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»Mit etwas Glück erstickt eine Robbe an einem Teddy«, fühlte sich Roger Orion zu schließen bemüßigt.
Da ich für einen Abend genug Schwachsinn gehört hatte, trank ich aus und ging nach Hause ins Bett. Aber als ich erst mal lag, fand ich keinen Schlaf, als würde ein Ding durch meinen Kopf kriechen und mir die Ruhe rauben; ein Gefühl von Unheimlichkeit. Und als ich es endlich schaffte einzuschlafen, hatte ich einen scheußlichen Albtraum, der mich sofort wieder aufweckte.
Superverängstigt tastete ich nach meinem Smartphone, um auf die Uhr zu schauen, und da ich nicht wieder einschlafen konnte, tippte ich, um die Zeit totzuschlagen, bei Google die Wörter Erdbeben, Nepal, gestorben, Abgeordneter ein und erhielt Dutzende Treffer: Alice de Rigny, Tochter des ehemaligen Abgeordneten und Geschäftsmanns Philippe de Rigny, war vierzig Kilometer von Kathmandu entfernt auf grässliche Weise ums Leben gekommen.
Alice de Rigny … Philippe de Rigny … Blanche de Rigny … Jetzt war ich vollends hellwach.
Ich setzte meine Nachforschungen fort. Philippe de Rigny war der Boss der Öltradingfirma Oilofina. Seinen Sohn Pierre-Alexandre hatte man kürzlich am Flughafen von Abidjan verhaftet, als er gerade seinen Privatjet besteigen wollte. 2014 war gegen ihn ein Verfahren wegen Bestechung eingeleitet worden, es ging dabei um Kontaminierung mehrerer Mülldeponien der Stadt mit Giftabfällen. Den Beinamen Riesenarschloch hatte man ihm also nicht leichtfertig gegeben.
Jetzt stand ich auf und begann die Sachen von Omi Soize hektisch nach Spuren meiner Familie väterlicherseits zu durchsuchen. Ich fand nur das Foto von meiner Großmutter und ihrem Stumpf von Gatten, das ich schon kannte, aber diesmal beäugte ich es mit einem ganz neuen Blick. Zum Beispiel hatte ich nie wahrgenommen, wie sehr das Bild dieser stolzen großen Frau in traditioneller Tracht und ihres auf einem Fass thronenden alten Mannes, beider Brust mit Orden behängt, wie sehr dieses Bild eines in einer Samtschachtel aufgespießten unwahrscheinlichen Schmetterlingspaars gleichzeitig berührend und trashig war.
Omi Soize schreckte mich auf. »Bist du in Paris auch zu so unchristlicher Zeit auf den Beinen?«
»Sag, kanntest du den Großvater?«
»Ist das eine Frage, die du mir morgens um sechs stellen musst? Ja, ich kannte ihn, aber da war ich noch klein. Wenn meine Schwester mit ihm auf dem Rücken ins Waschhaus kam, keilte sie ihn zwischen zwei Wäschestapeln ein, damit er nicht umfiel. Ich war ein Dreikäsehoch und hörte nicht auf, das Loch in seinem Gesicht anzustarren, das mit meinem auf gleicher Höhe war, darum wurde ich immer ausgeschimpft, und ihn brachte das zum Lachen, so was von zum Lachen … und glaub mir, das war furchterregend!«
»Das hast du mir schon erzählt, was ich wissen will, ist, wo er herkam.«
»Was soll das heißen, wo er herkam? Na, von hier, woher sonst!«
»Omi, de Rigny, das ist doch kein Name von hier!«
»Dein Großvater, der war ein Bastard. Ein Kind, das sich eine ledige Frau, eine Malgorn, in Paris hat machen lassen, wo sie hin war, um Arbeit zu suchen. Er wurde 1916 in der Schlacht an der Somme verwundet. Danach hat sich seine Mutter Corentine jahrelang um ihn gekümmert, aber als das zu schwer wurde, kam sie hierher zurück, um eine Frau für ihn zu finden und ihr den Staffelstab zu übergeben. Da war er schon ein alter Mann, und es war meine Schwester, die er geheiratet hat. Aber sie hat ihn wirklich geliebt, deine Großmutter, scheint’s war er sehr lustig.«
»Das Grab von Corentine kenne ich gar nicht, zeigst du es mir?«
… Und da waren wir, nach einer Runde zur Bäckerei, zum kleinen Supermarkt und zum Zeitschriftenladen standen wir auf dem Friedhof. Die Grabstelle oder eher die Grabkapelle meiner Urgroßmutter, eine Art Häuschen zum Schutz vor dem Regen, befand sich gleich am Eingang.
»Das ist es?«
»Ja, natürlich.«
»Das ist unglaublich!« Ich verkniff mir: In diesem Mausoleum habe ich mit meinen Kumpels heimlich meine ersten Kippen geraucht und Ether geschnüffelt. Danke, Corentine Malgorn, geboren 1850, dass du die Jugend seit 1924 vor Regen und den Blicken ihrer Eltern beschützt!
Ich betrat das Gebäude, das ich in- und auswendig kannte. Das Porzellanmedaillon mit ihrem Foto mochte Zeuge meiner sämtlichen Dummheiten gewesen sein, trotzdem hatte ich nie einen Zusammenhang mit jemandem aus meiner Familie hergestellt. Anders als bei den anderen alten Gräbern war Corentine nicht mit weißer Haube und in schwarzer Tracht abgebildet, sondern als schicke, wirtschaftlich erfolgreiche Bürgerin.
»Sag mal, sie hatte die Mittel, um sich so ein Teil bauen zu lassen. Warum ist sie ganz alleine begraben und nicht in der Malgorn-Sektion des Friedhofs?«
»Weil sie sich mit denen überworfen hat, glaube ich. Frag deinen Vater, es ist schließlich seine Großmutter.«
Letzteren traf ich an, wie ich ihn seit jeher kannte, in seinem Anbau, wo er still an seinen Körben herumbastelte. Obwohl er mit seinen buschigen weißen Brauen wie ein Satyr und seinem gegerbten Gesicht immer noch ein gutaussehender Mann war, tat er mir unendlich leid. Wie unsere Insel, deren Felder mit Brombeergestrüpp überwuchert waren, nachdem sie über Jahrhunderte eine Beinahe-Zivilisation ernährt hatten, war er verwahrlost. Seine arthrosesteifen Hände mit den zu langen Nägeln waren ungeschickt geworden und seine Kleider total fadenscheinig, denn es gab keine Läden mehr, um neue zu kaufen, und Internet kannte er nicht. In einem Moment der Schwäche sagte ich mir, dass es vielleicht an der Zeit war, Frieden zu schließen.
»Was willst du zu Mittag essen, Papa?«
»Nichts. Wann fährst du?«
»Ich nehme nachher das Boot.«
Schweigen. »Gut.«
Also ging ich zum Angriff über. »Was ich dich fragen wollte: Warum ist deine Großmutter Corentine allein begraben und nicht bei den anderen Malgorns?«
»Weil sie sie auf ein Jahrhundert verflucht hat.«
»Warum?«
»Keine Ahnung, das sind alte Geschichten!«
»Warum hat sie die Malgorns auf ein Jahrhundert verflucht?«
»Seit wann interessiert dich das?«
»Seit heute!«
»Die Malgorns sind immer Großkotze gewesen, wahrscheinlich deshalb.«
»Und dein Vater, warum hast du mir nie von ihm erzählt …«
»Der war ein alter Krüppel.«
»Ja, das weiß ich, aber wo wurde er geboren?«
»In Paris.«
»Omi Soize hat mir das auch erklärt: Corentine Malgorn ging zum Arbeiten nach Paris und hat sich von einem de Rigny schwängern lassen.«
Er lachte hämisch. »Die hat vor den Malgorns vielleicht geprotzt, als sie wiederkam. Hast du dich nie gefragt, warum wir als Einzige auf der Insel Zentralheizung hatten?«
»Nein, sie hat nie funktioniert.«
»Die Corentine hat ein Auto übers Meer schaffen lassen, um ihren Sohn rumzukutschieren. Ein Auto, in den Zwanzigern. Kannst du dir das vorstellen?! Es gab nur eine einzige Straße und sie hatte ein Auto! In dem Film Finis Terrae von Epstein ist es im Hintergrund zu sehen.«
»Aber de Rigny, wer war das?«
»Woher soll ich das wissen. Der Kerl, der ihr ein Kind angedreht hat.«
»Hast du ihn denn nie danach gefragt?«
»Wen?«
»Deinen Vater.«
»Meinen Vater … Mit welchem Mund hätte der mir wohl geantwortet, hä?!«
»Stimmt!«
»Dein Problem ist, dass du nie nachdenkst, wenn du redest! Im Haus in der Schublade mit den wichtigen Dokumenten ist seine Geburtsurkunde, nimm sie dir, wenn du willst. So … So …«
So … So … Meine Anwesenheit vollkommen ausblendend, bastelte er weiter an seinen Körben, sein Blick verloren in der Betrachtung eines Ölteppichs auf dem Meer. Die Regenbögen, die sich auf der Oberfläche bildeten, mussten Erinnerungen an ähnliche irgendwo bei Valparaíso, Pointe-Noire oder Pondicherry in ihm wecken. Ich schaute schweigend zu, wie er sich geistig ins Labyrinth der Laufgänge von einem der Schiffe verdrückte, auf denen er Dienst getan hat, dann ging ich rüber in sein … in unser … Zuhause. Ich weiß nicht, wie ich diesen Ort nennen soll, der seit dem Tag meines Weggangs eingefroren ist.
Dem unüberschaubaren Durcheinander auf seinem Schreibtisch entnahm ich, dass er schon lange keinen einzigen Brief mehr geöffnet hatte; Kontoauszüge, Rechnungen, Schreiben der Rentenversicherung für Seeleute vermischt mit Werbung für Angelzubehör türmten sich zu riesigen Stapeln. Ansonsten nichts als die Überbleibsel eines Seemannslebens: Gruppenfotos von ehemaligen Crews, Postkarten von fernen Häfen und Geschäftskarten von Bars und Bordellen am Ende der Welt. Er hatte es endgültig aufgegeben, ein soziales Wesen zu sein, und ich muss zugeben, dass ich ihn beneidete.
Ich hatte keinerlei Mühe, das besagte Dokument zu finden, das paradoxerweise ordentlich wegsortiert neben seinen Papieren und meinem Stammbuch in einer Schublade lag, dann verließ ich diesen Ort, der mir immer Angst eingejagt hatte.
Die Zeit bis zu meiner Abfahrt verbrachte ich mit Omi Soize. Wir redeten noch ein bisschen über Corentine Malgorn. Sie wusste nicht viel über sie, außer dass sie 1871 in Montparnasse die Crêperie À la mouette gourmande eröffnet hatte, wo die Bretonen zum Essen hingingen – siehe die in unendlichen Auflagen gedruckte Postkarte La petite Bretagne au XIXe siècle, auf der meine Urgroßmutter als stolze junge Frau mit einem kleinen Jungen vor der Tür ihres Lokals posiert. Als sie auf die Insel zurückkehrte, ließ sie von dem Geld, das sie gehortet hatte, das schönste Haus des Marktfleckens bauen; das, in dem ich aufgewachsen bin und das mein Vater verfallen ließ. Das Mobiliar hat meine Großmutter in den Fünfzigerjahren ausgewechselt, zu einer Zeit, als man die schönen Dinge gegen Resopal austauschte, weil es magisch und mit einem Schwammwisch zu reinigen war. Von Corentine war nichts geblieben außer einem Medaillon ganz hinten in einem flechtenbewachsenen Mausoleum und einer alten Wanduhr mit aufgemalten Paradiesvögeln, die schon lange nicht mehr ging.
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