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Eine halbe Stunde später, oder war es eine Stunde, fühlt er, wie der Wagen langsamer wird und schließlich in einer engen Kurve abbiegt. Nun wird der Weg erst holprig, aber dann wieder glatt mit sanften Wellen. Wieder dehnen sich die Minuten zu kleinen Ewigkeiten. Der Wagen fährt sehr langsam und dann hält er an. Endlich ist wenigstens diese quälende, ungewisse Fahrerei beendet. Er schreit wieder, trommelt gegen die Fahrerkabine, doch nichts passiert. Erst nach einer halben Ewigkeit hört er, wie eine Tür geöffnet wird, der Wagen schaukelt leicht, jemand hat die Fahrerkabine verlassen. Diese verdammte Frau? Oder ihr Zuhälter? Es dauert wieder ein paar Minuten, dann wird die Tür zu seinem Gefängnis geöffnet. Helles Sonnenlicht dringt ein und blendet ihn. Er muss die Augen zukneifen. Zugleich will er seiner Wut freien Lauf lassen, will eine Erklärung haben, will raus aus der Hitze, der Enge, der Schande. Aber zwei Dinge hindern ihn. Zum einen der Mann, der vor der Tür steht: breit, massig, schwarze Lederjacke. Sein Gesicht ist gegen das Licht nicht zu erkennen und als sich seine Augen an die Helligkeit adaptiert haben, sieht er, dass es von einem Tuch weitgehend verdeckt wird und dass der Mann trotz der Hitze eine schwarze Pudelmütze auf hat. Zum andern das Ding, das der Mann in der Hand hält und das auf ihn gerichtet ist, der dunkle, matt glänzende Lauf einer Pistole. Der Protest bleibt ihm im Hals stecken, die Wut wird von Angst abgelöst, von nackter Angst. Bevor er sich wieder fassen kann, etwas sagen kann, Fragen stellen kann, gar erneut losbrüllen kann, spricht der Mann zu ihm, mit leiser Stimme, die keinen Widerspruch duldet.
„Du hältst jetzt erst mal dein Maul und machst genau, was ich dir sag. Dann bassiert dir nix. Sonst seh ich mich gezwungen, dir Schaden zuzufügen.“
Neben die Angst mischt sich nun Erstaunen. Der Mann spricht in gewählten, ja gestelzten Worten. Der Ton der Stimme ist ihm seltsamerweise nicht einmal unsympathisch. Komisch, dieser Gedanke in solch einer Situation. Zwei weitere Dinge fallen ihm auf. Der Mann hat keine schwarze Hautfarbe, wie sein Lockvogel, sondern eine helle, bleiche, wie er an dem bisschen Haut erkennt, das am Hals zu sehen ist und um die Augen herum und natürlich an den Händen. Und der Ort fällt ihm auf, als er an dem Mann vorbei schaut und sieht, dass sich der Wagen in einem Wald befindet, auf einer Lichtung oder einem breiten Waldweg.
„Ich seh, dass du dich anzogen hast. Du ziehst dich jetzt wieder aus. Verstanden? Du legst alles ab, was du an hast, alles was an dir dran ist und wenn ich sag alles, mein ich auch alles.“
Die Worte prallen an ihm ab. Er starrt weiter sein Gegenüber an, reglos, sprachlos, angsterfüllt, wie gelähmt. Er rührt sich nicht. Er kann sich nicht rühren. Der Mann vor der Tür wartet eine Minute.
„So, jetzt ist der Schock vorbei. Fang an. Dalli, dalli. Wir haben kei Zeit.“
Dabei fuchtelt er zur Bestätigung seiner Worte mit der Pistole hin und her und stößt den Lauf auffordernd in seine Richtung. Die Lähmung ist vorbei. Er versucht es nun mit Worten, doch noch ehe er etwas sagen kann, noch ehe überhaupt ein Wort über sein Lippen kommt, herrscht ihn der Türsteher an.
„Halt's Maul und tu, was ich sag. Oder hast mich noch immer net verstanden. Zieh dich aus und halt's Maul. Also los, mach schon.“
Der Angesprochene stößt einen Fluch aus und fängt an, sich auszuziehen. Er verstreut die Kleider auf dem Fußboden, nur die Unterhose behält er an.
„Alles hab ich gsagt, hörst schlecht oder glaubst net, was ich dir sag? Alles, aber flott.“
Nun liegt auch die Unterhose auf dem Boden.
„Du hältst mich wohl für blöd oder hast immer noch net kabiert, was ich gsagt hab. Die Kette, die Ringe, die Uhr, bittschön.“
Der Pistolero redet mit einem Akzent, der auf Franken oder Sachsen hindeutet. Einer aus dem Osten, denkt der Nackte, während er schweren Herzens auch die restlichen Dinge ablegt. Einer aus dem Osten mit einem schwarzen Flittchen, einem Fliegenfänger, einem Bauernfänger, einem Lockvogel. Ein Straßenräuber, ein Wegelagerer, ein Buschjäger, einer, der auf dumme Arschlöcher wie ihn aus ist. Ein Arsch, der andere Ärsche verarscht.
„Schön, dass wir uns einig sind. Steh auf, dreh dich um, Hände auf den Rücken.“
Der Nackte zögert wieder. Jetzt wäre der Moment zu reagieren, vorzuschnellen, dem fiesen Typ eine in die Fresse zu hauen, ihn auf den Boden zu schmeißen, die Pistole an sich zu nehmen, ihn abzuknallen, zumindest einzuschüchtern, auf Distanz zu halten, sich dann an das Steuer zu setzen und abzuhauen. Doch er bleibt reglos, dafür fällt ihm plötzlich ein, das er die schwarze Nutte noch gar nicht gesehen hat. Wo ist das schwarze Flittchen? Hat sie auch eine Pistole, die heimlich auf ihn gerichtet ist? Aber es ist nicht dieser Gedanke, der ihn abhält, irgend etwas zu unternehmen, einen Vorstoß zu machen, um seine Lage zu ändern. Er macht nichts, weil er Angst hat, höllische Angst, vor diesem Mann und mehr noch vor seiner Pistole. Diese flößt ihm Respekt ein, obwohl er sich nicht sicher ist, ob sie überhaupt echt ist, aber auf diesen Nachweis will er es lieber nicht ankommen lassen. Neben der Scheißangst, traut er sich eine solche Überrumpelung auch gar nicht zu. Er wäre zu langsam, zu zögerlich, die Wut allein würde ihn nicht in die Lage eines Helden versetzen und so macht er das, was der Dicke ihm befohlen hat. Er steht auf, dreht sich um, streckt die Hände auf den Rücken, fühlt, wie ein Kabelbinder um die Handgelenke gelegt und festgezurrt wird. Das Ganze dauert nur ein paar Sekunden.
„Bleib stehn, wie du stehst. Rücken zur Tür. Bleib ganz ruhig, dann bassiert dir nichts. Bis jetzt warst ja vernünftig, bleib so.“
Erneut fragt er sich, wo die schwarze Frau abgeblieben ist. Die muss doch irgendwo sein, denn der Dicke sagt etwas mit halblauter Stimme, die nicht an ihn gerichtet ist.
„Take this and put it around his eyes. Hurry up.“
Der Nackte spürt, wie der Wagen wieder leicht schwankt, dann riecht er das Parfum und den Schweiß. Er dreht den Kopf zu Seite, doch das Einzige, was er sieht, ist die Pistole, die ihm klar bedeutet, sich wieder abzuwenden. Dann spürt er die rauen Hände an seinem Kopf und sieht, dass seine Krawatte als Augenbinde verwendet wird, das rote Ding mit der Mickymaus. Sie sitzt schief, ist lose und er kann über den Rand blinzeln.
„Not so. Silly cow. Make it better.“
Die Frau fummelt erneut, knotet noch einmal. Jetzt sitzt der Schlips stramm. Er kann nichts mehr sehen.
„And now the Daschentuch in his mouth. Look in his pocket.”
Erst will er den Mund nicht öffnen, doch dann spürt er einen Druck in seinem Rücken, den Druck der Pistolenmündung. Das Taschentuch ist schweißnass, ekelig und füllt seinen Mund voll aus. Er kann nur noch schwer atmen, er röchelt und hustet und will den Stoff mit der Zunge wieder aus dem Mund drücken. Es geht nicht, denn die Frau hat noch irgend etwas, ein Band, eine Schnur, so um seinen Kopf gebunden, dass das Taschentuch nicht ausgespuckt werden kann.
„Help him, to leave the car.“
Die Hände, die noch vor kurzer Zeit seinen Körper betastet, seine Oberschenkel gestreichelt und sein Geschlecht gedrückt hatten, fassen ihn geradezu sanft an den Schultern und ziehen ihn rückwärts in Richtung Tür. Mit ihrer gurrenden, rauchigen Stimme sagt sie leise.
„I’m sorry, darling. Take care, the step.“
Er stolpert. Sie hält ihn fest und zieht ihn sanft. Seine Füße tasten sich die kleine Steigleiter hinab. Dann ist er draußen. Er spürt das Gras an den Fußsohlen und die spitzen Zweige und die kleinen Steinchen.
„Na siehst, s'ging doch. Wir lassen dich jetzt allein. Du wirst schon zurechtkommen. Du findst schon jemand oder jemand find dich. Erfriern kannst net bei der Hitzen und a Sonnenstich wirst schon net kriegen. Tschüss und danke für’s Mitmachen. Und noch was, denk dir was Schönes aus, wie du in die Scheiße graten bist. Sag ja net die Wahrheit. Wenn ich merk, dass du mich suchst und mir Schwierigkeiten machen willst, bist du dran, aber wie, dann bin ich net mehr so sanft zu dir. Merk dir das.”
Und wieder in eine andere Richtung: “Come on baby, let’s go.“
Dann, noch einmal, zum letzten Mal, die rauchige Stimme: „Tschüss Schatzi. Next time we will have more fun. You and me.”
Die Frau hat diese Worte fast geflüstert, sie muss ganz nahe neben ihm gewesen sein, denn er riecht sehr intensiv und zum letzten Mal die Mischung aus süßem Parfüm und strengem Schweiß. Dann lacht sie, ihr kehliges Lachen und einen kurzen Moment spürt er die raue Hand auf seinem Rücken, die ihm zum Abschied einen freundschaftlichen Klaps und eine kleine Streicheleinheit verpasst. Er hört noch, wie die Tür zum Kasten zugeschoben wird und wie die beiden Wagentüren nacheinander ins Schloss fallen. Der Motor wird angelassen. Abgase treffen seine Nase. Ein kurzes Hupen zum Abschied, dann rollt der Wagen leicht knirschend auf dem Sand des Waldwegs davon.
Der nackte Mann bleibt eine Weile stehen, so wie die Frau ihn hingestellt hatte. Er zerrt an seiner Fessel, aber die gibt nicht nach. Dann setzt er sich fluchend in Bewegung, langsam, vorsichtig, die Füße tasten sich auf dem Sandweg vorwärts. Es ist ekelig und schmerzhaft. Er denkt, dass er jeden Moment in irgend eine Scheiße treten wird und diese vielen kleinen, spitzen Dinge, die sich in seine Fußsohlen bohren, nerven ihn. Wenn er an den Rand des Weges kommt und den Sand nicht mehr spürt, dafür mehr Gras, mehr Zweige, eine Böschung, einen Graben, verändert er die Richtung. Er hat keine Ahnung, in welche Richtung er gehen soll. Er hat keinerlei Orientierung, nicht einmal die helle Sonnenscheibe kann er im schattigen Wald erahnen. Während er langsam, vorsichtig dahin schleicht, die zunehmenden Schmerzen an den Füssen und die vielen Stiche blutrünstiger Mücken tapfer ignorierend, denkt er angestrengt nach. Er hat viel Zeit nachzudenken, denn er kommt nur langsam vorwärts. Seine Wut, seine Angst, seine Scham verebben und neben den Überlegungen, wie er aus diesem Schlamassel herauskommen soll, erreichen ihn die ersten Gedanken an Rache. Aber das hat Zeit, jetzt muss er Entscheidungen treffen, die unmittelbar wichtig sind: wie aus diesem Wald heraus kommen, wie zu einer Straße gelangt, auf Autos fahren, wie sich der Fessel, der Augenbinde, des Knebels entledigen. Die Rache kann warten. Obwohl ihn dieser Gedanke mehr und mehr beherrscht und ob er will oder nicht, er fängt an Rachepläne zu schmieden. Soll er zur Polizei? Aber auch das hat Zeit. Auf einmal, ganz plötzlich beherrscht wieder seine Frau sein Denken, als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Er will sich lieber gar nicht vorstellen, wie er ihr diese Scheiße möglichst plausibel erklären soll. Aber auch das hat Zeit. Ausreden kann er sich später ausdenken. Dann versucht er, all diese unangenehmen Gedanken zu verdrängen. Nicht verdrängen kann und will er die Rachegedanken. Sie halten ihn aufrecht, sie treiben ihn voran. Wie kann er sich an dem Scheißkerl und seinem Paradiesvogel rächen? Wie, nur wie? Er weiß doch gar nicht, wer die beiden sind und wo er sie finden kann. Erst muss er den Bär haben, bevor er das Fell aufteilen kann. Das Sprichwort fällt ihm ein. Dann, als er wieder einmal auf einen spitzen Ast getreten ist und vor Schmerz aufschreit, wie man mit einem Knebel im Mund aufschreien kann, überkommt ihn ein Schwall von Selbstmitleid. Warum musste ihm das passieren? Ausgerechnet ihm? Die Schmach, die Schande und alles weg, Geld, Uhr, Ausweise, Kreditkarten, Schmuck. Der Ehering fällt ihm ein, der auch. Warum auch der? Das erfordert noch mehr Erklärungsbedarf. Seine Gedanken sind wieder bei seiner Frau gelandet und bei seinem Auto, das am Bahnhof steht, vor einer längst abgelaufenen Parkuhr. Auch das wird noch Ärger machen. Dann kreisen die Gedanken um den Anfang dieser grandiosen Scheiße, als er auf dem Weg zum Bahnhof dieser verdammten Nutte begegnet ist. Auf was hat er sich da nur eingelassen. Er geht wieder ein paar Schritte, dann stolpert er, fällt hin, rappelt sich auf. Der Kabelbinder scheuert an den Handgelenken, die Hände fühlen sich pelzig, kribbelig an. Er fürchtet auf einmal, dass sich das Blut staut, dass sie in Fäulnis übergehen und amputiert werden müssen. Die Krawatte ist etwas verrutscht, er sieht nun einen leichten Schimmer. Und dann ist da noch ein anderer Hoffnungsschimmer. Das Taschentuch konnte er dank intensiver Zungenarbeit aus dem Mund schieben, das Band war nicht besonders fest geknotet. Er schreit aus voller Brust.
„Was für eine grandiose Scheiße, was für eine grandiose Verspätung.“
Auf Spurensuche
Der Gang durch den Wald war höchst unangenehm gewesen. Zum Glück hatte er es geschafft, auf dem Waldweg zu bleiben, dank des vorsichtigen Vortastens mit den nackten Füßen. Es war schrecklich gewesen, denn der Waldweg war voller spitzer Steine. Unglaublich, dachte er, was soll all dieser Schotter im Wald. Wenn er vom Weg abkam, hatten die Dornen der Büsche am Wegrand seine Haut aufgekratzt, ihm aber auch den richtigen Weg gewiesen. Von Zeit zu Zeit schlug ihm ein Ast in das Gesicht und dazu kam die Hitze, die ihm selbst in dem schattigen Wald zusetzte und das, obwohl er splitternackt war. Neben den Verletzungen und der Hitze plagte ihn zunehmend großer Durst. Nach schier endlos langer Zeit, nach vielen Metern auf dem Schotter, nach vielen Irrungen und Wirrungen, verbunden mit unzähligen Flüchen, war ihm wenigstens eine gute Idee gekommen. Als ihn wieder einmal ein kräftiger Ast an der Wange streifte, drängte er sich in die Nähe des zugehörigen Baums. Er suchte, tastete, forschte mit den Schultern und dem Gesicht und auch mit der Zunge und fand endlich einen geeigneten Aststumpf, der fest genug und in der richtigen Höhe, geeignet war, die verdammte Krawatte einzuhängen und abzustreifen. Das gelang ihm schließlich nach einigen vergeblichen Versuchen und er fragte sich, warum er nicht schon früher auf diese Idee gekommen war. Er sah wieder. Sah, wo er war, sah seine Füße voller Wunden und Abschürfungen, sah auch, dass die Sonne sich schon dem Horizont näherte und schloss, dass es vermutlich schon deutlich nach acht Uhr sein musste. Aber die Nacht müsste er nicht im Wald verbringen, denn nun war das Vorankommen einfacher. Er ging zügig auf dem Waldweg, die peinigenden Schmerzen an den Fußsohlen ignorierend, bis dieser in eine Landstraße mündete.
An deren Rand stellte er sich hin und dort hatte er sogar Glück, das erste Mal an diesem verdammten Tag, denn schon das erste Auto, das vorbei kam, hielt tatsächlich an. Die Fahrerin, eine unerschrockene, ältere Lehrerin, ließ den nackten Irren mit den auf dem Rücken gefesselten Händen in ihr Auto, sie besaß kein geeignetes Werkzeug, um den Kabelbinder durchzuschneiden, wickelte ihm aber eine Decke um die Hüfte. Sie wollte ihn natürlich sofort zur nächsten Polizeiwache bringen, hätte sicher auch bei der Polizei angerufen, hatte jedoch ihr Handy nicht dabei. Aber auf sein inständiges Bitten, ob es nicht doch noch eine andere Möglichkeit gäbe, ihm zu helfen, nahm sie ihn mit, zu sich nach Hause. Dort durchschnitt sie endlich die Fessel und schenkte ihm dann eine kühle Apfelschorle ein, das beste Getränk, das der Gepeinigte in seinem ganzen Leben je bekommen hatte. Danach zeigte ihm die Unerschrockene die Dusche und trug, während er das kühle Wasser auf seiner Haut ebenfalls im höchsten Maße genoss, ein paar alte Kleidungsstücke ihres Mannes zusammen, der gerade nicht zu Hause war, und suchte auch alles auf, was sie an Pflastern und Binden besaß. Als der seltsame Mensch gesäubert, versorgt und angezogen war, bestellte sie ein Taxi und versicherte ihm mehrfach, bevor er einstieg, dass sie die Kleider nicht mehr brauche, und wünschte ihm alles Gute.
Er hatte der Lehrerin während der Fahrt erzählt, dass er überfallen worden war, als er mitten im Wald auf einem einsamen Wanderparkplatz pinkeln musste. Er sei ein paar Meter von seinem Auto weg gewesen, als plötzlich ein Mann aus dem Gebüsch aufgetaucht sei und ihn mit einem starken Knüppel niedergeschlagen habe. Ihm sei schwarz vor den Augen geworden, und als er wieder zu sich kam, habe er sich allein und völlig nackt, mit gefesselten Händen, mit einer Binde vor den Augen und einem Knebel im Mund mitten im Wald gefunden. Er habe keine Ahnung, was das für ein Typ war, er habe ihn kaum gesehen und außerdem sei er vermummt gewesen. Er habe eine Riesenwut, weil nun sein Auto, seine Kleidung, seine Papiere, seine Wertsachen, sogar sein Ehering und diverse Schlüssel weg seien, alles, was er bei sich hatte, sei weg, einschließlich seines schönen Autos und dass das eine Riesensauerei sei und er jetzt viel Zeit und Geld investieren müsse, um den Schaden zu reparieren. Auf ihre Frage, warum er den Überfall denn nicht anzeigen und die Polizei zum Tatort führe, um eventuelle Spuren zu sichern, sie schien durch häufige Kriminalromane auf diesem Gebiet gut bewandert zu sein, erklärte er, dass er das so rasch wie möglich tun werde, aber erst müsse er seine Frau beruhigen, die sicher vor Angst umkäme. Sie habe es mit dem Herzen und deswegen wolle er sie nicht anrufen, sondern ihr das Desaster schonend beibringen und dann mit ihr das weitere Vorgehen besprechen und dann würde er selbstverständlich zur Polizei gehen, aber der verdammte Täter sei ja längst über alle Berge und deswegen, würde das nicht so eilen, Spuren könne man im Wald sowieso nicht finden. Im Moment sei er viel zu aufgeregt und zu erledigt, um vernünftige Entscheidungen zu treffen und außerdem würde er sich maßlos schämen und müsse erst sein inneres Gleichgewicht finden, auf jeden Fall sei er aber ihr, seiner Retterin, seiner Samariterin, außerordentlich dankbar, dass sie ihm geholfen habe und ihn mitgenommen habe, obwohl er ja alles andere als vertrauenswürdig ausgesehen habe, eher wie einer, der aus einer Nervenklinik geflüchtet sei, ein gefährlicher Verbrecher, vielleicht ein masochistischer Exhibitionist. Die Lehrerin meinte nur lakonisch, Hilfe in so einer Situation sei doch selbstverständlich, außerdem sei er ja gefesselt gewesen und daher weniger gefährlich, selbst wenn er ein gefährlicher Verbrecher oder gar Mörder wäre. In diesem Zustand wäre sie sicher mit ihm fertig geworden, wenn er frech geworden wäre, das hätte sie schon ihr Beruf gelehrt und als Biologielehrerin könne sie auch ein nackter Mann nicht irritieren und so masochistisch könne ja wohl keiner sein, dass er freiwillig, ohne triftigen Grund gefesselt und nackt im Wald umherirren würde und das bei dieser Hitze. Ihre berufliche Erfahrung war wohl auch der Grund, warum ihn die Lehrerin höchst skeptisch ansah, als er seine Geschichte los geworden war und die Erklärungen seiner misslichen Lage abgegeben hatte. Sie hatte genügend Erfahrung mit Lügen, drang aber nicht weiter in ihn. Dafür war er ihr sehr dankbar und beschloss, sich bei Gelegenheit großzügig bei seiner Retterin zu bedanken.
Die Geschichte, die er der Lehrerin aufgetischt hatte, erzählte er auch in leichten Abwandlungen seiner Frau und auch diese glaubte ihm kein Wort. Warum war er überhaupt in einem Wald unterwegs gewesen, statt zum Bahnhof zu kommen und sie abzuholen? Überhaupt das Auto, es war doch absolut unlogisch, dass es immer noch auf dem Parkplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs stehen soll, wie er denn in diesen Wald gekommen sei. Er sei nicht mit seinem eigenen Auto gefahren, erklärte er, sondern mit einem Mietwagen. Er habe schon seit Längerem mit dem Gedanken gespielt, ein neues Auto zu kaufen, ein anderes Modell und das habe er ausprobieren wollen, um sich ein Bild zu machen, bevor er viel Geld ausgibt. Er habe an diesem Nachmittag überraschend etwas Zeit gehabt und kurzerhand ein Auto für ein paar Stunden gemietet, um eine kleine Spritztour zu machen, zum Ausprobieren, wie gesagt und dann diese Kacke. Das einzig Gute sei, dass nun die Autovermietung sich mit dem Verlust herumärgern müsse, er habe ja Kasko gehabt und die schließe Diebstahl zum Glück mit ein. Seine Frau schaute ihn weiter voller Zweifel an. Von einem neuen Auto sei doch noch nie die Rede gewesen, das alte sei doch noch gar nicht so alt. Eben, meinte er, es sollte ja eine Überraschung sein, deswegen habe er die Testfahrt gemacht, als sie weg war.
„Schatzi, eine richtig schöne Überraschung sollte das werden, glaub mir.“
Sie blickte ihn mit noch mehr Zweifeln an, soviel Überraschung war sie schon seit Jahren nicht mehr gewohnt und das es den Ausdruck „Schatzi“, ein Wort, das sie früher oft gehört hatte, überhaupt noch gab, irritierte sie zusätzlich. Sie blieb skeptisch und kam gleich zur nächsten Ungereimtheit. Warum er sich um alles in der Welt weigere, zur Polizei zu gehen, das verstehe sie absolut nicht. Das sei doch ein blödsinniges Verhalten. Eine Anzeige bei der Polizei sei doch das einzig Logische und Sinnvolle, schon wegen der Versicherungen, denen er ja etwas vorlegen müsse. Was die Versicherung betreffe, sagte er resigniert, könne man gar nichts erwarten, die würden erstens sowieso nie zahlen und zweitens bei einem solchen Überfall schon gar nicht, von denen bekäme er keinen Pfennig, das sei völlig klar, die bräuchte er erst gar nicht anzusprechen, außerdem, sei das Auto ja gar nicht sein Problem, das sei das Problem des Händlers, den er im Übrigen bereits informiert habe. Diese Sache sei schon weitgehend ausgestanden. Wozu gäbe es denn Versicherungen. Und was die Polizei beträfe, die sei doch schlicht unfähig, die würden sich doch keine Mühe geben, um solche Banalitäten aufzuklären, die würden schlichtweg in der Bürokratie versanden. Es käme erfahrungsgemäß bei solchen Sachen nichts heraus. Auf ihre berechtigte Frage, wie viel Erfahrung er denn mit „solchen Sachen“ schon habe, zog er es vor, keine Antwort zu geben, statt dessen wiederholte er, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, sei genauso überflüssig, wie mit der Versicherung zu verhandeln. Er müsse die Sache in die eigenen Hände nehmen, nur dann hätte er eine Chance dieses Miststück zu finden, das ihn überfallen habe. Er sagte seiner Frau jedoch nicht, was er unter Miststück verstand und ließ sie in dem Glauben, es handele sich um den Unbekannten mit dem Knüppel.
Der materielle Verlust, den er durch das Ereignis im Wald, wie er es nannte, erlitten hatte, war beträchtlich, aber überschaubar. Alles, was er bei sich gehabt hatte, Bargeld, Kreditkarten, Wertsachen, war natürlich weg. Die beiden Kreditkarten waren bis zum Limit belastet worden, obwohl er sie noch in der Nacht hatte sperren lassen. Die Wiederbeschaffung der wichtigsten Papiere, wie Ersatzführerschein und Personalausweis, würde dauern und natürlich kosten, aber besonders teuer würde der Austausch der Schlösser im Haus und im Büro werden. Er erklärte seiner Frau, dass dies unbedingt notwendig sei, da dieser Typ sowohl die Schlüssel als auch seine Adresse habe und sich jederzeit bedienen könne. Zum Glück hatte das Auto immer noch auf dem Parkplatz gestanden, als er es am nächsten Morgen aufsuchte und seltsamerweise klebte nicht einmal ein Strafzettel an der Windschutzscheibe, als wollte ihm das Schicksal eine weitere Streicheleinheit verpassen, zusätzlich zu der Samariterin. Nachdem er die notwendigsten Schritte bereits am folgenden Tag eingeleitet hatte, nur zu einem Arzt wollte er nicht gehen, genauso wenig wie zur Polizei, obwohl ihn seine Frau zu beidem drängte, hätte sein normaler Alltag fortgesetzt werden können. Aber es war nichts mehr normal, nichts war mehr so wie vor dem Ereignis im Wald. Seine Psyche war beschädigt, er war gedemütigt und verletzt worden, die Schmach musste getilgt werden und sein ganzes Denken war nur noch auf Rache ausgerichtet. Er brütete, sinnierte, plante, verwarf, verschob, plante erneut und konnte sich dennoch zu nichts Konkretem durchringen. Das Fatale war, dass er sich in diesem Zustand auf seine eigentliche Arbeit nicht mehr konzentrieren konnte. Das Geschäft litt, so lange ihn der Wunsch nach Aufklärung, Ermittlung der Täter, Wiedergutmachung, Rache beherrschte und alles andere übertönte und blockierte. Da er aber nicht wusste, wie er anfangen sollte, gegen wen er vorgehen konnte, wer ihn in diese peinliche, entwürdigende Lage gebracht hatte, musste er zunächst die Spurensuche ernsthaft aufnehmen, bevor er seine Rache systematisch planen konnte.