Nummer und der Adresse in der Hand halte, kann ich es gar nicht fassen. Es ist, als ob ich einen Test bestanden und als Belohnung ein Zertifikat erhalten hätte! Eine Welle von Glück, Freude und allem, was man so fühlt, wenn einem so etwas passiert, überschwemmt mich. Zu meinem inneren Jubel kommt eine flammende und eiserne Entschlossenheit, sie tatsächlich zu besuchen, sie näher kennenzulernen.
Einige Tage später saß ich bei Emilio und wir zerbrachen uns den Kopf, was ich machen könnte, damit sie unser erstes Date nicht vergessen würde. Meine Gedanken stolperten übereinander, doch nach einer Weile stand fest, was wir tun.
Nun ja, zunächst habe ich mich aber die ganze Woche über nicht bei ihr gemeldet. Das war Schritt eins des Plans. Der zweite Schritt folgte am Freitag: Das war der Tag, auf den ich seit zwei Jahren wartete.
Anstatt zur Uni zu fahren und mir Mathe reinzuziehen, fahre ich morgens um 8:00 Uhr nach Minden. Schließlich liegen ca. 190 km vor mir und ich will nicht zu spät ankommen. Es ist gegen 9:30 Uhr, als ich da bin. Mit leeren Händen will ich sie nicht besuchen, das macht man einfach nicht, also halte ich nach einem Blumengeschäft Ausschau. In der Altstadt finde ich einen kleinen Laden, der Gott sei Dank bereits geöffnet hat. Die freundliche Dame verkauft mir eine rote Rose, die sie in Klarsichtfolie einhüllt. Ich glaube, sie weiß, dass es ein kleines Geschenk sein soll. Anschließend fahre ich zur Schule, stelle den Wagen in einer Parkbucht vor dem Gebäude ab – und warte.
Ich bin in diesem Moment das Musterbeispiel eines Paradoxexemplars. Auf der einen Seite fühle ich mich lebendig, glücklich, über das ganze Gesicht strahlend, und auf der anderen Seite zerfällt mein Inneres in tausend Stücke, ach, es verflüssigt sich alles in mir. Doch nun nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, steige aus dem Wagen und bewege mich auf den Haupteingang der Schule zu. Dort angekommen, gehe ich einen langen, breiten Flur entlang. Doch ich stehe vor einem Problem: Ich weiß doch gar nicht, wo sie sich gerade befindet! So viele Etagen, so viele Gänge, so viele Türen. Ich kann doch nicht von Tür zu Tür laufen, das kann ich nicht bringen! Da mache ich mich doch zum Volldepp!
Die Pause muss gerade beendet worden sein, nehme ich an, denn egal, wohin ich meinen Blick wende, alles ist wie ausgestorben. Wie der Zufall es will, kommt ein Typ die Treppe herunter. Sieht aus wie ein Schüler, relativ jung, dunkle Haare und eine Joggingbuxe an. Ich halte die Rose in der Hand, ich sehe ihn, doch bevor ich fragen kann, fragt er: „Ist die für mich?“
Ich grinse, erwidere: „Nur, wenn du eine Malena kennst. Eine kleine hübsche Blondine, ca. 1,60 m groß.“
„Ja, die kenn ich, die sitzt im zweiten Stock. Du musst die Treppe rauf, erste Tür rechts“, sagt er lachend.
„Korrekt, besten Dank, Alter!“
Und so ziehe ich schnurstracks an ihm vorbei, nehme dabei immer zwei Stufen auf einmal. Und da bin ich nun, stehe vor einer hellgrauen, alten Holztür mit Verzierungen. Ich halte ein Ohr an das Türblatt, lausche, ob da überhaupt Unterricht stattfindet. Ich weiß ja nicht, ob der Typ mich nicht verarschen wollte! Ich beginne zu zittern, die Hände werden unruhig, mein Magen dreht sich. Die Gedanken spielen verrückt. Ehrlich gesagt, bin ich so nervös, dass ich abhauen will. Dann denke ich nur noch: Wenn du da jetzt nicht reingehst, wirst du es dein Leben lang bereuen! Los gehts, eins, zwei, drei … In der linken Hand die Rose, die rechte balle ich zur Faust, hebe sie, will gerade mit meinen Handknöcheln gegen die Tür klopfen – da geht plötzlich links von mir eine Tür nach außen auf. Ich bin in diesem Moment wie erstarrt, sehe zur Tür. Eine junge Frau kommt heraus. Ich weiß gar nicht mehr, wie sie aussah. Sie blickt mich mit einem Lächeln an, sagt nichts und verschwindet hinter meinem Rücken die Treppe hinunter. Die Schweißperlen auf meiner Stirn werden noch größer. Ich trete wieder einen Schritt zurück, atme tief durch, reiße mich zusammen, sage mir: „Scheiß drauf, geh jetzt da rein, entweder ist sie da drin oder halt nicht!“ Mein Puls ist, glaube ich, auf 280, so kurz vor der dem Überdrehen. Wenn ich noch länger warte, falle ich um vor Nervosität.
Ich lausche wieder an der Tür, auf einmal ist es da drin sehr laut, was mich auch nicht ruhiger macht. Dann geht alles ganz schnell: Ich klopfe dreimal schnell an der Tür, packe mit einem Ruck die Türklinke und reiße die Tür auf, gehe durch in den Raum und begrüße die Klasse mit einem lachenden „Guten Morgen zusammen, Blumendienst! Ist hier eine Malena?“.
Mein erster Blick richtet sich nach vorne, wo die Lehrerin gerade etwas erklärt. Ich meine, sie hat so eine Art Knochen in der Hand. Neben ihr ist eine Massageliege aufgebaut. Ich komme mir echt komisch vor, aber egal, ich muss jetzt liefern und die Aktion durchziehen. Als sie mich erblickt, verstummt sie schlagartig, sieht mich mit einem Lächeln an und erwidert mein „Guten Morgen“.
Zu meiner Linken sitzen die Schüler, es sind so etwa fünfzehn. Allesamt mucksmäuschenstill, die Augen und Münder aufgerissen. Meine Augen scannen alle Gesichter. Die Erste, die etwas sagt, ist die Lehrerin: „Ach, wie süß.“
In der zweiten Reihe werde ich fündig, ein breites Grinsen, das Gesicht knallrot angelaufen, schlägt sie die Hände vor den Mund, als ob sie niesen müsste. Schüttelt leicht den Kopf. Ich lache sie an, tue so, als ob ich ein einfacher Blumenlieferant wäre. Doch Malena steht wie in Zeitlupe auf, fragt die Lehrerin, ob sie kurz mit hinaus könne. Sie kommt mir entgegen und ich übergebe ihr die Rose, dabei halte ich mich an der Tür fest, um nicht umzukippen. Wir gehen gemeinsam auf den Flur. Ich wende mich mit einem Lachen noch mal der Klasse zu, da fangen alle an zu klatschen. Das ist echt schön, finde ich, richtig cool von ihnen.
Ich schließe die Tür und da meint sie nur zu mir: „Damit habe ich absolut nicht gerechnet, du bist echt verrückt!“ So, wie sie es sagt, ist das wie Schokolade, einfach zuckersüß, meine Blonde Schokolade .
Wir unterhalten uns nur kurz. Ich bin nur am Grinsen und sie ist sichtlich geschockt, aber positiv. Nach ein paar Minuten verabreden wir uns für die nächste Pause. Diesmal öffnet sie die Tür. Sie ist nicht einmal ganz drin im Raum, da fangen ihre Klassenkameraden wieder an zu klatschen. Als sich die Tür schließt, bin ich einfach nur happy. Ich könnte die ganze Welt umarmen! Es dauert noch einen Augenblick, bis ich mich von der Tür abwende und zum Auto gehe. Nach ca. 40 Minuten höre ich den Schulgong, springe aus dem Auto und laufe Richtung Schule.
Wir treffen uns im Flur, gehen gemeinsam in so einen Gruppenraum oder Aufenthaltsraum im Keller. Er ist mit älteren Ledersesseln im englischen Stil und einfachen Tischen bestückt. Wir setzen uns und sie fängt direkt an zu erzählen, aber ich bekomme kaum etwas mit, weil ich sie erst mal von oben bis unten mustere. Sie trägt eine sportliche, etwas weitere beige Hose, dazu schwarz-weiße Puma-Schuhe und ein weißes Oberteil. Darüber hält sie eine schwarze Daunenjacke warm. Es ist schließlich noch Winter. Wenn man mich dagegen ansieht, sehe ich aus wie ein Sommeridiot, Shirt und eine einfache, hellblaue, zerrissene Jeansjacke mit passender Jeanshose und weiße Sneakers. Aber ich glühe so sehr, dass ich schon fast schwitze. Die Kälte nehme ich gar nicht wahr. Doch zurück zu Malena. Die goldenen Haare sind zu einem Zopf gebunden, das Gesicht ist ungeschminkt und der Duft wieder so süß, aber diesmal empfinde ich es noch intensiver. Ich schaue sie einfach nur an, dabei kann ich nicht fassen, wie hübsch sie ist.
Während der Pause unterhalten wir uns weiter, und als ich sie frage, wie lange sie denn noch Unterricht habe, meint sie glücklich: „Dank dir habe ich eine Stunde eher frei. Ich soll dir von meiner Lehrerin ausrichten, dass du ein ganz Süßer bist!“
Als ich das höre, werde ich ein wenig verlegen und schäme mich, aber es schmeichelt mir auch. Ziel erreicht, denke ich mir. Ich bin so froh, das alles getan zu haben.
Da läutet der Schulgong, der Unterricht fängt wieder an. Sie geht hoch.
Ich gehe zum Bäcker und gönne mir in Ruhe einen Kaffee und ein Brötchen. Die letzte Wartestunde vergeht wie im Flug. Ich sitze bereits im Auto, als sie herauskommt. Ich gehe ihr sofort entgegen, nehme ihr die Sporttasche ab und lege sie auf die Rückbank. Die Rose aber hält sie die ganze Zeit in der Hand. Als ich sie frage, ob sie die Blume nicht auch nach hinten legen wolle, verneint sie nur kurz und hält sie die ganze Fahrt über fest. Bevor wir losfahren, soll ich, so trägt mir Malena auf, der Lehrerin ein Zeichen geben, dass alles in Ordnung sei. Also hupe ich ein paarmal und wir fahren los Richtung Heimat.
Auf der zweistündigen Heimfahrt unterhalten wir uns gut, lernen einiges voneinander kennen. Ich empfinde die gesamte Fahrt als sehr entspannt, dabei fällt mir auf, dass wir sehr viel lachen. Ich fahre absichtlich langsamer, ich würde am liebsten einfach weiter und weiter fahren. Für mich müsste dieser Tag niemals enden. An der Haustür angekommen, bedankt sie sich noch mal bei mir für die Überraschung, die Fahrt und den ganzen Tag. Meine Sinne sind monopolisiert, alle Gedanken drehen sich nur um sie, während der ganzen Fahrt habe ich versucht, alle Eindrücke und Bewegungen, ihre Ausstrahlung, Mimik und ihr ganzes Wesen aufzusaugen, um in der nächsten Zeit davon zu zehren. Polaroidbilder schieße ich mit meinen Augen, das entwickelte Bild wird sofort im Hirn gespeichert. So kann ich, wann immer ich will, in meinem geistigen Fotoalbum stöbern und mich an diesen gelungenen Tag erinnern.
Es war so gegen 16.30 Uhr, als ich zu Hause ankam, meine Mutter wunderte sich, warum ich schon so früh da war, denn normalerweise gingen meine Vorlesungen bis 18:00 Uhr. Ich konnte nicht an mich halten und musste ihr von Malena und diesem Tag erzählen, zwar nicht alle Details, aber schon einiges. Sie hielt mich auf für total bekloppt und schüttelte nur den Kopf. Ich muss gestehen, dass ich wirklich dankbar dafür bin, dass ich mit meiner Mutter über viele Themen sprechen kann. So nahm ich ihre Reaktion mit einem Lachen entgegen, was sollte ich denn auch sonst machen? An diesem Tag hätte mich nichts aus der Bahn werfen können.
Gegen Abend schrieb ich Malena eine SMS, doch sie reagierte nicht. Lange Stunden des Wartens folgten, aber mein Handy rührte sich nicht. Vielleicht hätte ich doch nicht schreiben sollen? Vielleicht war auch etwas passiert? Komisch fand ich das schon, aber ich wollte sie nicht stalken, und so entschloss ich mich, nichts weiter zu unternehmen. Am darauffolgenden Tag, kurz vor dem Abend, kam eine Nachricht von Malena. Sie hatte einen Autounfall, es war aber nur ein harmloser Bagatellschaden, schrieb sie. Ich fragte nach einem Treffen, doch sie war schon mit einer Freundin verabredet. Nun gut, es ist, wie es ist, dachte ich mir. Dennoch fand ich die ganze Situation etwas eigenartig. Ich erzählte Emilio davon, er konnte das alles auch nicht so ganz nachvollziehen.
So verging eine ganze Woche ohne Kontakt. Am Samstag traf ich sie in der Disco – wo denn auch sonst?! –, dort war sie wieder wie ausgewechselt, lachte viel und wir unterhielten uns. Die Getränke waren dank ihrer freundlichen Mithilfe schon teilweise gratis. Alles wirkte, als habe sie tatsächlich auch Interesse an mir.
Derweil war die Jahreszeit fortgeschritten, es war tiefer Winter, es wurde immer kälter, die Tage wurden kürzer, die Nächte länger. Es ging auf Weihnachten zu. Sogar Schnee lag auf den Straßen. Unser Kontakt beschränkte sich komplett auf die Discobesuche, keiner von uns beiden meldete sich beim anderen, teilweise war er auch vollständig unterbrochen. Ich versuchte bei jedem Besuch in der Disco, sie zu meiden. Keine Bestellungen, keine Unterredungen mehr, nichts mehr. Ich versprach Emilio, sie zu vergessen, mich nicht verrückt zu machen, aber keins dieser Versprechen konnte ich halten. Es war wie verhext. Schuld daran war auch, dass wir ständig in diesen scheiß Laden gingen. Mein Drang nach Alkohol ging in dieser Zeit stetig gegen null, so war ich meistens derjenige, der uns nach Hause fuhr. Im nüchternen Zustand konnte ich mich nicht dazu überwinden, zur Theke zu gehen und meine Kontaktversuche zu starten. Ich hatte auch irgendwie keinen Bock mehr. Ich bin doch kein kleiner Hund, der ihr hinterherläuft, das habe ich mehr als genug gemacht, das reicht nun, dachte ich mir.
Dann war es kurz vor Heiligabend, meine Birne spielte mir Streiche, ließ mich nicht mit dem Thema in Frieden. So beschloss ich, doch noch einen Versuch zu wagen. Es ließ mir keine Ruhe, also unternahm ich einen wirklich letzten Versuch. Das versprach ich Emilio, der mich mittlerweile als vollständig hirnlos diagnostizierte. Ich musste ihm aber auch zugutehalten, dass er mich nie im Stich ließ. Er hatte immer ein offenes Ohr für mich und akzeptierte mich so, wie ich war. Als Dank zerrte ich ihn ins Auto und wir fuhren zu einem Bastelladen. Dort besorgte ich mehrere rote DIN-A3-Kartons und einen schwarzen 3000er-Edding. Es war kurz vor acht, das Geschäft war kurz davor zu schließen. Wir erhielten die benötigten Utensilien in letzter Sekunde. Derart ausgerüstet fuhren wir anschließend nach Minden.
Auf der halben Strecke fing es an zu schneien, das kam bei mir besonders gut an, denn meine Reifen waren nicht mehr die besten, und so fuhren wir mit ca. 80 km/h auf der grauweiß bedeckten Autobahn.
Ich musste mich auf die Straße konzentrieren und dabei gleichzeitig kreativ sein. Da Männer nicht so geübt im Multitasking sind, hielten wir irgendwann an einer Raststätte. Dort überlegten wir zum ersten Mal, was wir überhaupt machen sollten. Emilio ließ mich nicht hängen, er strengte sich an, mit mir etwas Besonderes zu basteln. Im Nachhinein ganz schön bescheuert, aber so war es nun mal.
Als Malena und ich nach unserem ersten Treffen noch in Kontakt standen, schaffte ich es, mich noch einmal mit ihr in Minden zu treffen. Dieses Mal außerhalb der Schulzeit. Wir gingen in ein Café und hatten wieder eine schöne und lockere Unterhaltung. Da wir uns diesmal direkt in der Stadt getroffen hatten und sie kein Auto dabei hatte, fuhr ich sie zu ihrem Studentenwohnheim. Wie sie mir erzählte, teilte sie sich dort ein Zimmer mit einer Kommilitonin, was für mich total O. K. war. Wir saßen noch eine ganze Weile im Auto. Das war das erste Mal, dass ich den Wunsch verspürte, sie zu küssen. Am liebsten hätte ich sie an ihrer Jacke gepackt und sie einfach an mich gezogen, doch natürlich war es so nicht. Ich war voller Angst, ich hatte diesbezüglich zu viele negativen Gedanken. Ich fürchtete mich davor, irgendwas kaputtzumachen. Ich Feigling!
Zurück zum dritten Trip nach Minden. Wie gesagt, wir standen an der Tanke und überlegten und überlegten … Ein Gedicht sollte es werden. Maßgeschneidert auf die ganze lächerliche Situation, in die ich mich hineinmanövriert hatte. Das war wahrlich keine leichte Aufgabe. Zwei Jungs im Auto, Schnee, Tanke. Alles keine guten Voraussetzungen, um in eine romantische Stimmung zu kommen und ein paar Verse zu schreiben. Es wurde zu einer Herausforderung. Wir konnten schließlich nicht die ganze Zeit dort an der Tanke stehen und warten, bis uns was einfiel. Also fuhren wir weiter, und nach und nach kamen uns die ersten Ideen.