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„Hast du das gesehen?! Hast du das gesehen?! Das passiert mir so oft! Fast jedes Mal, wenn ich traurig bin und versuche, mich durch das Hoffnungsspiel abzulenken, oder wenn ich einfach nur Freude habe, damit zu spielen, verwandelt es sich. Manchmal in Enttäuschung, was mich verbittert und wütend macht, und manchmal in eine Art grauen Nebel, der sich ausbreitet und überall niederschlägt. Alles erscheint dann grau und trostlos. Ich bin dann so verzweifelt, komme mir so haltlos vor und bekomme Angst. Doch am schlimmsten ist es, wenn sich das Hoffnungsspiel verwandelt und ich es wegwerfe, aber es einfach zurück in meinen Rucksack schlüpft. Egal wie weit ich es auch wegwerfe, werde ich die Hoffnung nicht los.“
Der fragende Blick von Verliebtheit veranlasste Liebe zu der Äußerung:
„Vielleicht wirst du die Hoffnung deshalb nicht los, weil du sie nur mit den Händen wegwirfst, aber im Herzen behältst.“

Ewige Geburtswehen
Durch die unzähligen Erfahrungen, die Verliebtheit mit ihrer Hoffnung gemacht hatte, waren ihr Lust und Frust des Hoffnungsspiels sehr vertraut. Der Gedanke, dass sie die Hoffnung mit der Hand wegwirft, aber im Herzen behält, war jedoch neu für sie. Die leise Ahnung, dass nicht die Hoffnung, sondern womöglich sie selbst der Schöpfer ihres Leidens sein könnte, verunsicherte sie zutiefst und ihre Ohnmacht tat ihr in der Seele weh. Diese Gefühle vermittelte sie auch Liebe mit der Frage:
„Ist das nicht schrecklich, dass ich nicht über meine Spielzeuge bestimmen kann?“
In diesem Augenblick senkte Verliebtheit ihren Kopf, damit Liebe die Tränen, die ihr über die blassen Wangen rollten, nicht sehen konnte, und fragte verzweifelt:
„Kannst du mir helfen oder hast du vielleicht einen Rat für mich? Bitte, bitte sag ja. Sag, dass du weißt, wie ich meine Spielzeuge in den Griff bekomme.“
Liebe umarmte Verliebtheit zärtlich mit ihren Blicken, zögerte aber mit der Antwort. Sie kannte ja die Gefühle von Verliebtheit, weil sie selbst lange eine Verliebtheit gewesen war. Sie kannte die schönen Erinnerungen, die sie selbst wie kostbare Juwelen für Zeiten der Not aufbewahrt hatte. Die bitteren Kerne der Enttäuschungen, die immer übrig geblieben waren, wenn das Fleisch der süßen Früchte der Leidenschaft aufgezehrt war. Und diese Hoffnung, die Hoffnung, die mit gestrecktem Arm und offener Hand um Erfüllung ihrer Wünsche gebettelt hatte.
Liebe kannte diese Gefühle nur allzu gut. Sie kannte sie alle. Alle Spielzeuge, die bunten und schönen, die beleben und Freude bereiten, auch die unvermeidbar ekligen und hässlichen, die verbittern und lähmen. Liebe kannte sie alle, samt ihrem Zauber, ihrer Macht und ihren Tücken, die mit ihrer Magie wie Spielzeuge erscheinen und mit ihrer Zauberkunst so zarte Wesen wie Verliebtheit in ihren Bann ziehen. Liebe erinnerte sich an jene Zeit, als sie selbst noch verliebt gewesen war und leidend und verzweifelt nach Erfüllung, Hilfe und Rat suchte. Und an die lange Zeit und den beschwerlichen Weg ihres Werdens. Ihrer Metamorphose, ihrer Verwandlung von Verliebtheit zu Liebe.
Ihre erste Geburtswehe war die bittere Erkenntnis: Es gibt keinen Ratgeber und keinen Rat, die wirklich nützen. Es gibt nur die brennenden Fragen, aber keinen, der sie beantwortet und das Feuer löscht. Es war die Erfahrung, dass sie selbst die Frage war und nur sie selbst die Antwort sein konnte – eine Antwort, die sie aber nicht kannte. Die bedrohliche Gewissheit, auf sich selbst angewiesen zu sein, jedoch auf ein ohnmächtiges Selbst, um sich an dem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen zu müssen, mit gelähmten Händen. Alles Dinge der Unmöglichkeit, wie der Seiltanz eines Gelähmten.
Liebe wusste, dass diese ewigen Geburtswehen des Werdens unermesslich schmerzhafter sein würden als die Schmerzen, die Verliebtheit jetzt und heute bei den ersten Schritten ihres Weges erlitt. Auch war es Liebe über alle Maße klar: Wenn die Geburtswehen nicht zu einer Geburt führen und die Entbindung von der Bindung zum Rucksack nicht vollzogen würde, würden die Schmerzen bis zum Ende ihrer Tage anhalten. Liebe wusste aber auch, dass dieser Schmerz der Prüftiegel ist, in dem das Überflüssige verbrennt, das Oberflächliche verdampft und das Edle bleibt. Und das Edle ist unvergänglich. Deshalb wünschte sie Verliebtheit von ganzem Herzen diese unvermeidbaren Wehen, damit aus Verliebtheit vielleicht auch einmal Liebe würde.
Während Liebe an all das dachte und sich erinnerte, beobachtete sie Verliebtheit, die scheinbar teilnahmslos mit dem Gras neben sich herumspielte. Liebe wusste nur allzu gut, dass Verliebtheit jetzt keine Worte der Weisheit brauchte, sondern Trost, Zuversicht und Kraft, damit sie ihren schweren Weg, den sie schon begonnen hatte, auch weitergehen würde.
In diesem Augenblick wurde die Gedankenkette von Liebe durch die ungeduldige Frage von Verliebtheit unterbrochen:
„Ich habe dich was gefragt. Warum gibst du mir denn keine Antwort? Du bist doch nicht etwa mit deinem Latein am Ende? Ich wollte ja nur einen Rat von dir. Ich wollte ja nur wissen, wie ich mit meinen Spielzeugen und den Gefühlen, die sie mit sich bringen, umgehen soll.“
„Oh, entschuldige bitte, dass ich mit der Antwort gezögert habe. Deine Frage war auch sehr lange meine Frage. Meine Spielzeuge waren auch für mich die Quelle meiner Freude und meines Leidens. Auch ich war einst wütend, traurig und verzweifelt über die Macht, die sie über mich hatten. Deshalb verstehe ich dich und kann mir sehr gut vorstellen, wie es in dir aussieht.
Ich wünschte, es gäbe einen Rat, der dir helfen könnte, und ich wünschte, es gäbe einen Zauberknopf, ich würde auf ihn drücken und du würdest all deine Sorgen und Ängste mit einem Schlag loswerden. Aber solch einen Knopf gibt es nicht. Hoffnung ist kein Kerzenlicht, man bläst und es geht aus. Erinnerung ist kein Bilderbuch, man klappt es zu und die Bilder verschwinden, und Enttäuschung ist kein Dorn im Fleisch, man zieht ihn heraus und der Schmerz lässt nach. Schau, wenn deine Spielzeuge nur Spielzeuge sein sollen und mit dir nicht machen sollen, was sie wollen, wenn du sie wirklich loswerden willst, dann musst du erst einmal verstehen, warum du sie überhaupt brauchst. Denn würdest du sie nicht brauchen, dann würdest du auch nicht einen derart schweren Rucksack mit dir herumtragen.“
„Aber ich mag meinen Rucksack nun mal und trage ihn gern mit mir. Ich verstehe nicht, was du eigentlich gegen meinen Rucksack hast!“
„Nichts. Ich habe nichts gegen deinen Rucksack. Es geht nur um seinen Inhalt. Den trägst du wie eine Kette um den Hals und wie eine Fessel um deinen Fuß, und du trägst ihn schon so lange, dass du glaubst, er sei ein Teil von dir. Es ist nicht dein Rucksack, es sind deine Spielzeuge, die dich traurig machen und zur Verzweiflung bringen.“
„Schon gut. Es reicht. Ich habe dich verstanden. Aber du hast mir immer noch keinen Rat gegeben und ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll!“
„Ich kann dir keinen Rat geben, was du tun sollst, doch du selbst hast ja schon vieles getan und wirst auch noch vieles tun. Schau, du hast dein vertrautes Zuhause verlassen und dich auf die Suche begeben, du bist neugierig und du stellst Fragen. Das ist schon sehr viel und ein wunderbarer Anfang.“
„Und wie lange dauert dieser Anfang noch?“
„Ist das wirklich so wichtig, wie lange es dauert, wenn es um eine lohnenswerte Sache geht? Wenn du zum Beispiel ein Gemälde siehst, das dir gut gefällt, fragst du ja auch nicht, wie lange der Künstler dafür gebraucht hat. Du fragst höchstens, wer das gemalt hat. Zeit ist der geringste Preis, den man für ein klares Ziel zahlt. Worauf es wirklich ankommt, ist, was du wirklich willst. Wenn du ein Ziel im Herzen trägst und entschlossen bist, es auch zu erreichen, dann hast du auch die Ausdauer für den Weg, die Kraft für die Mühe und die Geduld für den Schmerz.“
Verliebtheit guckte kritisch und dachte:
‚Wieder so eine Antwort, die sich verdammt gut anhört, aber nichts nützt‘, und murmelte vor sich hin:
„Erst einmal ein klares Ziel haben“, und drückte ihren Missmut durch die Frage aus:
„Und jetzt?“
„Jetzt würde ich vorschlagen, dass wir deinen Rucksack samt all deinen Spielzeugen erst einmal in Ruhe lassen und eine Weile nicht mehr über sie reden. Lass uns etwas spazieren gehen und schauen, was so alles unterwegs passiert und was uns alles …“
„Ja, das machen wir. Vorher möchte ich jedoch noch etwas klären. Wenn ich später jemandem von unserer Begegnung erzählen möchte, wie soll ich dich dann beschreiben? Soll ich sagen, ich habe einen alten Mann getroffen, oder soll ich sagen, ich bin der Liebe begegnet?“
Nach einem tiefen Atemzug antwortete Liebe:
„Du wirst mich sowieso nur so beschreiben, wie du mich erlebt hast. Wenn du nur einen alten Mann mit all seinen Gebrechen kennengelernt hast, dann wirst du auch nur etwas über ihn zu sagen haben. Hast du dich aber von mir als Liebe berühren lassen, hast du etwas von Liebe in dir aufgenommen, dann wird auch Liebe aus dir sprechen. Unabhängig davon, wie du mich wahrnimmst und mich später beschreiben wirst, bin ich beides: einmal ein zu Fleisch gewordener Mensch, eben ein alter Mann, der alle Facetten des menschlichen Daseins erlebt hat, der auch mal jung und verliebt war; gleichzeitig aber bin ich auch Liebe. Liebe, die ich schon seit eh und je war und bin und sein werde. Wie auch immer, ich weiß nicht, was du über mich erzählen wirst, doch aus einem Krug kommt das heraus, was in dem Krug ist.“
Daraufhin verschloss Verliebtheit ihren Rucksack, stand auf, warf Liebe einen fragenden Blick zu und begab sich auf den Weg.
Liebe vergewisserte sich schnell, dass Verliebtheit nichts liegen lassen hatte, und folgte ihr dann.

Sklaventreiber
Die Sonne stand gerade über dem Horizont, der Himmel war blau und die Luft warm und leicht. Die Landschaft war eingebettet in ein Grün mit hunderten Nuancen und geschmückt mit tausenden wilden Wiesenblumen.
Diese verschwenderische Schönheit auf beiden Seiten des Weges ging an Verliebtheit vorbei; sie war viel zu tief in Gedanken versunken. Sie hatte weder die Enttäuschung überwunden, keinen Rat von Liebe bekommen zu haben, noch war sie wirklich damit einverstanden, eine Weile nicht über ihre Spielzeuge zu reden. Hinzu kam, dass sie das Gefühl hatte, ihr Rucksack sei an diesem Morgen, eigentlich seit der Begegnung mit Liebe, schwerer geworden. Schwerer als je zuvor. Deshalb wuchs ihr Wunsch, mit Liebe über ihre Spielzeuge zu reden, mit jedem Schritt. Gleichzeitig aber wollte sie auch den Vorschlag von Liebe, eine Weile nicht über ihren Rucksack zu sprechen, beherzigen. Zu diesem Dilemma kam noch ihre bohrende Ungeduld hinzu, die bewirkte, dass sie ihr eigenes Schweigen nicht mehr aushielt. Sie blieb stehen, drehte sich um, schüttelte den Kopf und sagte zu Liebe, die ein paar Schritte hinter ihr lief:
„Du läufst aber ganz schön langsam. Ja, ja, das sind wohl die alten Knochen, die nicht mitmachen“, und fügte etwas hämisch hinzu:
„Aber ich warte ja gern auf dich.“
Sie wartete, bis Liebe neben ihr stand, und fuhr fort:
„Wie du siehst, habe ich deine Vorschläge beherzigt: Ich gehe weiter mit dir und rede auch nicht über meine Spielzeuge.“
So gingen Liebe und Verliebtheit eine ganze Weile schweigend nebeneinander den Weg entlang. Als sich ein Vogel ein paar Meter von ihnen entfernt auf einen kleinen Felsen am Rande des Weges setzte, nutzte Verliebtheit diese Gelegenheit, das ihr unerträglich lang vorkommende Schweigen zu brechen. Sie zeigte auf den Vogel mit der Bemerkung:
„Schau, dieser Vogel fliegt nicht weg. Er scheint keine Angst vor uns zu haben, oder?“
„Ja, weil er weiß, dass seine Flügel schneller sind als unsere Schritte.“
„Und woher willst du wissen, dass er das weiß?“
„Weil alle Lebewesen ein angeborenes Wissen in sich tragen, das ihr Leben schützt. Deshalb nennt man dieses angeborene Wissen auch Selbsterhaltungstrieb. Natürlich ist das Wissen dieses Vogels ganz anders als das Wissen eines Menschen, was das Überleben betrifft, doch das Resultat ist dasselbe.“
„Wenn das so einfach ist, wo bleibt dann mein Überlebenstrieb, der mich vor meinen Ängsten, Sorgen und Problemen beschützt und mich befreit?“
„Gerade deine Ängste, Sorgen und Probleme sind die Folge deines Überlebenstriebes. Weißt du, Menschen können denken. Deshalb machen sie aus ihrem Überlebenstrieb, der natürlich und notwendig ist, eine Überlebensstrategie, einen Überlebensplan. Da menschliche Strategien und Pläne nicht nur Sinnvolles und Notwendiges enthalten, sondern auch Schädliches und Irreales …“
„Wenn ich dich richtig verstehe, heißt das ja nichts anderes, als dass ich bloß deshalb Ängste, Sorgen und Probleme habe, weil ich überleben will.“
„Nein, nicht weil du überleben willst, sondern die Art und Weise, wie du zu überleben versuchst, bereitet dir Angst und Sorgen. Zu deiner Beruhigung, diese irrige und angstvolle Art zu überleben ist nicht dein persönliches Schicksal, es ist das Dilemma des menschlichen Daseins schlechthin. Ein Dasein mit dem Rucksack, ein Dasein für den Rucksack. Durch diese Art zu überleben machen sich die Menschen zu ihrem eigenen Sklaventreiber. Sie schweben nicht mehr mit Leichtigkeit durch das Leben, sondern sie tragen das Leben wie eine schwere Last auf ihren Schultern. Wie ein gehorsamer Sklave. Wie man aber durch diese oder jene Art zu leben zu seinem eigenen Sklaventreiber wird, darauf werden wir bestimmt noch zurückkommen.“
„Na, ein Grund mehr, Liebe zu sein, dann entfliehe ich dem Dilemma.“
„Entfliehen willst du? Fliehen führt nicht zur Liebe. Der Weg zur Liebe kann nur gegangen werden. Wer aber flieht, der geht nicht.“
„Ich mag jetzt nicht mit dir über Worte streiten. Gehen oder fliehen ist mir auch egal. Jetzt will ich bloß Liebe sein und Punkt. Und ich glaube, das ist auch das Mindeste, das jedem zusteht. Du bist ja auch nicht als Liebe geboren, du hast ja all deine Weisheiten, Fähigkeiten und deine Gelassenheit, die dich zur Liebe gemacht haben, nach und nach erworben.“
„Es gehört aber viel mehr dazu, Liebe zu werden. So sehr ich dir auch wünsche, dass du Liebe wirst: So einfach, wie du es dir wünschst und vorstellst, geht es nicht. Liebe ist kein Land, das man erobern, kein Haus, das man bewohnen, und nicht einmal ein Ziel, das man anstreben kann. Wenn es dir gelingt, dich für die Liebe zu öffnen und die Liebe als ein Geschenk zu sehen …“
„Und was kostet dieses Geschenk?“
„Ein Geschenk kostet nichts, sonst wäre es kein Geschenk.“
„Einverstanden. Dann sag doch wenigstens: Was ist Liebe? Dann haben wir beide erst mal unsere Ruhe.“
Nach einem Schweigen von der Dauer dreier Atemzüge wiederholte Liebe das Anliegen von Verliebtheit:
„Was ist Liebe?“
„Lustig“, sagte Verliebtheit vergnügt, „aus dem Mund von Liebe zu hören: ‚Was ist Liebe?‘ Wirklich lustig. Du musst dich doch kennen. Also rück raus mit der Sprache, was ist Liebe?“

Das Geheimnis hinter einem Stuhl
Liebe wusste aus ihren eigenen Erfahrungen, dass das Denken von Verliebtheit noch nicht die Reife, ihr Herz nicht den Platz und ihr Ohr kein Gehör für Liebe hatte. Es war ihr auch klar, dass sie all das Verliebtheit nicht sagen würde, weil es sie unnötig verletzte. ‚Das Beste ist‘, so dachte Liebe, ‚wenn Verliebtheit selbst erfährt, dass die Frage, was Liebe ist, sich grundsätzlich von anderen Fragen wie ‚Wo warst du gestern Abend?‘, ‚Wie hoch ist der höchste Berg in Europa?‘ oder ‚Wie heißen deine Kinder?‘ unterscheidet.‘ Nun ging es darum, Verliebtheit zu vermitteln, dass die Antwort auf diese Frage nicht mit Worten, sondern nur durch eigenes Erleben zu erfahren wäre. Daher schlug sie Verliebtheit vor:
„Gut. Ich werde dir sagen, was Liebe ist, aber erst, wenn du mir sagst, was Schönheit ist und was Grün bedeutet – oder zumindest, was ein Stuhl ist.“
Überrascht über diesen merkwürdigen Vorschlag, sah Verliebtheit Liebe mit großen Augen an und fragte leicht verunsichert:
„Willst du mich etwa auf den Arm nehmen oder meinst du das wirklich ernst? Nein, du kannst es nicht ernst meinen, oder?“
„Doch, ich meine es wirklich ernst. Erkläre mir Schönheit, erkläre mir das Grün und sag mir, was ein Stuhl ist, und ich sage dir dann, was Liebe ist.“
„Was Schönheit und Grün ist, da muss ich einen Augenblick nachdenken. Was soll aber diese dumme Frage mit dem Stuhl? Jeder Mensch weiß doch, was ein Stuhl ist!“
„Dann dürfte es dir ja auch nicht schwerfallen, diese Frage zu beantworten.“
„Ich weiß zwar nicht, was dieser Blödsinn soll, aber ich beantworte diese Frage, damit du endlich damit rausrückst, was Liebe ist. Ein Stuhl ist etwas, worauf man sitzen kann.“
„Man kann auch auf dem Boden sitzen.“
Genervt erwiderte Verliebtheit:
„Schon gut. Ein Stuhl ist etwas, das vier Beine hat und auf dem man sitzen kann.“
„Diese Beschreibung trifft aber auch auf ein Bett zu, denn ein Bett hat auch vier Beine und man kann auch darauf sitzen.“
Verärgert trat Verliebtheit gegen einen Stein am Wegesrand und erwiderte energisch:
„Ein Stuhl ist ein Gegenstand, der vier Beine hat und nicht so groß ist, dass man sich drauflegen kann. Bist du jetzt zufrieden?“
„Nicht ganz. Das trifft auch auf einen Tisch mit vier Beinen zu, der aber zu klein ist, als dass man sich darauflegen könnte.“
So langsam begann Verliebtheit zu ahnen, warum Liebe von ihr verlangte, einen Stuhl zu beschreiben, doch sie wollte Liebe den Triumph auf keinen Fall gönnen, dass sie keine eindeutige Beschreibung für einen Stuhl finden konnte. Der Ehrgeiz packte sie. Sie überlegte. Sie überlegte lange. Sie stellte sich viele Stühle vor und war überrascht, wie unterschiedlich sie alle aussahen. Einige waren aus Holz, Bambus oder aus Metall, manche waren mit Stoff, manche mit Leder bezogen, einige hatten Armlehnen und andere wiederum nicht. Diese Vielfalt machte es ihr praktisch unmöglich, eine Beschreibung dafür zu finden, was ein Stuhl wirklich war, eine Beschreibung, die all diese Besonderheiten und Eigenschaften berücksichtigte, die ein Stuhl haben konnte, wenn auch nicht haben musste, um ein Stuhl zu sein. ‚Was charakterisiert also einen Stuhl, was macht einen Stuhl aus?‘, fragte sich Verliebtheit jetzt ernsthaft. Sie konnte nicht einmal ahnen, dass die so einfache Frage ‚Was ist ein Stuhl?‘ die schwierige Frage ‚Was ist das Wesen einer Sache?‘ beinhaltete. Das Wesen einer Sache, das unabhängig von seinen vielfältigen Erscheinungsformen das bleibt, was es ist. Nach längerem Überlegen und Schweigen, wobei sie sich fortwährend am Kopf kratzte und gegen Steine und Bäume trat, beschwerte sich Verliebtheit sichtbar erzürnt:
„Wie soll das gehen? Es gibt doch tausende und abertausende Stühle und jeder sieht anders aus. Wie soll man da beschreiben, was ein Stuhl ist? Sollte deine Frage ein Ablenkungsmanöver sein, weil du mir die Frage, was Liebe ist, nicht beantworten willst oder kannst?“
„Oh nein, ich wollte, dass du selber spürst und selbst entdeckst, dass man das Wesen der Dinge nicht mit Worten erfassen kann. Menschen haben Wörter erfunden, um die Dinge und Phänomene zu benennen, und zu mehr sind Worte nicht fähig. Du hast recht, jeder weiß, was ein Stuhl ist. Und trotzdem ist es schwer, sogar sehr schwer, das Wesen eines Stuhles zu beschreiben – wie du ja gerade selbst erlebt hast. Kannst du dir jetzt vorstellen, wie schwer es sein muss zu erklären, was Liebe ist, wenn doch jeder Liebe sagt und etwas anderes damit meint? Wie oft hörst du ‚Ich liebe meine Kinder‘, ‚Ich liebe Erdbeeren mit Sahne‘, ‚Ich liebe meine Heimat‘, ‚Ich liebe den Frühling‘, ‚Ich liebe lange schwarze Haare‘ oder ‚Wir haben uns die ganze Nacht geliebt‘ und, und, und. Während Menschen ‚Stuhl‘ sagen und im Großen und Ganzen dasselbe meinen, sagen Menschen ‚Liebe‘ und meinen etwas ganz Verschiedenes. Der Satz ‚Ich liebe lange schwarze Haare‘ heißt ja so viel wie ‚Ich finde lange schwarze Haare schön und anziehend‘, und der Satz ‚Ich liebe Erdbeeren mit Sahne‘ soll vermitteln: ‚Ich esse gern Erdbeeren mit Sahne und diese Kombination schmeckt mir sehr gut‘. Du siehst, einmal steht Liebe für gutes Schmecken und einmal für schönes Aussehen und beides sind grundverschiedene Dinge. Noch drastischer wird der Unterschied, wofür ‚Liebe‘ alles herhalten muss, wenn wir Äußerungen wie ‚Ich liebe erotische Nächte‘ oder ‚Ich liebe Gott‘ miteinander vergleichen.“
„Entschuldige bitte die Unterbrechung. Ein Stuhl mit Leder und Schnitzarbeiten ist auch etwas ganz anderes als ein einfacher Gartenstuhl, so wie Liebe einmal in Verbindung mit Erdbeeren und einmal in Verbindung mit schwarzen Haaren steht. Das sind die gleichen Verschiedenheiten.“
„Ja und Nein. Die beiden Stühle sind äußerlich verschieden, aber ihre Funktion und ihr Wesen sind identisch. Man kann den teuren Lederstuhl in den Garten stellen und den Plastikstuhl ins Gästezimmer. Aber die Liebe zu Erdbeeren mit Sahne drückt etwas anderes aus als die Liebe zu langen schwarzen Haaren – und diese beiden Gefühle sind nicht austauschbar; sie haben eine unterschiedliche Funktion und ein anderes Wesen. In der Tat liegen zwei Verschiedenheiten vor: die äußere Verschiedenheit der Stühle, die aber im Kern identisch sind, und die unterschiedliche Verwendung des Wortes ‚Liebe‘, die gänzlich Verschiedenes zum Ausdruck bringt. Ich glaube, ich habe mich vorhin ungenau ausgedrückt und darum ist ein Missverständnis entstanden. Ich sagte zwar: ‚Liebe steht einmal für gutes Schmecken und einmal für schönes Aussehen.‘ Das ist aber nicht so gemeint. Es ist nicht die Liebe selbst, die für das eine oder das andere steht, sondern es sind die Menschen, die das Wort ‚Liebe‘ dafür verwenden.“
Das klang einfach, logisch und nachvollziehbar. Und genau das wollte Verliebtheit nicht akzeptieren, weil irgendetwas sie daran störte. Sie empfand diesen Austausch von Gedanken über die Gleichheit von Stühlen und die Verschiedenheit von Liebe als eine Schlacht, die sie nicht verlieren wollte. Sie war entschlossen, es mit diesem Kampf aufzunehmen, wollte dabei aber gleichzeitig ruhig und gelassen wirken, doch ihre aufeinandergepressten Lippen und das gerade noch wahrnehmbare Kopfschütteln verrieten ihre innere Unruhe. Nun setzte sie sich auf einen Baumstamm und forderte Liebe mit einer Handbewegung auf, sich auch hinzusetzen, was Liebe dann auch tat.
Eine lange Weile verging, ohne dass ein Blick gewechselt wurde oder ein Wort fiel. Verliebtheit stellte sich viele, viele Situationen und Menschen vor, Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Künstler und Arbeiter, berühmte und einfache Leute, Reiche und Arme … und sie stellte fest, dass sie alle, aber auch wirklich alle in dieser oder jener Situation ‚Ich liebe dieses oder jenes‘ sagen und in der Tat jedes Mal etwas anderes meinen. Also musste sie Liebe recht geben. Etwas in ihr wehrte sich jedoch noch immer dagegen und sie spürte ein großes Unbehagen. Dieses Mal aber kam ihr Unbehagen von der Sache selbst und nicht nur daher, dass sie recht behalten wollte. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse hatten sie etwas anderes gelehrt. Aber was? Sie wollte das in Worte kleiden, was sie ohne Worte spürte, doch es gelang ihr nicht.
Dann schlug plötzlich der Blitz der Erkenntnis in ihren Geist ein, sie schrie aus ganzem Herzen auf und ihr Gesicht strahlte vor Freude:
„Das ist es doch, das ist es!“
Liebe war überrascht über die heftige Reaktion von Verliebtheit, doch beglückt über ihre Freude.