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Er hat schlicht und ergreifend nicht gesehen, dass das Land dort endete. Finis terrae. Rums!, ab in die Klippen. Die zwei Typen vorn wurden zermalmt, und das Mädchen neben mir verbrannte bei lebendigem Leib, weil sie die Umsicht gehabt hatte, sich anzuschnallen, und eingeklemmt war. Ich, die ich in keinerlei Hinsicht je habe Umsicht walten lassen, wurde beim Überschlagen des Wagens durch die Heckscheibe katapultiert und brach mir die Wirbelsäule.
Paris, 12. Juni 1870
Gepeinigt von einer unaussprechlichen Angst, verbrachte Auguste grauenhafte Nächte, seit er bei der Losziehung gescheitert war. Von diesem verfluchten Tag an stand sein Wecker auf sieben Uhr, aber wenn der nach nur einer oder zwei Stunden Schlaf klingelte, stellte er ihn aus, legte sich wieder hin und schaffte es erst am späten Nachmittag, sich aus dem Bett zu schälen. Unter ständiger Migräne leidend, hatte er schon zwei Monate keinen Fuß mehr in die Universität gesetzt, und die Beziehung zu seiner Tante Clothilde hatte sich darob erheblich verschlechtert.
Eigentlich bester Stimmung, nachdem sie im Kaufhaus Printemps die neue Kollektion gesichtet hatte, war ihre Freude an diesem Morgen und für den Rest des Tages unwiderruflich dahin, als sie ihren Salon betrat und dort wie an den Tagen zuvor ihren Neffen gleich einem Haufen Schmutzwäsche auf ihrem Sofa liegen sah, wo er, den Kopf in ein feuchtes Handtuch gewickelt, vor sich hin lamentierte. Mit einem klangvollen Seufzer teilte sie ihm ihre Verärgerung mit.
»Haben Sie Mitleid, werte Tante, und schreien Sie nicht! Mein Schädel schmerzt in einem Maße, dass ich mich frage, ob nicht ein Tier in meinem Kopfkissen lauert und sich über Nacht an meinem Gehirn weidet.«
Sie fegte das mit einer gereizten Handbewegung beiseite. »Sie haben einen Brief Ihres Vaters erhalten.«
»Oh! Lesen Sie vor …«, sagte Auguste mit ersterbender Stimme. »Ich kann kaum die Augen öffnen.«
»Ich habe es mehr als satt, dass Sie meine Wohnung mit einem Kurhotel verwechseln, wo man den ganzen Tag verschläft und sich die Wäsche waschen lässt. Lesen Sie diesen Brief doch selbst!« Damit klaubte sie den Umschlag vom Tisch und warf ihn ihm ins Gesicht.
Auguste wartete, bis sie das Zimmer verlassen hatte, um den Brief aufzureißen.
Er enthielt keine guten Nachrichten.
Die israelitische Stellvertreteragentur an der Place Sainte-Opportune, die angeblich Männer in Hülle und Fülle zu verkaufen hatte, hatte sich als Sackgasse erwiesen: Sie war vollständig geplündert und hatte keinen einzigen mehr im Angebot, dabei hatte man einen Vorschuss von 1000 Franc gezahlt. Den hatte Monsieur Levy letztlich zurückerstattet, aber das Problem blieb bestehen, denn in ganz Paris befanden sich alle Agenturen in der gleichen Mangelsituation. Man musste sich folglich ohne sie behelfen. Sein Vater hatte daraufhin die Idee gehabt, seinen sämtlichen Lieferanten ein Schreiben zu schicken mit der Aufforderung, sich bei Gastwirten, Kutschern, Schuhmachern und Pfarrern zu erkundigen – bei allen Berufen, die Kontakt zur Welt hatten –, ob sie Arbeiter ohne Arbeit kannten, die einverstanden wären, sich an einen Familienvater zu verkaufen. Bedauerlicherweise hatte auch dies zu nichts geführt.
Er hatte auch einem entfernten Vetter im Baskenland geschrieben, aber das Anerbenrecht hatte sich dort so verheerend ausgewirkt, dass alle verfügbaren jungen Männer nach Amerika ausgewandert waren. Die Agrargebiete wie die Normandie oder Nordfrankreich erbrachten ebenfalls nichts, denn die einzigen freien Einstandsmänner wurden von den örtlichen Hofbesitzern für ihre Söhne zu horrenden Preisen aufgekauft.
Man riet ihm, eher im Umkreis der großen Städte zu suchen. In Bordeaux hatte einer seiner Steinlieferanten um Haaresbreite einen Einsteher für ihn gefunden. Der Sohn eines Wasserverkäufers, der bei der Auslosung selbst eine schlechte Nummer gezogen hatte, aber da ein Bruder bereits Dienst tat, von der Wehrpflicht befreit war und folglich in der Position, sich freiwillig zu verpflichten. Doch als das Geschäft kurz vor dem Abschluss stand, hatte ein Notar ihm den Mann für die astronomische Summe von 10.000 Franc abspenstig gemacht.
Man empfahl ihm auch ehemalige Soldaten, die bei den Musterungskommissionen hoch im Kurs standen. Im Département Orne hatten seine Kundschafter nach der seltenen Perle gesucht und schließlich einen Rekruten gefunden, der Augustes Platz hätte einnehmen können; ein gewisser Roussel, der wegen eines Beinleidens als dienstunfähig entlassen worden war, sich über die letzten zwei Jahre jedoch erholt hatte. Er maß fünf Fuß und drei Zoll, hatte intakte, wiewohl recht hässliche Schneide- und Eckzähne, neigte zu Hämorrhoiden, aber seine Beine, hieß es, seien wieder tadellos. Sein Preis war mit dem Onkel, der ihn beherbergte, zu verhandeln, aber dieser wollte von unter 9000 Franc nichts hören, die Hälfte als Handgeld, was Casimir angesichts der zweifelhaften Konstitution des Kandidaten für überteuert hielt. Dennoch fand der Mann sehr schnell einen Abnehmer und wurde vom Anwerber einer Pariser Versicherungsanstalt gekauft, dessen Beutezug ihn bis in diese Gegend führte.
Jedes Mal, wenn man kurz vor dem Abschluss stand, lag es an der Entfernung, dass das Geschäft geplatzt ist. Ich habe persönlich drei Mal einen Handel gemacht, in Laon, Orléans und Beauvais, keiner davon hatte Bestand, was an der Sorte Leute lag, mit denen ich verhandeln musste, und ich habe mit den drei Reisen, den Kosten für Unterkunft, Handgelder, Anwerber und die Mahlzeiten, die ich ihnen ausgeben musste, nicht weniger als 800 Franc berappt.
Eins steht derzeit fest: Im Umkreis von tausend Meilen ist nicht der geringste 5 Fuß 1 Zoll für unter 8000 Franc zu finden. Aber mach dir deshalb keine Sorgen, wir werden dich dieser vermaledeiten Konskription entwinden, und ich bin gewiss, du kannst schon bald dem Mann deiner Schwester danken, der die Sache in die Hand genommen hat. Als ehemaliger Militär kennt er die Lokale, wo diese Leute trinken, und weiß besser als jeder andere mit ihnen zu reden. Er hat sich erboten, nach Toulon zu reisen, dem Ort, wo die Wehrpflichtigen aus Afrika ausschiffen, aber deine Schwester hat dagegen opponiert. Die Stadt soll zu einer Kloake geworden sein, in der sich sämtliche Menschenhändler aus der Hauptstadt versorgen. Sobald ein Schiff anlegt, kreuzen die Agenten der Versicherungsanstalten und die Anwerber mit Taschen voller Gold auf, um den von tropischen Fiebern und der langen Seereise geschwächten Soldaten ihre Unterschrift zu entreißen. Danach locken sie sie in Kaschemmen, wo man sie unter Drogen setzt und dazu bringt, das Geld für die Stellvertretung, das man ihnen noch nicht ausgezahlt hat, für Prostituierte und Orgien zu verprassen. Der Makler, der sie zum Trinken verleitet, verspricht ihnen 6000 Franc und zahlt ihnen nicht einmal die Hälfte aus, mit dem Rest werden die Ausschweifungen abgegolten, die man ihnen zu Wucherpreisen in Rechnung stellt. Im Anschluss verkauft er sie für 10.000 Franc an bedauernswerte Familienväter weiter, die zu jedem Opfer bereit sind, um ihren Jungen zu retten. Jedenfalls habe ich in der von meinem Freund Tripier herausgegebenen Zeitung gelesen, dass die Musterungskommissionen strikte Weisung erhalten haben, diese aus Afrika ausgestoßenen verrückten Haudegen abzulehnen.
Dein Schwager hat sich deshalb für die Bretagne entschieden, wo alte Freunde ihm noch Gefallen schuldig sein sollen. Er hat ihnen geschrieben. Wir warten.
Mit einem elegischen Seufzer faltete Auguste den Brief seines Vaters wieder zusammen, dann stand er auf.
»Tante, ich gehe aus!«
Keine Antwort.
Er traf sie draußen vor dem Portal im Pulk mit sämtlichen Anwohnern der Rue du 10-Décembre, verzückt angesichts einer Kohorte Kürassiere, die aufrecht und stolz auf ihren Pferden vorüberritten. Der Schimmer der Frühlingssonne auf den Harnischen, das Beben der Erde unter den Hufen füllten die Luft mit dem Kitzel einer Schlacht, was die Gaffer so sehr elektrisierte, dass sie Auf nach Berlin! Auf nach Berlin! brüllten, bis ihre Stimme versagte.
Clothilde, die ihn üblicherweise mit Fragen überhäufte, sobald er einen Fuß vor die Tür setzte, würdigte ihn keines Blickes, zu sehr damit beschäftigt, die gebräunten Gesichter unter den Helmen, die starken Muskeln, die gewölbte Brust der Soldaten zu bewundern. Er beobachtete sie verstohlen und stellte mit Grausen fest, dass sie trotz ihrer sechsundfünfzig Jahre vor Verlangen bebte und mit geblähten Nüstern den kräftigen Geruch dieser Kampftiere einsog.
»Tante, ich gehe aus!«, rief er mit Nachdruck und absichtlich erhobener Stimme.
»Ich habe das Ehepaar Gonthier-Joncourt samt Tochter noch einmal zu meiner Dienstags-Soirée eingeladen. Darüber wollte ich eigentlich mit Ihnen sprechen. Ich wünsche, dass Sie sich von Ihrer besten Seite zeigen.«
»Die Liebe ist eine zu ernste Sache, um zwecks Umgehung des Wehrdiensts irgendein hässliches Entlein zu heiraten. Außerdem muss ›Familienernährer‹ als Freistellungsgrund vor der Auslosung geltend gemacht werden, nicht danach! Es ist also zu spät.«
»Hätten Sie auf mich gehört …«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge, diese Leute stellen Ziegel her, nicht wahr? Oder machen sie in Steinkohle? Oder in Patenten? Mit Verlaub, werte Tante, es steht Ihnen nicht zu, mir die Ehe zu predigen, wo Sie sich selbst stets dagegen gewehrt haben!«
»Das ist etwas vollkommen anderes, wie Sie sehr wohl wissen. Wenn die Frauen immer noch heiraten, dann deshalb, weil sie die Gesetze nicht kennen. Sie aber sind keine Frau. Und ja, diese Leute machen in Steinkohle, wohingegen Sie, wenn ich erinnern darf, in gar nichts machen. Und die Gans, die davon träumt, dass eines Tages ein Dummkopf ihr ihre Erbschaft entreißt, ist Eulalie, ihrer Eltern einzige Tochter, und der Dummkopf in der Geschichte – wenn es nach mir geht, sind das Sie!«
»Mademoiselle Eulalie hat mit neunzehn Jahren bereits die Statur eines kräftigen Landnotars, stellen Sie sich vor, wie sie erst mit dreißig aussehen wird. Obendrein ist sie ein nettes Mädchen und hat gewiss Besseres verdient als einen Mann, der sie niemals lieben wird.«
Seine Tante zuckte schnaubend die Achseln. »Die Gonthier-Joncourt nehmen Sie niemandem weg, und sie weiß das nur zu gut. Genau wie ihre Eltern. Die Verbindung mit einer anständigen jungen Frau, sei sie auch wenig anziehend, dürfte Ihnen, da sie Ihnen Ihre Leidenschaft für … für philosophische Betrachtungen finanziert, weit nützlicher sein als Ihre Gelage mit den Habenichtsen, die sich in Ihren sozialistischen Cafés herumtreiben. Sie wollen Ihr Leben dem Denken weihen? Meinetwegen. Ein de Rigny kann mit seinem Leben anfangen, was er will, aber es ist ihm nicht gestattet, arm zu sein!« Clothilde äußerte diese Familienmaxime, ohne ihren Neffen auch nur anzusehen, während ein Kürassier ihr das Lächeln eines lüsternen Tiers zuwarf, das ihr Gesicht zum Glühen brachte. Auguste war es schlichtweg peinlich.
»Aha, ich sehe schon … Dann überlasse ich Sie Ihren viehischen Gedanken … Guten Abend, werte Tante.« Damit wandte er sich in Richtung seines Hauptquartiers, will sagen, dem Café de Madrid auf dem Boulevard Montmartre.
2
Folglich schlafe ich bei Omi Soize, wenn ich auf der Insel aufschlage, und auf keinen Fall bei meinem Vater.
Als kleine Nachzüglerin aus zweiter Ehe mag sie seine Tante sein, trotzdem ist sie nur acht Jahre älter als er. Sie hatte nie eigene Kinder, aber dafür hatte sie mich.
Wenn man sie in ihrem beigefarbenen Regenmantel und ihren mit Haarspray festbetonierten grauen Ringellöckchen durchs Städtchen trippeln sieht, würde man sie auf fünfundsiebzig bis fünfundachtzig schätzen. Als diese Geschichte hier begann, war sie dreiundneunzig. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass wir auf unserer Insel, wo die Einwohner sowohl gesunde Lebensweise als auch sozialen Zusammenhalt pflegen – man isst, was man im eigenen Gemüsegarten anbaut, und alle stecken ihre Nase in die Angelegenheiten der Nachbarn –, eine landesweite Rekordzahl an Hundertjährigen haben. Kerzengerade und wie aus dem Ei gepellt, und sei es nur für den Gang zum Bäcker, hat sie sich stets in jeder Lebenslage um ein Maximum an Würde bemüht. Man trifft sie um 9:30 Uhr in der Bäckerei, um 9:45 Uhr im kleinen Supermarkt, um 9:50 Uhr im Zeitschriftenladen, um ihren Ouest-France zu kaufen, und um 10 Uhr auf dem Friedhof, um der Familie guten Tag zu sagen.
Es heißt, sie hatte eine große Liebe, eine Liebe, wie es sie nur einmal im Leben gibt, dass der Auserwählte jedoch aufs Meer hinausfuhr und nie wiederkehrte.
Langer Tag
Seine Augen sind müde
Vom Betrachten des Ozeans …
Na ja, das ist das, was man sich erzählt, oder eher das, was sie einem immer weismachen wollte, aber ich habe den Verdacht, sie teilt mit allen Frauen hier eine zugleich realistische und resignative Auffassung vom männlichen Geschlecht: alles Drohnen, nur dazu nutze, Kinder zu zeugen.
Ansonsten gehört sie charaktermäßig zu denen, die dir hemmungslos die Meinung geigen, denn sie findet, dass die meisten Leute Angeber sind und es ihnen total an Bescheidenheit mangelt. Mit dem Alter und der damit einhergehenden mathematischen Abwesenheit von Zukunft machen ihre fehlenden Filter sie schlicht unberechenbar.
Es heißt, in diesem Punkt komme ich nach ihr. Bestimmt habe ich deshalb keinen Kerl und nicht nur, weil ich behindert bin und allein ein Kind großziehe. Ich bin vielleicht nicht, was man eine Granate nennt, aber deshalb noch lange nicht hässlich: Mittelgroß mit krückenbedingt starker Muskulatur, habe ich schönes Haar, das ich zum Chignon-Knoten hochgesteckt trage, eine sympathische Ausstrahlung und die blauen Augen meiner Mutter. Und wenn ich laufe, hat ein Matrose mir mal gesagt, erinnere ich ihn an das träge Stampfen eines Segelschiffs auf einem in der Sonne funkelnden Meer, was, wie Sie zugeben werden, eine ziemlich coole Beschreibung meiner Person ist.
Körperlich gleiche ich offenbar meiner echten Großmutter Rose, Halbschwester von Omi Soize, Mutter meines Vaters, die lange vor meiner Geburt starb. In den Dreißigerjahren erlangte diese Dame an einem Tag mit zum Schneiden dichtem Nebel mit einer verrückten Aktion Berühmtheit, als sie etwa zwanzig Seeleute von einem auf Grund gelaufenen Handelsschiff rettete. Sie sprang in voller Montur ins Wasser und schleppte das Wrack einer riesigen Schaluppe, in dem sie alle Zuflucht fanden, mit der Kraft ihrer Arme an Land. Postkarten aus der Zeit, die das Ereignis feiern, sind im Zeitschriftenladen erhältlich. Darauf ist Rose zu sehen, mit Spitzhaube und in traditioneller Tracht, die Brust mit Orden behängt. Als ich klein war, haben die Erwachsenen in meinem Umfeld mir prophezeit, dass ich ihr eines Tages sehr ähnlich sehen würde, was mir insoweit schmeichelte, als ich sie wirklich ungemein hübsch fand. Nur dass das auf den Fotos gar nicht meine Großmutter war. Der Fotograf fand wohl, eine Frau mit Charakter zu sein sei mit der dem Anlass geziemenden Anmut unvereinbar, denn er wählte eine Inselschönheit mit dümmlicher Ausstrahlung, um ihm an Roses Stelle und mit ihren Medaillen Modell zu stehen …
Tatsächlich existiert nur ein einziges Foto dieser kühnen Bretonin. Es zeigt sie, wie sie strahlend neben ihrem Ehemann steht, denn im Gegensatz zu Omi Soize und mir hatte meine Großmutter Rose wahnsinnig Glück in der Liebe. Zwar sieht sie auf dieser Aufnahme nicht sehr umgänglich aus und es gibt eine gewisse Familienähnlichkeit, aber es ist vor allem mein Großvater, der den Blick auf sich zieht: ein Klumpen Mensch, wie man ihn nur auf Bildtafeln in kriegsmedizinischen Fachbüchern sieht. Ein alter Krüppel von 14/18, den man auf ein Fass gesetzt hatte, weil ihm die Beine und auch ein Stück vom Gesicht fehlten. Renan de Rigny, die perfekte Illustration für unser Inselsprichwort zum Thema Männerknappheit: Greif zu, wenn du kannst, es gibt nicht für jede einen! Diesem Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg verdankten wir unseren eigentümlichen Familiennamen, während die Leute hier, da sie bei der Partnerwahl hart am Wind segeln, alle Cozan, Botquelen, Tual, Miniou, Malgorn oder Jezequel heißen. Das hätte mich stutzig machen müssen, aber da unsere Zugehörigkeit zur Inselgemeinschaft nie infrage stand, weil wir bei den Dorffesten beim Kartoffelschälen halfen, zu allen Beerdigungen gingen und sämtliche Zerwürfnisse von tausend Generationen kannten, waren wir von hier, basta.
»Also, wie geht es Juliette?«
Mit Omi Soize ist es bei meiner Ankunft immer der gleiche Einstieg, dabei beherrscht sie WhatsApp wie eine Göttin und spricht ständig mit meiner Tochter. Es liegt wohl daran, dass sie fernmündlich nur jedes fünfte Wort von ihr versteht, denn sie ist stocktaub, aber zu eitel, das zuzugeben.
»Und dir?«
»Bestens. Ich bin Chefin der Reproabteilung geworden, aber das habe ich dir schon x-mal erzählt, oder?«
»Du hast dich nicht verändert, was? Triffst du denn wenigstens Leute?«
»Wenn du mit Leute meinst: Hast du einen Kerl gefunden, der sich um Juliette kümmert?, lautet die Antwort nein. Ich brauche keinen. Meine Freundin Hildegarde und ihre Familie sind vollkommen ausreichend. Und meine Nachbarn. Der sechste Stock in meinem Haus ist wie hier, er ist wie ein kleines Dorf.«
Zeit, über meine Behinderung zu reden. Nach drei superschmerzhaften Operationen mit sechzehn, achtzehn und einundzwanzig und durch eine Reihe Metallplatten ist mein Rückenmark schwer beschädigt. Daran liegt es, dass ich nur so schleppend vorankomme und mich mit bis über die Oberschenkel reichenden Beinorthesen und zwei Stöcken aufrecht halte, die mir das Gehen ermöglichen. Ich habe ständig Schmerzen, aber dank der Härte von Omi Soize und weil man mich so oft Heulsuse geschimpft hat, habe ich gelernt, mich nicht zu beklagen, so nachhaltig, dass ich gar nicht mehr weiß, ob mir überhaupt was wehtut.
Solange ich im Rehazentrum oder auf der Insel war, lief alles gut, aber als ich mich dem wahren Leben auf dem Kontinent stellen musste, der geballten jugendlichen Dummheit gepaart mit dem binären Denken am Gymnasium, war das ein anderes Paar Stiefel. Da ich mit meinen Krücken und meinen eingerüsteten Beinen für eine »1« nicht infrage kam, war ich eine »0«, eine bizarre Karotte, die immer aussortiert wird, weil sie nicht ins Kalibriernormal passt. Ein mieses Gemüse, das auf den Müll gehört.
Heutzutage mag ich einen Dr. phil. haben, wirklich geändert hat sich dadurch nichts; die Erwachsenen sind bloß höflicher. Leute, die mich nicht kennen, ignorieren mich instinktiv, als wäre ich unfähig, einen Weg zu beschreiben, eine Frage zu beantworten, eine Meinung zu haben, nur weil ich auf Krücken durch die Gegend watschle. Als wäre ich im Grunde beschränkt. Wenn sie mich ausnahmsweise doch mal ansprechen, dann fixieren sie einen Bereich auf Kinnhöhe, um nicht meinem Blick zu begegnen, denn sie haben Angst. Wovor? Weiß der Henker. Immerhin könnte ich vielleicht ansteckend sein. Oder ihnen Unglück bringen.
Ich halte mich nicht lange mit dem Geburtstagsessen meines Vaters auf, das am Abend meiner Ankunft stattfand und an sich nicht weiter spannend war. Dafür wurde das, was im Anschluss folgte, zum Ausgangspunkt für dieses ganze Abenteuer.
Das Abendessen wurde hinuntergeschlungen. Omi Soize hatte uns Bratkartoffeln und Makrele mit Senf und zum Nachtisch einen fluffigen Gâteau de Savoie gemacht. Ohne ein freundliches Wort und ohne seinen Arsch zu heben, um ihr zu helfen, stopfte mein Vater das alles in sich hinein, während er uns mit seinen Verschwörungsmythen von der Sorte wir werden belogen – alle korrupt – ich kenne einen, der … nervte. Und ich nickte dazu mit der üblichen Toleranz derer, die weiß, dass sie gleich abhaut, was ich auch schleunigst tat, sobald der Tisch abgeräumt war.
Ich ging also raus, um unter Menschen zu kommen.
Zwei schlafende Schafe schwankten im Halbdunkel auf ihren Hufen und ein paar Katzen auf Abfallsuche machten ein bisschen Radau, aber bis auf das Le Kastel mit seinem erleuchteten Schaufenster, das ein helles Rechteck auf die Fahrbahn warf, war die Dorfmitte absolut ausgestorben. Man muss wissen, dass außerhalb der Saison auf der Insel eine so trostlose Atmosphäre herrscht, dass es einen wirklich guten Grund braucht, um nicht auf den Kontinent zu flüchten. So eine Stimmung müsste Touristen eigentlich abschrecken; aber im Gegenteil, sie zieht sie an. Es ist sogar die Lieblingszeit der depressiven Deppen auf der Suche nach Authentizität, die herkommen, um im Kontakt mit den Felsen, dem tosenden Meer und kübelweise Regen aufzutanken.
Le Kastel ist eine über zweihundert Jahre alte Kneipe, von der man sagt, anhand der dort geschluckten Menge Alkohol lasse sich die Traurigkeit und Fröhlichkeit der Inselbewohner messen. Wie dem auch sei, sie ist einen Umweg wert, und sei es nur wegen der Deko. Der Wirt – den alle sinnig Sohn vom Boche nennen, mit Bezug auf seinen Vater den Boche, der während der Besatzung gezeugt wurde – hat seine Wände mit grauenhaften Plakaten vom Tro Bro Léon plakatiert, der bretonischen Variante des Radklassikers Paris–Roubaix, auf denen jeweils in unterschiedlichen Positionen ein schlammverschmierter Radsportler – mit einem Schwein zu sehen ist. Hier und dort lassen sich auch kleine Schweinefigürchen entdecken, die aus einer mutmaßlich gigantischen Sammlung stammen.
Ich grüßte in die Runde und hockte mich in eine Ecke vor ein Glas Cidre, während ich mich beim Enkel vom Boche, fünfzehn Jahre und schon einen Ellbogen auf der Theke, nach dem Grund für die allgemeine Niedergeschlagenheit erkundigte: Die Kicker von Stade Brestois hatten mal wieder eine demütigende Schlappe erlitten.
Es waren immer die Gleichen, die sich hier volllaufen ließen. Brieg mit seinem um den Hals gewickelten Baumwolltuch, der in seiner eigenen Vorstellung ein großer Skipper war. Demnächst holen wir sie ab. Wen oder was? Um wohin zu fahren? Wir sind nie dahintergekommen! Roger Orion, Gesichtsfarbe rohes Steak, immer am Motzen … an diesem Abend motzte er über die Robben, die seinen Fisch gefressen hatten, weshalb er davon träumte, sie mit dem Jagdgewehr abzuknallen (was er im Übrigen tut), verfickter Meeresnaturpark! Lebivic, Lokalkorrespondent von Ouest-France, dessen letzte Heldentat darin bestand, die Verliererliste bei den Kommunalwahlen als Wahlsieger anzugeben. Le Héron, Ex-DJ der ehemaligen Inseldisco, die in den Neunzigern nach wiederholten Alkoholkomas unter ihrem Asbesthimmel dichtgemacht wurde.
Natürlich waren auch die drei aus Paris mit von der Partie, sie erlebten ihren großen Moment der Verbrüderung mit dem Autochthonen, insbesondere der depressive Brillenträger, der gerade seine Katharsis durchmachte. Stockbesoffen schilderte er den Kanaillen mit vielen widerlichen Details, wie seine Freundin Alice beim Einsturz eines Steinstupas zu Tode kam.
Um ihn abzulenken, versprach ihm Brieg nachdrücklich, er werde, wenn wir sie abholen, Kathmandu anlaufen – stand eh auf dem Plan – und diesen armen Menschen helfen, einen Brunnen zu bohren. Er hatte schon einen in seinem Garten gebaut, so dass er vergangenen Sommer seine Kartoffeln gießen konnte, als die Stadtverwaltung Wasserrationierungen verhängt hatte. Roger Orion machte die sachdienliche Anmerkung, dass Kathmandu siebenhundert Kilometer vom Meer entfernt lag und man dort, am Fuße des Himalaya, zudem nicht eben an Wassermangel leide. »Dein Brunnen geht den Nepalesen am Arsch vorbei«, fügte er wenig nett hinzu. Der Witwer erklärte ihnen mit schwerer Zunge, seine Freundin habe die ganzen Arschlöcher in ihrer Familie kategorisch abgelehnt, was sie ihr heimzahlten, indem sie sie zur linken Socke erklärten, die ihres Standes unwürdig sei und die Ihren verrate. »Die sind schuld, dass sie tot ist«, plärrte er, denn sie sei ans Ende der Welt gereist, um ihnen zu entkommen.
Die Säufer nahmen Anteil, indem sie gravitätisch den Kopf wiegten, ein wahrer Unglückstag, an dem Brest erneut den Aufstieg in die erste Liga verpasste.
Die schmucklose große junge Frau fügte hinzu, dass Lili, ihre tote Freundin, so ein tolles, süßes, intelligentes, großzügiges Wesen – lass gut sein, dachte ich bei mir –, sich inniglich gewünscht habe, dass man ihre Asche von den Felsen der Insel übers Meer verstreut. Obwohl sie keine Asche zum Verstreuen hatten, da man Lili, Zitat, »zwangsbeerdigt« hatte, waren sie hergekommen, um ihre Lieblingsstofftiere ins Wasser zu werfen!