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»Das ist unmöglich«, antwortete Don Quijote. »Ich sage, unmöglich kann es einen fahrenden Ritter ohne Dame geben; denn denselbigen ist es so zu eigen und angeboren, verliebt zu sein, wie dem Himmel, Sterne zu haben, und zuverlässig hat man nie eine Geschichte gelesen, wo ein fahrender Ritter ohne Liebeshandel vorkäme, und im Fall es einen gäbe, so würde er gerade darum nicht für einen echten Ritter gehalten werden, sondern für einen Bastard, der in die Burg des besagten Rittertums nicht durch die Tür, sondern über die Mauer weg eingedrungen wäre wie ein Wegelagerer und Dieb.«
»Trotz alledem«, sagte der Reisegefährte, »bedünkt es mich, wenn ich mich recht entsinne, gelesen zu haben, daß Don Galaor, der Bruder des tapferen Amadís von Gallien, niemals eine bestimmte Geliebte hatte, der er sich hätte empfehlen können; und trotzdem ward er um nichts geringer geachtet und war ein höchst streitbarer, wohlberufener Ritter.«
Darauf entgegnete Don Quijote: »Werter Herr, eine Schwalbe macht keinen Sommer, außerdem weiß ich, daß dieser Ritter insgeheim allerdings gar sehr verliebt war; nur war der Umstand, daß er alle, die ihm gefielen, gern hatte, seine angeborne Eigentümlichkeit, gegen die er nicht aufkommen konnte. Aber am Ende bleibt es doch völlig erwiesen, daß er eine einzige hatte, die er zur Herrin seiner Herzensneigungen erkoren, und dieser empfahl er sich ganz häufig und ganz im geheimen; denn er legte besonderen Wert darauf, ein das Geheimnis wahrender Rittersmann zu sein.«
»Wenn es also zum Wesen der Sache gehört, daß jeder fahrende Ritter verliebt sein muß«, sagte der Reisende, »so darf man sicherlich glauben, daß auch Euer Gnaden es ist, da Ihr zu diesem Stande gehört; und sollte es der Fall sein, daß Euer Gnaden keinen besonderen Wert darauf legt, alles so geheimzuhalten wie Don Galaor, so bitte ich Euch so inständig, als ich vermag, namens dieser ganzen Gesellschaft und meiner selbst, uns über Namen, Heimat, Stand und Schönheit Eurer Dame zu berichten; denn sie kann sich jedenfalls glücklich schätzen, wenn die ganze Welt erfährt, es sei ihr Huldigung und Liebe von einem solchen Ritter gewidmet, wie Euer Gnaden erscheint.«
Hier stieß Don Quijote einen tiefen Seufzer aus und sprach: »Ich kann nicht versichern, ob die süße Feindin mein es gern sieht oder nicht, daß die Welt wisse, daß ich ihr huldige; ich kann nur sagen, als Antwort auf ein so höfliches Ersuchen, daß ihr Name Dulcinea ist; ihre Heimat Toboso, ein Ort in der Mancha; ihrem Stande nach muß sie mindestens eine Prinzessin sein, da sie meine Königin und Gebieterin ist; ihre Schönheit überirdisch, da in ihr zur Wahrheit werden all die unmöglichen und nur von kühner Phantasie erträumten Reize, womit die Dichter ihre Geliebten begabt haben. Ihre Haare sind Gold, ihre Stirn ein Paradiesgarten, ihre Brauen gewölbte Regenbogen, ihre Wangen Rosen, ihre Lippen Korallen, Perlen ihre Zähne, Alabaster ihr Hals, Marmor ihre Brust, Elfenbein ihre Hände, ihre Weiße ist Schnee, und die Teile, welche die Ehrbarkeit dem menschlichen Anblick verdeckt, sind der Art, daß, wie ich denke und urteile, nur eine feinsinnige Beobachtung sie zu preisen, doch nicht mit andern zu vergleichen imstande ist.«
»Den Stammbaum, das Geschlecht, die Sippschaft wünschten wir zu erfahren«, versetzte Vivaldo.
Worauf Don Quijote antwortete: »Sie ist nicht aus dem Geschlechte der alten römischen Curtius, Gajus und Scipio noch der neueren Colonna und Orsini, sie ist nicht vom Stamme der Moncada oder Requesens von Katalonien, ebensowenig der Rebella und Villanova von Valencia, der Palafoj, Nuza, Rocaberti, Corella, Luna, Alagón, Urrea, Fos und Gurrea von Aragón; der Cerda, Manrique, Mendoza und Guzmán von Kastilien, der Alencastro, Pallas und Meneses von Portugal; sondern sie ist vom Hause derer von Toboso von der Mancha, einem Geschlechte, das zwar ein neues, aber doch ein solches ist, daß es den erlauchtesten Familien künftiger Jahrhunderte einen edlen Ursprung gewähren kann. Und hiergegen soll mir niemand Widerspruch erheben, es sei denn unter der Bedingung, welche Zerbin an den Fuß des Siegesmals schrieb, das er aus den Waffen Rolands errichtet hatte:
Es rühre keiner diese Waffen an,
Der nicht Roldán im Streit bestehen kann.«
»Obschon ich dem Geschlechte der Cachopines von Laredo angehöre«, entgegnete der Reisegefährte, »will ich doch nicht wagen, es mit dem Hause derer von Toboso von der Mancha zu vergleichen; wiewohl – die Wahrheit zu sagen – ein solcher Geschlechtsname mir noch nie zu Ohren gekommen ist.«
»Sonach wäre er Euch nicht zu Ohren gekommen?« erwiderte Don Quijote.
Mit großer Aufmerksamkeit hörten alle die übrigen Wanderer dem Gespräch der beiden zu, und selbst den Ziegenhirten und Schäfern wurde klar, an welch hohem Grad von Verrücktheit unser Don Quijote litt. Nur Sancho Pansa war des Glaubens, alles, was sein Herr sagte, sei volle Wahrheit, trotzdem er wußte, wer er war, und er ihn von Jugend auf kannte; nur woran er einigermaßen Anstand nahm, war, an die Sache mit der schönen Dulcinea von Toboso zu glauben; denn nie war ein solcher Name oder eine solche Prinzessin ihm zur Kenntnis gekommen, obschon er so nahe bei Toboso wohnte.
Unter solchen Gesprächen zogen sie des Weges, als sie sahen, daß aus einer Schlucht, die sich zwischen zwei hohen Bergen öffnete, etwa zwanzig Schäfer herabkamen, alle in schwarze Schafpelze gekleidet, den Kopf geschmückt mit Kränzen, die, wie man nachher in der Nähe sah, hier aus Taxus, dort aus Zypressenzweigen geflochten waren. Sechs von ihnen trugen eine Bahre, die mit einer Masse mannigfaltiger Blumen und Zweige bedeckt war. Bei diesem Anblick sprach einer der Ziegenhirten: »Die dort kommen, die tragen Grisóstomos Leiche, und am Fuß dieses Berges ist die Stelle, die er zu seinem Grabe bestimmt hat.«
Sie beeilten sich daher, an den Ort zu gelangen, und sie kamen gerade hinzu, als die Träger die Bahre eben niedergesetzt hatten. Vier von ihnen waren beschäftigt, mit spitzen Pickeln die Gruft am Rande einer harten Felswand zu graben. Mit Höflichkeit begrüßten sich alle gegenseitig, und Don Quijote und seine Begleiter richteten sofort ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Bahre und erblickten auf derselben, mit Blumen überdeckt, einen Leichnam in Schäfertracht, dem Anscheine nach im Alter von dreißig Jahren; und noch im Tode zeigte er, wie schön sein Antlitz und wie stattlich sein Aussehen im Leben gewesen war. Auf der Bahre lagen um ihn her einige Bücher und viele Papiere, teils offen und teils verschlossen. Sowohl die zuschauten als auch, die das Grab bereiteten, und alle andern, die zugegen waren, beobachteten ein wundersames Schweigen, bis einer der Träger zu dem andern sagte: »Seht wohl zu, Ambrosio, ob dies die Stelle ist, die Grisóstomo bezeichnet hat, da Ihr wollt, daß alles so ganz genau vollstreckt werde, was er in seinem Letzten Willen bestimmt hat.«
»Hier ist die Stelle«, antwortete Ambrosio, »denn hier hat mein unglücklicher Freund mir oft die Geschichte seines Mißgeschicks erzählt. Hier, sagte er mir, habe er zum erstenmal jene Todfeindin des menschlichen Geschlechts erblickt. Hier auch war’s, wo er ihr zum erstenmal seine Gesinnungen offenbarte, die so rein waren wie reich an Liebe; und hier war’s, wo Marcela zum letztenmal und unwiderruflich ihm kundgab, daß sie ihn verschmähe und alle Hoffnung ihm versagt sei, so daß er dem Trauerspiel seines elenden Lebens ein Ende machte; und hier wollte er, zum Angedenken so großen Unglücks, in den Schoß der ewigen Vergessenheit versenkt werden.«
Und sich zu Don Quijote und dessen Reisegefährten wendend, fuhr er folgendermaßen fort: »Dieser Körper, ihr Herren, den ihr mit Augen voll frommen Mitgefühls betrachtet, umschloß eine Seele, in welche der Himmel eine unendliche Fülle seiner reichsten Gaben gelegt. Dies ist der Körper jenes Grisóstomo, der einzig war an Geist, einzig an feiner Sitte, unvergleichlich an liebenswürdigem Wesen, ein Phönix in der Freundschaft, großmütig ohne Grenzen, würdevoll ohne Anmaßung, heiter, ohne zu niedrigem Scherz herabzusteigen, und, in einem Worte, der Erste in allem, was gut und edel, und ohnegleichen in allem, was unglücklich ist. Er liebte treu und wurde gehaßt; er betete an und ward verschmäht; er flehte zu einem reißenden Tier, er wollte einen Marmorblock rühren, er lief dem Winde nach, er erhob seine Stimme in der einsamen Öde, er weihte seine Dienste der Undankbarkeit, von der er als Lohn empfing, dem Tode zur Beute zu werden inmitten seiner Lebensbahn, der ihr Ende bereitet ward von einer Hirtin, die er bestrebt war unsterblich zu machen, auf daß sie im Angedenken der Menschen fortlebe; und das könnten wohl diese Blätter dartun, auf die ihr hinblickt, wenn er mir nicht geboten hätte, sie dem Feuer zu übergeben, sobald ich seinen Körper der Erde anvertraut habe.«
»Da würdet Ihr mit größerer Härte und Grausamkeit gegen sie verfahren«, sagte Vivaldo, »als ihr eigener Verfasser; denn es ist nicht gerecht noch verständig, den Willen eines Mannes zu vollziehen, dessen Anordnungen die Grenzen alles vernünftigen Denkens überschreiten. Auch Cäsar Augustus würde es nicht für recht erachtet haben, die Ausführung dessen zu gestatten, was der göttliche Mantuaner in seinem Letzten Willen verordnet hatte. Sonach, Señor Ambrosio, wenn Ihr den Körper Eures Freundes der Erde übergeben müßt, so wollet doch seine Schriften nicht der Vergessenheit übergeben; denn es ist nicht wohlgetan, daß Ihr, was er als ein schwergekränkter Mann verfügt hat, als ein unüberlegter vollstrecket. Verleihet vielmehr diesen Blättern Leben, damit sie es der Grausamkeit Marcelas auf ewig verleihen, um in den kommenden Zeiten den Lebenden zum Beispiel zu dienen, daß sie es meiden und scheuen, in solche Abgründe zu fallen. Denn ich und alle, die wir hier zugegen sind, wissen bereits die Geschichte dieses Eures durch Liebe in Verzweiflung gestürzten Freundes; wir kennen Eure Freundschaft und die Ursache seines Todes und die Verfügungen, die er bei seines Lebens Ende hinterlassen hat; eine jammervolle Geschichte, aus der man entnehmen kann, wie groß Marcelas Grausamkeit, Grisóstomos Liebe und die Treue Eurer Freundschaft gewesen und welches Ziel die erreichen, die mit verhängtem Zügel den Weg hinstürmen, den sinnlose Liebe ihnen vorzeichnet. Gestern abend erfuhren wir den Tod Grisóstomos, und daß er an diesem Orte bestattet werden solle, und deshalb haben wir, aus Neugier und aus schmerzlichem Mitgefühl, unsere gerade Straße verlassen und uns vorgenommen, mit unsern Augen zu sehen, was zu hören uns so sehr betrübt hatte. Zur Vergeltung nun für diese unsere Teilnahme und für den Wunsch, der in uns lebendig wurde, noch Hilfe zu leisten, wenn sie möglich wäre, bitten wir dich, Ambrosio, als verständigen Mann – ich wenigstens meinerseits gehe dich flehentlich an –: Laß ab von dem Vorhaben, diese Papiere zu verbrennen, und laß mich einige davon mit mir nehmen.«
Und ohne die Antwort des Schäfers abzuwarten, streckte er die Hand aus und nahm einige von den zunächst liegenden Blättern. Wie Ambrosio das gewahrte, sprach er: »Aus schuldiger Höflichkeit will ich zugeben, daß Ihr die Blätter, die Ihr schon genommen, behalten möget; aber zu denken, daß ich darauf verzichte, die übrigen zu verbrennen, wäre ein eitler Gedanke.«
Vivaldo, im lebhaften Wunsch, den Inhalt der Blätter kennenzulernen, faltete sofort eines auseinander und sah, daß die Überschrift lautete: Gesang der Verzweiflung. Das hörte Ambrosio und sprach: »Dies ist das letzte, was der Unglückliche geschrieben; und damit Ihr sehet, wie weit ihn sein Elend gebracht hat, leset es laut, daß man Euch hören kann; die Zeit, die man braucht, das Grab herzustellen, wird Euch dazu völlig ausreichen.«
»Das will ich sehr gerne tun«, sagte Vivaldo; und da die Anwesenden sämtlich den nämlichen Wunsch hegten, stellten sie sich in die Runde, und er las mit vernehmlicher Stimme das Gedicht vor, das folgendes aussagte:
14. Kapitel
Welches Grisóstomos Gesang der Verzweiflung enthält, nebst andern unerwarteten Ereignissen
Grisóstomos Gesang
Da du es willst, daß rings von Mund zu Munde,
Von Volk zu Volk erschallt, grausame Schöne,
Wie hart dein Herz und wie es mir ergrimme,
So leih ich Schmerzenston mir aus dem Grunde
Der Hölle selbst, daß mir die grausen Töne
Entstellen den gewohnten Klang der Stimme.
Und meinem Wunsch gehorchend, der das schlimme
Geschick, so deine Frevel mir verheißen,
Laut künden will, wird wilder Schmerz erbrausen
Und wird mir, um zu steigern Qual und Grausen,
Vom blutgen Herzen Stücke mit sich reißen.
Sollst du Gehör leihn, nein, dem krassen Stöhnen
Des Jammers, der tief aus erkrankten Herzen
Hervor sich ringt mit Wahnsinn, mit Entsetzen,
Um mich zu letzen
und dich doch zu schmerzen.
Des Wolfes fürchterlich Geheul, des Leuen
Gebrüll, das gräßliche Gezisch der schuppigen Schlange,
Aus fremden Untiers Schlund das heisere Bellen;
Und das Gekrächz der Krähen, die da dräuen,
Daß Unheil naht; die Stürm im Donnergange,
Wild kämpfend auf empörten Meereswellen;
Des Stiers Gebrülle, den im Kampf zu fällen
Dem Feind gelang; der Turteltaube Girren
Um ihres Gatten Tod; der düstre Sang der Eule,
Der vielbeneideten; das Angstgeheule
Verdammter Geister, die im Dunkel schwirren;
Mir sollen sich all diese Kläng entringen,
Mit meiner Seele ineinanderklingen
In einem Schrei, daß wirr zusammenbrechen
Die Sinne all; denn was mein Herz bedränge,
Heischt neue Klänge,
um es auszusprechen.
Nicht soll des Vaters Tajo Sandgefilde
Mich hören, nicht der Bätis, der in Düften
Des Ölbaums hinwallt zu des Südens Pforten:
Ausklingen soll mein Schmerz, der grimme, wilde,
Auf hohen Felsen und in tiefen Klüften,
Von toter Zunge, in lebendigen Worten;
Oder in dunklen Tälern und an Orten,
In deren Öde Menschen nie verkehren
Oder die nie den Sonnenstrahl gewahren,
Oder wo wilder Bestien giftge Scharen
Sich an des flachen Nils Gestade nähren.
Und wenn auch nur in leblos öder Heide
Das Echo, auferweckt von meinem Leide,
Verkündet deine Härte sondergleichen,
So wird es doch – ein Vorrecht meinem
Wehe – In Fern und Nähe
rings die Welt durchstreichen.
Verschmähn bringt Tod; Verdacht, ob er vergebens
Sich regt, ob wahr, weiß die Geduld zu morden;
Tod bringt auch Eifersucht, die schlimmste Plage.
Zu lange Trennung nagt am Mark des Lebens;
Gegen die Angst, daß du vergessen worden,
Hilft auch kein sichres Hoffen beßrer Tage.
Dies all ist sichrer Tod. Ich aber frage:
Welch Wunder, daß ich fort mein Dasein führe,
Entfernt, verschmäht, von Eifersucht durchlodert!
Wahrheit der Argwohn, der mein Leben fordert!
In der Vergessenheit, an der ich schüre
Des Busens Glut, in soviel Qualen, nimmer
Ersah mein Blick der Hoffnung fernsten Schimmer,
Ich wage selbst nicht mehr, ihr nachzustreben,
Nein, um mich zu versenken in mein Leiden,
Schwör ich zu meiden
sie fürs ganze Leben.
Kann man im selben Augenblicke hoffen
Und fürchten? Wer mag hoffen und vertrauen,
Wo für das Fürchten stärkre Gründe walten?
Vom Blick der nahenden Eifersucht getroffen,
Soll schließen ich mein Äug; ich muß sie schauen
Durch tausend Wunden, so die Seel zerspalten.
Wer wird dir nicht die Tür weit offenhalten,
Mißtrauen, wenn Mißachtung ihre Züge
Entschleiert zeigt, in jeder kleinsten Handlung
Verdacht zur Wahrheit wird, o schlimme Wandlung!
Und reine Wahrheit sich verkehrt zur Lüge?
Gib, Eifersucht, Tyrannin in den Landen
Der Liebe einen Dolch! Mit Todesbanden,
Verschmähung, komm, mit festgedrehten Stricken!
Doch ach, schon fühl ich, wie Erinnerungen,
Die mich bezwungen,
alles Leid ersticken.
Doch muß ich sterben. Und damit ich künftig
Nie Heil erhoffen darf in Tod und Leben,
Will ich festhalten meinen Wahn und sagen:
Daß, wer recht liebt, recht handelt und vernünftig;
Daß der am freisten, der zumeist ergeben
Sich von der Liebe läßt in Bande schlagen;
Daß dir die Feindschaft stets zu mir getragen,
Schönheit der Seele wie des Leibs beschieden;
Daß ich’s verschulde, wenn du mich vergessen;
Daß durch das Leid, das sie uns zugemessen,
Die Lieb ihr Reich hält in gerechtem Frieden.
Mit solchem Wahn und mit grausamem Strange
Das Ziel beschleunigend, zu dem seit lange
Dein Hohn mich führt, geb ich, dem Erdenqualme
Entrückt, den Lüften Leib und Seele, ohne
Daß einst mir lohne
Lorbeer oder Palme.
Durch soviel Unrecht, das du mir erwiesest,
Gabst du das Recht mir und gabst mir die Lehre:
Sein Recht zu tun dem lang verhaßten Leben.
Sieh meines Herzens Wunden an, du liesest
Darin, wie freudevoll ich dir’s gewähre,
Mich deinem Groll als Opfer hinzugeben.
Erkennst du dann vielleicht, mein treues Streben
War wert, daß deiner Augen Himmelshelle
Bei meinem Tod sich trübe – doch geschehe
Das nie! Dich rühre nie das kleinste Wehe,
Wenn ich mein Herze dir zur Beute fälle.
Nein, lachend, wenn zum Grab gehn meine Reste,
Zeig, daß mein letzter Tag dir wird zum Feste!
Doch töricht, daß ich solchen Rat verschwende;
Da es ja anerkannt, wie Ruhm und Ehre
Es dir gewähre,
wenn so rasch mein Ende.
Nun kommt, ‘s ist Zeit, vom schwarzen Höllenpfade,
Kommt! Tantalus, der ewgen Dursts Geplagte,
Und Sisyphus, den Stein emporzuschwingen
Bemüht, Ixion unter seinem Rade,
Und Tithyus, der vom Geier stets Genagte,
Die Schwestern, die in ewger Mühsal ringen:
Laßt euren Jammerschrei herüberklingen
In meine Brust, kommt all mit dumpfer Klage,
Und – falls sie dem Verzweifelten gebühren
Dem Leichnam Totenchöre aufzuführen,
Ob auch die Welt das Bahrtuch ihm versage.
Du, Höllenpförtner, auch mit den drei Rachen,
Ihr Ungeheuer, all ihr tausendfachen,
Eur Grundbaß klinge drein, der rauhe, harte;
Denn wert ist keiner Beßren Leichenfeier
Ein toter Freier,
den die Liebe narrte.
Lied der Verzweiflung, nun du von mir scheidest,
Glaub, daß du darum nicht Verlust erleidest;
Denn da dem Quell, draus deine Tön entspringen,
Mein Unglück wird zur reichern Glückesgabe,
Darfst du am Grabe
selbst nicht traurig klingen.
Grisóstomos Gesang gefiel allen Zuhörern wohl; wiewohl der Vorleser sagte, das Gedicht scheine ihm nicht dem Bericht zu entsprechen, den er über Marcelas Züchtigkeit und Tugend vernommen, denn darin klage Grisóstomo über Eifersucht, Verdacht und Abwesenheit, alles zum Nachteil von Marcelas gutem Ruf und unbescholtenem Namen.
Darauf antwortete Ambrosio als der genaue Kenner der geheimsten Gedanken seines Freundes: »Damit Ihr, edler Herr, Euch wegen dieses Zweifels beruhigt, wird es Euch angenehm sein zu erfahren, daß der Unglückliche damals, da er dieses Gedicht schrieb, sich aus Marcelas Nähe fernhielt; er hatte sich freiwillig von ihr entfernt, um zu erproben, ob die Abwesenheit ihre gewöhnlichen Rechte bei ihm geltend machen würde. Und da es nichts gibt, was den entfernten Liebenden nicht quälte, und sich keine Besorgnis denken läßt, die ihn nicht ergriffe, so fühlte sich Grisóstomo gepeinigt von eingebildeter Eifersucht und von einem Argwohn, vor dem er sich ängstigte, als ob er wirklich in seiner Seele vorhanden wäre. Und so bleibt alles völlig in seiner Wahrheit, was der Ruf von Marcelas Tugend rühmt. Denn außer daß sie grausamen Sinnes ist und etwas Hoffart und sehr viel Geringschätzung an den Tag legt, darf und kann der Neid selbst Ihr keinen Fehler anheften.«
»So ist’s in Wahrheit«, erwiderte Vivaldo; und eben war er im Begriff, ein andres Blatt, das er gleichfalls aus dem Feuer gerettet, zu lesen, als eine wunderbare Erscheinung – so kam sie allen vor – ihn davon abhielt, welche unversehens sich den Blicken zeigte. Hoch oben nämlich auf dem Felsen, an dessen Fuße man das Grab aufwarf, erschien die Schäferin Marcela in so hoher Schönheit, daß sie ihren Ruf noch weit überstrahlte. Die sie bis jetzt noch nicht gesehen hatten, schauten mit schweigender Bewunderung zu ihr hinauf, und die bereits ihres Anblicks gewohnt waren, blieben nicht weniger gefesselt als jene, die sie nie gesehen.
Aber kaum hatte Ambrosio sie gewahrt, als er mit Gebärden lebhafter Entrüstung ihr zurief: »Kommst du vielleicht, du grimmer Basilisk dieser Berge, um zu sehen, ob in deiner Gegenwart die Wunden dieses Unglücklichen, dem deine Grausamkeit das Leben geraubt, zu fließen beginnen, oder um von dieser Höhe wie ein anderer Nero gefühllos auf die Flammen seines brennenden Roms zu schauen oder um diesen unseligen Leichnam mit Füßen zu treten wie die undankbare Tochter den ihres Vaters Servius Tullius? Sag uns nur unverzüglich, warum du kommst oder was eigentlich dein Begehr ist; denn da ich weiß, daß alle Gedanken Grisóstomos nie einen Augenblick im Leben aufhörten, dir dienstbar zu sein, so will ich es bewirken, daß, obschon er selber tot, dir das ganze Denken und Wollen all derer zu Diensten sei, die seine Freunde waren.«
»Ich komme keineswegs, Ambrosio«, antwortete Marcela, »in einer Absicht, wie du deren manche genannt hast, sondern um mich selbst zu verteidigen und klarzumachen, wie vernunftwidrig sie alle denken, die mir an Grisóstomos Leiden und Tod schuld geben. Und so bitte ich euch alle, die ihr zugegen seid, mir Aufmerksamkeit zu schenken; denn es wird nicht vieler Zeit noch der Aufwendung vieler Worte bedürfen, um die Verständigen von einer wahren Tatsache zu überzeugen.
Der Himmel schuf mich, wie ihr es saget, schön, und von solcher Schönheit, daß sie, ohne daß ihr anders vermöchtet, euch zwinge, mich zu lieben; und um der Liebe willen, die ihr mir bezeigt, sagt ihr, ja fordert ihr, soll ich verpflichtet sein, euch zu lieben. Wohl kann ich mit dem natürlichen Verstande, den Gott mir gegeben, einsehen, daß alles Schöne liebenswert ist; aber das kann ich nicht begreifen, wieso aus dem einzigen Grunde, daß es geliebt wird, dasjenige, was man um seiner Schönheit willen liebt, auch verpflichtet sein soll, den Liebenden wiederzulieben. Zumal es sich ja ereignen könnte, daß der Liebhaber des Schönen häßlich wäre, und da das Häßliche Haß verdient, ziemt es einem Manne gar übel, dem Weibe zu sagen: Ich liebe dich, weil du schön bist; du mußt mich lieben, obschon ich häßlich bin. Aber gesetzt den Fall, es sei die Schönheit beiderseits gleich, so müssen darum noch nicht die Neigungen beiderseits gleiche Wege verfolgen; denn nicht jede Schönheit erweckt Liebe, manche erfreut den Anblick und unterwirft sich nicht die Herzen. Wenn aber jede Schönheit Liebe erweckte und die Herzen unterwürfe, so würden die Neigungen in Wirrsal und ohne sichern Weg hin und her schwanken, so daß sie gar nicht wüßten, auf welches Ziel sie ausgehen sollten; denn da die schönen Menschen zahllos sind, müßten auch die Wünsche zahllos sein, und doch, wie ich sagen hörte, kann sich wahre Liebe nicht teilen und muß freiwillig sein und nicht erzwungen. Da dem nun so ist – und ich bin überzeugt, es ist so –, warum wollt ihr, daß ich mein Herz mit Gewalt bezwinge, da ich doch durch nichts weiter verpflichtet bin, als daß ihr versichert, mich zu lieben? Wo nicht, so sagt mir doch: wenn der Himmel, wie er mich schön erschuf, mich häßlich geschaffen hätte, wäre es gerecht, wenn ich mich über euch beschwerte, weil ihr mich nicht liebtet? Außerdem müßt ihr erwägen, daß ich die Schönheit, die ich besitze, mir nicht selbst erkoren; wie sie eben ist, so hat der Himmel sie mir als Gnadengabe verliehen, ohne daß ich sie mir erbeten oder auserwählt habe. Und wie die Viper wegen des Giftes, das sie in sich trägt, obwohl sie damit tötet, keine Anschuldigung verdient, weil die Natur es ihr gegeben, so verdiene auch ich deshalb, weil ich schön bin, keinen Vorwurf; denn die Schönheit ist bei einem sittsamen Weibe wie das entfernte Feuer oder wie die scharfe Schwertklinge: jenes brennt und diese schneidet keinen, der ihnen nicht nahe kommt. Die Ehre, die Tugenden sind der Seele Zierden, ohne welche der Leib, mag er auch schön sein, nicht als schön betrachtet werden kann. Da nun Sittsamkeit eine der Tugenden ist, die den Leib am meisten zieren und verschönern, weshalb soll diejenige, die um ihrer Schönheit willen geliebt wird, die Tugenden aufgeben, um den Wünschen dessen zu entsprechen, der bloß seiner Neigung wegen mit allen Kräften und Künsten danach trachtet, sie ihr zu rauben? Frei bin ich geboren, und um in Freiheit leben zu können, hab ich die Einsamkeit der Fluren erkoren; die Bäume dieser Berghöhen sind meine Gesellschaft, die klaren Fluten dieser Bäche sind meine Spiegel; den Bäumen und Bächen geh ich teil an meinen Gedanken und meiner Schönheit. Ich bin ein entferntes Feuer, eine beiseite gelegte Schwertklinge. Die ich durch meinen Anblick mit Liebe erfüllte, hab ich durch meine Worte enttäuscht; und wenn Wünsche sich von Hoffnungen nähren, so habe ich weder Grisóstomo noch sonst jemandem irgendeine Hoffnung gewährt, und so kann man wohl sagen, daß ihn eher sein eigensinniges Beharren als meine Grausamkeit getötet hat. Legt man mir aber zur Last, daß seine Absichten redlich waren und daß ich deshalb verpflichtet gewesen, ihnen Gehör zu geben, so sage ich: als an diesem nämlichen Orte, wo jetzt sein Grab gegraben wird, er mir das redliche Ziel seiner Wünsche offenbarte, erklärte ich ihm, daß die meinigen dahin gingen, in beständiger Einsamkeit zu leben und nur den Schoß der Erde dereinst die Frucht meiner Zurückgezogenheit, und was von meiner Schönheit alsdann noch übrig, genießen zu lassen. Und wenn er nun trotz dieser Aufklärung, der versagten Hoffnung zu Trotz, beharrlich bleiben und gegen den Wind segeln wollte, was Wunder, daß er mitten auf dem Meere seiner sinnlosen Torheit unterging? Hätt ich ihn hingehalten, so wäre ich falsch gewesen; hätt ich ihn zufriedengestellt, so hätte ich gegen meine bessere Überzeugung und Absicht gehandelt.