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Wir haben dieses Buch in Form einer Reihe relativ kurzer Beiträge gestaltet. Einige enthalten Gedanken über Mitgefühl, einige stellen Methoden für das Entwickeln von Mitgefühl und den damit verbundenen Stärken vor und andere beschäftigen sich eingehender mit unseren Gefühlen und unseren Möglichkeiten, sie zu verstehen und mit ihnen zu arbeiten. Wenn Sie Ihr Herz für Mitgefühl öffnen, beginnt sich Ihr Leben zu verändern. Der Drang, andere niederzumachen, weicht dem Wunsch, für andere zum Segen zu werden; Gefühle der Isolation und Getrenntheit weichen dem Gefühl der Verbundenheit. Indem wir lernen, unsere Gefühle zu akzeptieren – auch die negativen wie Eifersucht und Wut –, hören wir auf, uns dafür zu beschuldigen, und können besser mit ihnen umgehen. Während wir unsere Empathie, unsere Zuneigung und unser Mitgefühl für andere vertiefen, stellen wir fest, dass unser Bedürfnis, zu urteilen und zu kritisieren, schwindet und durch den Wunsch ersetzt wird, sie zu verstehen und ihnen zu helfen. Mitgefühl ist eine Tür zum Glücklichsein, zu emotionaler Stabilität und guten Beziehungen.
Unser Ansatz
Dieses Buch hat zwei Autor(inn)en: Der eine ist klinischer Psychologe und die andere eine buddhistische Nonne. Als ich (Russell) darüber nachdachte, ein Buch mit kurzen theoretischen Beiträgen sowie praktischen Methoden zum Entwickeln von Mitgefühl herauszubringen, wollte ich sowohl aus dem Wissen der westlichen Psychologie als auch der buddhistischen Tradition schöpfen, denn beide versuchen, das menschliche Leiden zu verstehen und zu lindern. Ich stellte mir vor, wie großartig es sein müsste, einen buddhistischen Lehrer oder eine Lehrerin als Koautor/ in zu haben. Glücklicherweise kannte ich genau die richtige Person. Da ich die Gemeinschaft Sravasti Abbey besucht und in meinem Bemühen, Mitgefühl zu entwickeln, enorm von ihren Schriften, Lehren und den dort gelebten Werten profitiert hatte, war ich begeistert, als die Ehrwürdige Thubten Chodron sich einverstanden erklärte, mich auf dieser Reise zu begleiten. Mein Anliegen ist es, zu zeigen, dass Buddhismus und Psychologie gemeinsam auf dasselbe Ziel hinarbeiten können: uns zu helfen, mit offenem Herzen zu leben, Güte und Mitgefühl für uns selbst und andere zu entwickeln, auch und gerade in einem von Hektik und Stress geprägten Alltag. Mitgefühl ist etwas, das wir in jeden Moment unseres Lebens hineinbringen können, und sowohl die uralten Traditionen des Buddhismus als auch die heutigen Ansätze der Psychologie können, wie Sie noch sehen werden, viel zu diesem Bemühen beitragen.
Und obwohl es einige Berührungspunkte zwischen diesen beiden Wegen gibt, bietet jeder Bereich seine eigenen, einzigartigen Perspektiven. Wir fanden es aufregend, diese Traditionen miteinander zu verbinden.
Für uns beide ist Mitgefühl ein hohes Gut, wir versuchen, es in unserem Alltag zu leben, und bemühen uns, mit anderen zu teilen, was wir darüber wissen und damit erlebt haben. Wir beide haben großen Respekt vor Menschen – seien sie bekannt oder nicht –, die leuchtende Beispiele für gelebtes Mitgefühl sind. Beide haben wir sehr von den buddhistischen Lehren über Mitgefühl profitiert und haben Ansätze der westlichen Psychologie zum Entwickeln von Mitgefühl in unserem eigenen Leben und als Lehrer genutzt.
Wir denken, dass es in unserer Herangehensweise auch interessante Unterschiede gibt. Chodron, eine Nonne in der Tradition des tibetischen Buddhismus, nähert sich dem Thema Mitgefühl hauptsächlich aus einer spirituellen Perspektive: Sie studiert und praktiziert seit Jahrzehnten die Lehren des Buddha und großer buddhistischer Meister. Diese Lehren beschreiben Schritt für Schritt Methoden, um über Wut hinauszugehen, Vergebung zu kultivieren sowie bedingungslose Liebe und Mitgefühl für alle Wesen zu entwickeln.
Als klinischer Psychologe und durch meine Arbeit als Therapeut, Forscher und Universitätsprofessor, der sich auf Bereiche wie emotionale Störungen, Achtsamkeit, Wut und Compassion Focused Therapy spezialisiert hat, betrachte ich (Russell) die Dinge mehr aus der wissenschaftlichen Perspektive der westlichen Psychologie. Das zeigt sich auch darin, wie ich mich dem Thema Mitgefühl nähere: Ich betone die Rolle, die das entwickelte Gehirn bei der Entstehung unserer emotionalen Reaktionen spielt, und beziehe auch die Praxis der Achtsamkeit ein, so wie sie gegenwärtig in der westlichen Psychologie gelehrt wird.
Wir hatten auf der Basis unseres unterschiedlichen Erfahrungshintergrundes und unserer unterschiedlichen Ausbildungswege viele interessante Gespräche über Mitgefühl. Aber vor allem treibt uns ein gemeinsames Engagement an: uns für Mitgefühl, Güte, Toleranz und die Linderung des Leidens einsetzen zu wollen. Wir hatten viel Freude an der gemeinsamen Arbeit, beim Untersuchen der Frage, was Mitgefühl ist, und beim Schreiben darüber, und wir hoffen, dass auch Sie Freude an dieser gemeinsamen Arbeit haben.
Geist und Gehirn
An verschiedenen Stellen des Buches werden wir über den menschlichen Geist, das Gehirn und die Interaktion zwischen beiden sprechen, es ist also von Vorteil, zunächst einmal zu definieren, was wir mit dem einen und dem anderen meinen. Mit „Geist“ meinen wir die mentale und emotionale Aktivität – jenen Teil von uns, der denkt, wahrnimmt, fühlt und erlebt. Das schließt die bewussten, kognitiven, intelligenten und gefühlsbedingten inneren Anteile von uns als menschlichen Wesen ein. Anders als das Gehirn besteht der Geist nicht aus Materie.
Buddhisten sehen den Geist als reine Klarheit und reines Gewahrsein. Klarheit bezieht sich dabei auf die immaterielle Natur des Geistes sowie auf den Geist als Spiegel, der alles reflektiert, was vor ihm auftaucht. Gewahrsein weist auf die Fähigkeit des Geistes hin, wahrzunehmen, zu erleben und uns mit Dingen zu beschäftigen.
Die Natur des Geistes ist grundsätzlich rein, klar und unberührt, obwohl er manchmal von störenden inneren Zuständen vernebelt ist, wie Anhaftung, Wut und Verwirrung. Eine Analogie kann hier hilfreich sein: Der Geist gleicht dem klaren Himmel, während seine Inhalte – Gedanken, Emotionen und so weiter – wie Wolken sind, die über den Himmel ziehen. Die himmelsgleiche Natur des Geistes an sich ist rein, die Wolken (Gedanken und Emotionen) sind kein inhärenter Bestandteil davon. Störende oder verstörende Gefühle trüben den Geist, sodass wir die Dinge nicht sehen können, wie sie wirklich sind. Glücklicherweise kann das aufgelöst werden, indem wir Weisheit entwickeln, die uns befähigt, die reine, himmelsgleiche Natur unseres Geistes zu erkennen.
Das Gehirn ist dagegen ein physisches Organ, das sich im Laufe der Evolution weiterentwickelte, aus Neuronen genannten Zellen besteht und mithilfe komplexer elektro-chemischer Prozesse funktioniert. Die Interaktion zwischen Geist und Gehirn ist kompliziert und das ist beispielsweise ein Bereich, in welchem wir leicht abweichende Standpunkte vertreten. Chodron betrachtet die Beziehung zwischen Gehirn und Geist als korrelativ: Sie ist der Ansicht, dass das Gehirn mentale Aktivitäten und Emotionen oft spiegelt oder reflektiert, sie aber kaum verursacht. Russell stellt mehr die Rolle des Gehirns als „Produzent“ unseres Erlebens der Realität in den Vordergrund und betrachtet seine physische Aktivität als Teil der Kausalkette, die unsere mentalen und emotionalen Erfahrungen hervorbringt, auch wenn es selbst wiederum von diesen Erfahrungen geformt wird. Wenn es um das Kultivieren von Mitgefühl geht, tritt dieser Unterschied in den Hintergrund. Während die Standpunkte in unseren Beiträgen möglicherweise ein wenig voneinander abweichen, verfolgen wir mit diesem Buch dennoch dasselbe Ziel: aufzuzeigen, wie man lernen kann, Geist und Gehirn zu unserem Besten zu nutzen, um Mitgefühl zu entwickeln – für ein besseres Leben und eine bessere Welt.
Format und Übersicht
Wir haben dieses Buch geschrieben, um Ihnen praktische Werkzeuge an die Hand zu geben, mit deren Hilfe Sie Ihren Geist so transformieren können, dass Sie in der Lage sind, Ihren innersten Werten wie Güte, Mitgefühl und Großzügigkeit im Alltag Ausdruck zu verleihen, wie unspektakulär Ihre Aufgaben und Interaktionen auch erscheinen mögen. Und vielleicht stellen Sie, wenn Sie von Mitgefühl erfüllt sind, sogar fest, dass keine Aufgabe oder Interaktion banal ist.
Wir haben eine Reihe von kurzen Beiträgen zusammengestellt, die Ihnen als Inspirationsquellen dienen sollen und die Praktiken und Techniken vermitteln, die Sie im täglichen Leben umsetzen können. Diese Beiträge werden Ihnen helfen, zu erkennen, wie Sie Mitgefühl in Ihren Alltag hineinbringen und mit Hindernissen umgehen können, die Ihre Fähigkeit, mitfühlend zu sein, auf die Probe stellen. Jedem Beitrag folgt eine kurze Betrachtung, die das Reflektieren über und die Umsetzung der im betreffenden Beitrag angesprochenen Punkte unterstützt.
Die Beiträge sind in sechs Hauptabschnitte gegliedert:
• Teil I dreht sich um die Definition von Mitgefühl, klärt, was Mitgefühl ist und was nicht, und untersucht, warum es sich lohnt, es in unser Leben hineinzubringen.
• Teil II hilft uns, uns auf das Kultivieren von Mitgefühl vorzubereiten, indem wir andere sensibler wahrnehmen und verstehen lernen, wie unsere Emotionen funktionieren.
• In Teil III geht es konkret um die Frage, wie man Mitgefühl entwickeln und kultivieren kann. Hier wird eine Reihe von Praktiken und Strategien vorgestellt, die uns helfen können, Mitgefühl in unser Alltagsleben zu bringen.
• Teil IV untersucht das Verhältnis zwischen Mitgefühl und unserer Art und Weise, uns mit anderen zu verbinden und mit ihnen zu kommunizieren.
• Teil V widmet sich den Hindernissen und Herausforderungen, mit denen wir beim Entwickeln und Kultivieren von Mitgefühl möglicherweise konfrontiert werden.
• Teil VI konzentriert sich auf spezifische Möglichkeiten, Mitgefühl in unser Leben zu bringen und in die Gesellschaft zu tragen.
Die Beiträge wurden zwar in einer bestimmten Reihenfolge geschrieben, aber die meisten können auch für sich allein gelesen werden. Vielleicht möchten Sie zunächst einfach ein bisschen im Buch blättern, ein zufällig aufgeschlagenes Kapitel lesen und im Laufe des Tages über diese Worte nachdenken. Da das Kultivieren von Mitgefühl ein Entwicklungsprozess und eine kontinuierliche Praxis ist, möchten Sie dieses Buch vielleicht immer wieder zur Hand nehmen und jedes Mal etwas mehr Wissen daraus beziehen.
Symbole
Da bei unserer eingehenden Betrachtung und Erforschung des Mitgefühls zwei verschiedene Traditionen zum Tragen kommen, dachten wir, es wäre vielleicht nützlich, zu wissen, wessen Stimme in den verschiedenen Beiträgen gerade im Vordergrund steht. Um daran zu erinnern, haben wir jedem Beitrag ein Symbol vorangestellt, um auf den Autor des jeweiligen Beitrags hinzuweisen. Russell wird durch das Symbol



Russell: 1, 2, 6, 8–10, 12, 13, 15, 16, 19, 20, 31–34, 36, 40, 48, 53–55, 60, 61, 64, 66, 69
Chodron: 3–5, 7, 11, 14, 17, 18, 21–30, 35, 37–39, 41, 46, 47, 49, 50–52, 56–59, 62, 63, 65, 67, 68
Gemeinsam: 42–45
1 Unsere Motivation ausrichten

In diesem Buch geht es darum, zu lernen, Mitgefühl in unseren Alltag zu bringen, wie hektisch oder fordernd dieser auch sein mag. Wenn man sich auf eine wichtige Reise begibt, lohnt es sich, einige Vorbereitungen zu treffen – und auf diese Reise kommt es ganz besonders an. Bereiten wir uns also gemeinsam darauf vor, indem wir uns mit der Frage der Motivation befassen, die ein wesentliches Element des Mitgefühls ist.
Haben Sie sich jemals gefragt, warum Sie tun, was Sie tun? Wir haben viele unterschiedliche Motive, die mit einer ganzen Reihe von Zielen verknüpft sind: Vielleicht wollen wir Beziehungen aufbauen, Geld verdienen, Status oder Besitz erwerben, einen Sinn im Leben finden oder glücklich werden. Manchmal sind uns unsere Motive auch überhaupt nicht bewusst und wir haken den ganzen Tag über eine „To-do-Liste“ ab, ohne uns im Klaren darüber zu sein, warum wir diese Dinge tun. Wir können uns allerdings für eine Motivation entscheiden und sie bewusst kultivieren, so wie wir Setzlinge in einem Garten hegen und pflegen. Insbesondere können wir beschließen, alles, was wir tun, zum Wohle aller Beteiligten zu tun. Und das hat beträchtliche Vorteile: Das Motiv hinter einer Tat – der Grund, warum wir dies tun – hat einen enormen Einfluss darauf, wie wir es tun, wie wir uns dabei fühlen sowie auf das Ergebnis der Aktion. Wenn wir innehalten, um uns bewusst auf eine mitfühlende Motivation auszurichten, bevor wir handeln, verändert sich im Laufe der Zeit unser Bewusstseinszustand, wir treffen klügere Entscheidungen und unsere Lebensqualität verbessert sich.
Wir alle haben verschiedene Verantwortlichkeiten und Pflichten im Beruf oder zu Hause. Stellen Sie sich vor, eine Ihrer Aufgaben bestünde darin, das Abendessen für Ihre Familie oder Ihre Mitbewohner zuzubereiten. Wenn Sie nach einem anstrengenden Arbeitstag müde nach Hause kommen, könnten Sie die Zubereitung des Essens leicht als eine weitere Erledigung auf Ihrer To-do-Liste abhaken. Vielleicht verspüren Sie sogar einen gewissen Widerwillen und denken: „Ich muss das tun“, selbst wenn es eine Aufgabe ist, die zu übernehmen Sie sich bereit erklärt haben und die ihnen oft Freude macht.
Stellen Sie sich vor, Sie würden mit einer anderen Haltung an die Zubereitung des Essens gehen. Was wäre, wenn Sie, zu Hause angekommen, „in einen anderen Gang schalten“ würden, indem Sie sich ein paar Minuten für sich allein gönnten oder einfach eine Minute tief durchatmeten, um die Spannung in Ihren Muskeln zu lösen? Was, wenn Sie sich dann bewusst auf die Motivation ausrichteten, eine schmackhafte Mahlzeit zuzubereiten, um diese Menschen zu nähren, die Ihnen am Herzen liegen, um ihr Leben besser zu machen? Stellen Sie sich vor, wie Sie dieses Essen mit einer Absicht zubereiten – einer Absicht, die die Werte widerspiegelt, die Ihnen wichtig sind, wie Güte, Liebe, Mitgefühl und Freundlichkeit. Stellen Sie sich weiter vor, wie sich die anderen freuen und durch die von Ihnen mit Liebe zubereitete Mahlzeit gestärkt werden. Wenn wir Mitgefühl in unsere Motivation hineinbringen, kann das die alltäglichsten Aufgaben auf eine andere Ebene heben. Wir können das Geschirr so spülen, dass andere daraus essen können, ohne krank zu werden. Als Eltern und Lehrer können wir Kinder leiten und gelegentlich disziplinieren, mit der Absicht, ihnen zu helfen, Qualitäten zu entwickeln, die ihnen zugutekommen, wenn sie heranwachsen. Wir können mit Kunden mit der Absicht kommunizieren, ihnen zu helfen, das zu finden, was sie brauchen und woran sie sich erfreuen. Buddhistische Lehrer ermutigen uns, unsere Motive zu hinterfragen, bevor wir handeln, um sicherzugehen, dass es keine selbstsüchtigen oder unfreundlichen sind und dass es unser höchstes Ziel ist, anderen zum Segen zu gereichen und dazu beizutragen, ihr Leiden zu lindern. Stellen Sie sich vor, sie würden aus der Motivation heraus handeln, alle Wesen – auch sich selbst – vom Leiden zu befreien. Bremsen Sie sich nun nicht mit dem Gedanken: „Das ist Unsinn, völlig unmöglich, das kann ich doch nicht.“ Stellen Sie sich einfach vor, wie Sie sich fühlen würden, wie Sie denken und handeln würden, wenn das Ihr Motiv wäre.
BETRACHTUNG:
Mit einer Motivation arbeiten
Denken Sie nun am Anfang unseres Diskurses über Mitgefühl einmal darüber nach, dieses Buch mit der Absicht zu lesen, positive Qualitäten zu entwickeln und zu kultivieren, damit Sie zum Wohlergehen aller beitragen können, mit denen Sie in Kontakt kommen, auch Sie selbst. Stellen Sie sich vor, dass Sie mit der aufrichtigen Motivation handeln, die Welt um Sie herum zu einem freundlicheren, glücklicheren Ort zu machen und das Leiden derjenigen zu verringern, mit denen Sie zu tun haben. Versuchen Sie, sich jeden Morgen, bevor Sie aufstehen, einen Moment Zeit zu nehmen, um Ihre Motivation auszurichten: „Heute will ich mein Bestes tun, um den Menschen, mit denen ich zu tun habe, mit Freundlichkeit und Mitgefühl zu begegnen.“ „Heute will ich versuchen, weniger zu urteilen.“ „Heute werde ich meinen Kindern ein Beispiel für Geduld und Beständigkeit sein, damit sie diese Eigenschaften verinnerlichen.“ Experimentieren Sie damit, jeden Morgen Ihre Motivation auf diese Weise auszurichten und schauen Sie, ob das Ihren Tag in irgendeiner Weise verändert.
TEIL I
Mitgefühl:
Was es ist, was es nicht ist
und warum es sich lohnt, es zu
entwickeln und zu kultivieren
2 Was ist Mitgefühl und warum brauchen wir es?

Die Definition von Mitgefühl, ob aus dem Wörterbuch oder vom Dalai Lama, beinhaltet immer zwei Elemente: Sensibilität für das Leiden und die Motivation, zu seiner Linderung beizutragen. Ersteres setzt die Offenheit voraus, sich angesichts von Schmerz und Leid berühren zu lassen – wir sind bereit, hinzuschauen, wenn wir und andere mit Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert werden, und uns davon berühren zu lassen. Diese Erfahrung, vom Leiden bewegt zu sein, ruft das zweite Element wach: Die Motivation, zu einer Verbesserung der Situation beizutragen.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt oft: „Wenn du willst, dass andere glücklich sind, praktiziere Mitgefühl. Wenn du selbst glücklich sein willst, praktiziere Mitgefühl.“ Warum stimmen der Dalai Lama und so viele andere darin überein, dass gerade diese innere Qualität es wert ist, entwickelt und kultiviert zu werden? Das Leben kann schwierig sein und wir sitzen alle im selben Boot. Sogar wenn wir in eine privilegierte Situation hineingeboren werden, Eltern haben, die uns lieben und gut versorgen, gutes Essen im Überfluss, ein schönes Zuhause und Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung haben, hat dennoch jeder von uns große Schwierigkeiten im Leben zu überwinden. Jeder von uns wird mit Krankheit, Altern und Tod konfrontiert. Jeder von uns verliert geliebte Menschen. Manchmal geben wir unser Bestes und scheitern dennoch. Die meisten von uns wissen, wie es ist, wenn einem das Herz gebrochen wird – nicht nur einmal, sondern mehrmals. Manchmal tauchen auch andere schmerzliche Gefühle auf: Angst, Traurigkeit, Wut oder innere Unruhe. Das ist der Schmerz, der zum menschlichen Dasein gehört. Das ist der „Eintrittspreis“. Hinzu kommt, dass viele von uns in Situationen hineingeboren werden, die die normalen Schwierigkeiten noch übersteigen: ein missbrauchendes oder vernachlässigendes Elternhaus, extreme Armut oder ein kulturelles Umfeld, in dem systematisch bestimmte Menschen bevorzugt und andere benachteiligt werden. Das Leben ist eine Herausforderung und die Chancen sind alles andere als gleich.
Angesichts all dieses Leidens und dieser Not ist Mitgefühl die einzig sinnvolle Antwort. Natürlich könnten wir eine ganze Reihe anderer Dinge tun. Wir könnten uns aufregen, nach Sündenböcken Ausschau halten und wütend auf sie werden. Wir könnten einfach die Augen vor all den Dingen verschließen, die uns missfallen, könnten schmerzliche Gefühle unterdrücken oder mit Drogen oder Alkohol betäuben. Wir könnten den Blick abwenden, wenn wir mit dem Leiden anderer konfrontiert werden oder ihnen sogar die Schuld daran geben. Das Dumme daran ist nur, dass die Herausforderungen des Lebens – seien es unsere eigenen Gefühle, die wir nicht haben wollen, oder Konflikte mit anderen Menschen oder die Probleme in der Welt – nicht verschwinden, wenn wir sie ignorieren. Im Gegenteil, sie werden im Allgemeinen größer.
Obwohl es gewiss nicht einfach ist, dem Schmerz und all den Schwierigkeiten ins Gesicht zu sehen, hat dies dennoch einen großen Vorteil. Wenn wir erst einmal aufgehört haben, unsere Probleme zu leugnen, vor ihnen zu flüchten oder sie zu ignorieren, können wir daran arbeiten, die Dinge zu verbessern. Mit Mitgefühl auf die Welt zu schauen befreit uns von dem Drang, uns selbst und andere dafür zu verurteilen und zu beschämen, dass wir ganz menschliche Gefühle haben. Stattdessen können wir lernen, innerlich ausgeglichener zu werden, damit wir das Beste aus uns hervorholen können. Unsere Zuversicht und unser Selbstvertrauen wachsen, wenn wir die Erfahrung machen, dass wir schwierige Gefühle und Situationen konfrontieren und aushalten können und daran arbeiten können, die Dinge zu verbessern. Dieses Selbstvertrauen hilft uns, das Leben zu nehmen, wie es ist, ohne von Ängsten und Sorgen aufgefressen zu werden. Es lässt uns von einer ängstlichen Grundhaltung, mit der wir ständig potenzielle Fehler oder Probleme wittern, auf eine offenere, gelassenere Haltung umschalten, mit der wir auf Herausforderungen antworten und dennoch die guten Dinge des Lebens genießen können und dankbar dafür sind.
Ich (Russell) habe eine Therapiegruppe in einem Gefängnis aufgebaut, in der wir mit der Compassion Focused Therapy arbeiten. Dieses Programm soll den dort einsitzenden Männern helfen, zu lernen, auf mitfühlende Weise mit ihrer Wut umzugehen. Viele von ihnen gehen mit großen Vorbehalten in die Gruppe, weil sie meinen, Mitgefühl bedeute, schwach und verwundbar zu sein, „ständig nett zu sein“. Aber im Laufe ihrer Teilnahme verändert sich ihre Einstellung zum Mitgefühl dramatisch, wenn sie entdecken, dass Mitgefühl Mut erfordert, den Mut, den Problemen des Lebens und den starken Gefühlen, die manchmal hochkommen, ins Gesicht zu sehen. Es braucht Mut und Engagement, dabei zu bleiben, das Unbehagen auszuhalten, das wir unweigerlich verspüren, wenn wir uns mit diesen Schwierigkeiten auseinandersetzen und lernen, damit zu arbeiten. Mitgefühl ist alles andere als Schwäche.
Und Mitgefühl hat noch weitere Vorteile. Indem uns klar wird, dass wir alle im selben Boot sitzen, hören wir auf, mit dem Finger auf andere zu zeigen oder den Kopf in den Sand zu stecken, und fangen an, einander zu unterstützen. Unser aller Leben ist voller Herausforderungen und wir alle haben manchmal mit intensiven Gefühlen zu kämpfen. Wir können diesen Herausforderungen besser begegnen, wenn wir einander ermutigen. Wenn wir Verantwortung übernehmen, falls wir diejenigen sind, die die Probleme verursachen. Wenn wir uns sicher, angenommen und geschätzt fühlen, sind wir in der Lage, mit den Problemen in unserem Leben umzugehen und verantwortlich auf sie zu reagieren. Das ist ein Geschenk, das wir uns selbst und anderen machen können, ein Geschenk, das dem Gebenden genauso viel gibt, wie dem Empfangenden.
BETRACHTUNG
Drei Schüler und drei Lehrer
Stellen Sie sich vor, drei Schüler versuchten, eine schwierige neue Aufgabe zu bewältigen, wie beispielsweise ein Instrument zu spielen oder ein Mathe-Problem zu lösen. Alle drei haben mit der Aufgabe zu kämpfen. Ein Kind hat einen Lehrer, der es ignoriert und seine Schwierigkeiten gar nicht wahrnimmt. Ein anderes hat einen ungeduldigen Lehrer, der es ständig darauf hinweist, welche Fehler es macht, und es kritisiert. Das dritte Kind hat einen mitfühlenden Lehrer, der es sanft führt und ihm vermittelt, dass diese Aufgabe anfangs schwierig ist, der es aber ermutigt „dranzubleiben“ und der die Fortschritte des Kindes in den Vordergrund stellt. Welches Kind wird die besten Ergebnisse erzielen? Welchen Lehrer würden Sie bevorzugen?1