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3 Mitgefühl, wechselseitige Abhängigkeit und universale Verantwortung

Wir alle müssen lernen, miteinander als Brüder und Schwestern zu leben, oder wir werden zusammen als Narren untergehen. Das ist die große Herausforderung der Stunde. Das gilt für Individuen. Das gilt für Nationen. Kein Mensch kann für sich allein existieren. Keine Nation kann für sich allein existieren.
Martin Luther King
Wie Martin Luther King betonte, kann niemand von uns für sich allein existieren, wir alle sind voneinander abhängig. Was müssen wir lernen, um miteinander wie Brüder und Schwestern zu leben? Die Antwort heißt: Mitgefühl. Mitgefühl zu haben heißt, sich um das Leiden der anderen zu kümmern und ihnen zu wünschen, frei vom Leiden und seinen Ursachen zu sein. Mitgefühl ist eng mit der Liebe verbunden, die den Wunsch beinhaltet, dass alle lebenden Wesen Glück und seine Ursachen erfahren mögen.
Es ist sinnvoll, Mitgefühl zu haben. Wenn wir uns nicht um andere scheren, werden wir alle leiden: Entweder, weil unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, oder weil wir von unglücklichen Menschen umgeben sind – eine Situation, die unser eigenes Leben vergiftet. Aus diesen Gründen rät Seine Heiligkeit der Dalai Lama: „Wenn du egoistisch sein willst, dann sei intelligent egoistisch und hilf anderen.“
Mitgefühl braucht es in allen Bereichen unseres Lebens: auf einer persönlichen Ebene das Mitgefühl für uns selbst, für Freunde und Angehörige, für unsere Kollegen und unseren Chef und sogar für Leute, die uns manchmal lästig sind; auf einer kommunalen Ebene Mitgefühl einer Gruppe für eine andere; auf einer internationalen Ebene Mitgefühl der Bürger einer Nation für die Menschen anderer Nationen. Mitgefühl ist das Gegenteil von und das Heilmittel für unsere übliche Selbstbezogenheit, die uns drängt, das Beste und Meiste für uns selbst herauszuholen, um unser eigenes Glück sicherzustellen. Selbstbezogenheit bringt Schwierigkeiten für die Menschen in unserer Umgebung mit sich, und ihre Probleme stören nicht nur deren Ruhe, sondern auch unsere.
Vor vielen Jahren wollten viele der Bürger der Stadt, in der ich (Chodron) damals lebte, keine höheren Steuern zahlen, um Schulen und außerschulische Aktivitäten für Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Sie dachten sich, sie hätten, da ihre eigenen Kinder schon erwachsen waren, keinen Grund, für die Bildung anderer Leute Kinder zu zahlen. Gegen die Verwendung ihrer Steuern für den Bau weiterer Gefängnisse, die sie vor Kriminellen schützen sollten, hatten sie jedoch nichts einzuwenden. Was sie allerdings nicht erkannten, war, dass diese beiden Dinge zusammenhängen.
Wenn Kinder keine gute Bildung erhalten und außerschulische Aktivitäten wie beispielsweise Sport gestrichen werden, kann es leicht passieren, dass sie in die Drogenszene abrutschen. Der Drogenkonsum kostet jedoch Geld, also beginnen manche von ihnen zu stehlen. Die Läden, die sie ausrauben und die Häuser, in die sie einbrechen, gehören oftmals den Leuten, die gegen eine Erhöhung der Einkommensteuer stimmen. Wenn Kinder keinen Zugang zu den Einrichtungen und der Bildung haben, die sie brauchen, und ihre Familien, Schulen und die Gesellschaft im Allgemeinen nicht gut für sie sorgen, hat das negative Folgen für uns alle. Wir sind alle miteinander verbunden.
Wir mögen uns durchsetzen, wenn wir uns nur um uns selbst und die uns nahestehenden Menschen scheren, aber es wird fast immer auf uns zurückfallen, wenn wir andere demütigen und ihr Leid ignorieren. Alle Konflikte und Kriege der Weltgeschichte bezeugen diese Tatsache. Wenn wir also selbst glücklich sein wollen, müssen wir auch das Glück anderer im Blick haben. Anstatt manche Menschen als „Feinde“ zu betrachten, deren Bedürfnisse keine Rolle spielen, können wir zu ihrem Wohlergehen beitragen. Weil wir sie als Menschen achten, ihnen helfen, ihre Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinische Versorgung zu erfüllen, und ihren Wunsch respektieren, akzeptiert zu werden, Liebe und Fürsorge zu empfangen und zu geben und zum Gemeinwohl beizutragen, gibt es keinen Grund für sie, uns feindlich gegenüberzutreten, denn wir haben alles getan, damit sie glücklich sein können und ihr Leiden enden kann. Ein Feind wird zum Freund. In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, manche sogar aus unserer Zeit. Großbritannien und die USA betrachteten beispielsweise Deutschland und Japan in den 1940er Jahren als Feinde und heute sind diese Länder Verbündete, die gut zusammenarbeiten.
Die Menschen sind heutzutage abhängiger voneinander als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Anders als vor Jahrhunderten bauen heute nur noch sehr wenige Menschen ihre eigene Nahrung an, stellen ihre Kleidung selbst her oder bauen ihre Häuser selbst. Viele von uns wissen gar nicht, wie man das macht, und so sind wir abhängig von Leuten, die das können. Wir sind auch abhängig von den Menschen, die unsere Straßen bauen oder bestimmte Technologien entwickeln, sowie von denen, die uns alles beibringen, was wir wissen, um nur ein paar zu nennen. Wenn uns erst einmal bewusst wird, dass wir untrennbar miteinander verbunden sind, erkennen wir, dass gegenseitige Fürsorge heute unverzichtbarer ist als je zuvor.
Bei einem Treffen mit Großstadtkindern, die in Stadtvierteln mit hoher Kriminalität leben und daher gefährdet sind, selbst zu Gewalttätern zu werden, sagte der Dalai Lama: „Gewalt ist altmodisch. Krieg ist altmodisch. Wir verfügen über ein so hoch entwickeltes Gehirn wie keine andere Spezies, also müssen wir unsere Intelligenz benutzen, um einander zu helfen. Dann werden wir alle profitieren und in Frieden miteinander leben.“ Mitgefühl ist der Weg dorthin.
BETRACHTUNG
Mitgefühl in die Welt tragen
Stellen Sie sich eine Situation in der Welt oder in Ihrem eigenen Leben vor, die durch Mitgefühl verbessert werden könnte. Stellen Sie sich vor, wie anders diese Situation sein könnte, wenn die daran beteiligten Menschen mitfühlend empfinden, denken und handeln würden und wünschten, dass andere nicht leiden müssen.
4 Echtes Mitgefühl

Mitgefühl ist eine innere Qualität, die man bewusst kultivieren kann. Anders als geistige Zustände, die einer verzerrten Wahrnehmung und falschen Vorstellungen entspringen, wie beispielsweise Wut und Habgier, entsteht Mitgefühl aus einer rationaleren inneren Haltung, die weder die positiven noch die negativen Seiten einer Person, einer Sache, Idee oder Situation aufbauscht. Außerdem beeinflusst Mitgefühl unsere anderen Gedanken und Emotionen. Wut, Eifersucht und Feindseligkeit können durch Mitgefühl aufgelöst werden, während die Liebe bewusst kultiviert und vertieft werden kann.
Mitgefühl ist nicht wie ein Brunnen, der eines Tages austrocknet. Im Gegenteil: Je mehr wir unser Herz mitfühlend öffnen, desto größer wird unser Mitgefühl. Und es ist nicht so, dass wir, wenn wir Mitgefühl für eine Gruppe empfinden, nicht mehr genügend für eine andere Gruppe übrig haben. Mitgefühl dehnt sich aus, je mehr da ist, desto mehr wird da sein. Mitgefühl ist eine innere Haltung, die sich in unserem Verhalten ausdrücken kann, doch es ist nicht das Verhalten an sich, denn ein und dasselbe Verhalten kann unterschiedlichen Motiven entspringen. Wir pflegen vielleicht einen erkrankten Angehörigen, weil wir echte Zuneigung für ihn empfinden. Aber es kann auch sein, dass wir ihn pflegen, weil wir sein Haus erben wollen. Die Handlung ist dieselbe, aber die Motivation ist unterschiedlich. Die erste entspringt echter Zuneigung, die zweite der Selbstsucht.
Mitfühlendes Handeln erfordert, dass wir kreativ sind und wissen, dass nicht in jeder Situation dasselbe Verhalten angebracht ist. In manchen Situationen kann es ein Zeichen von Mitgefühl sein, wenn wir teilen, was wir besitzen, während wir unter anderen Umständen vielleicht Mitgefühl zeigen, indem wir „Nein“ sagen. Mitgefühl muss also mit einem guten Urteilsvermögen einhergehen.
BETRACHTUNG
Mitfühlende Absicht
Versuchen Sie im Laufe des Tages Ihre Absicht, Mitgefühl in die Situationen hineinzubringen, mit denen Sie konfrontiert werden, kreativ umzusetzen. Denken Sie beim Geschirrspülen beispielsweise daran, dass sie es tun, damit andere essen können, ohne krank zu werden. Wenn Sie mit anderen kommunizieren, tun Sie es mit der Absicht, den Tag dieser Menschen ein bisschen heiterer zu machen. Wählen Sie ein paar Situationen aus, mit denen Sie im Alltag regelmäßig konfrontiert werden, und experimentieren Sie damit, eine mitfühlende Absicht hineinzubringen. Schauen Sie, wie das Ihr Erleben der jeweiligen Situation beeinflusst.
5 Falsche Vorstellungen loslassen und Frieden mit unseren Ängsten schließen

Wenn wir das Wort „Mitgefühl“ hören, kommen uns verschiedene Bilder in den Sinn: eine Mutter, die zärtlich für ihr Kind sorgt, Mutter Theresa, die sich liebevoll um Sterbende kümmert, Anteilnahme am Leid anderer. Das Wort kann aber auch andere, weniger positive Assoziationen auslösen: das Gefühl, vom Leid anderer erdrückt oder überfordert zu werden, die Furcht, ausgenutzt zu werden, oder Dinge zuzulassen, mit denen man eigentlich gar nicht einverstanden ist.
Die wahre Bedeutung von Mitgefühl zu verstehen, ist gar nicht so leicht. Hier ist Kontemplation notwendig, und wir müssen Frieden mit unseren Ängsten schließen und falsche Vorstellungen loslassen. Dadurch öffnet sich unser Herz für uns selbst und andere auf eine Weise, wie wir es nie zuvor für möglich gehalten hätten.
Eine falsche Vorstellung ist die, Mitgefühl bedeute, jemanden zu bemitleiden. Stellen Sie sich vor, Ben stellt sich mit einer überlegenen Attitüde vor einen Obdachlosen und denkt: „Wie schrecklich! Armer Teufel! Du tust mir leid“, wobei unausgesprochen mitschwingt: „Es ist eine Schande, dass du nicht so intelligent bist wie ich und dumme Sachen gemacht hast, so dass du auf der Straße gelandet bist.“ Das ist kein Mitgefühl, sondern Herablassung gemischt mit Bemitleiden.
Anderen mit Mitgefühl zu begegnen bedeutet, sie als gleichwertig zu betrachten. Wir sind alle Menschen, die nach Glück streben und nicht leiden wollen. Shantideva, ein buddhistischer Weiser, der im achten Jahrhundert lebte, veranschaulicht dies mit der Analogie unserer Hand, die einen Dorn aus unserem Fuß zieht. Die Hand denkt nicht: „Ich, die großartige und glorreiche Hand, schenke dir gnädig mein Mitgefühl, dem dummen Fuß, der nicht aufgepasst hat, wo er hintrat, obwohl ich dir gesagt hatte, dass du dich vor Dornen in Acht nehmen sollst. Und jetzt steckst du in diesen Schwierigkeiten und hast wirklich großes Glück, dass ich da bin, weil ich dich wieder einmal retten werde. Fuß, ich wünschte wirklich, du würdest dich einmal zusammenreißen und auf dich selbst aufpassen. Es ist mir sehr lästig, dir zu helfen, aber ich tue es trotzdem. Vergiss also nicht, was ich für dich tue, denn du bist mir nun etwas schuldig.“
Uff, da lädt die Hand eine Menge auf dem Fuß ab, der ja schon unter dem Dorn zu leiden hat. Weder die Hand noch der Fuß sind glücklich mit der Situation.
Wenn echtes Mitgefühl da ist, erkennen die Hand und der Fuß, dass sie Teil desselben Organismus sind. Da gibt es kein Machtgefälle, keinen herablassenden Ego-Trip, keine Schuldzuweisung oder Verpflichtung. Die Hand zieht einfach den Dorn aus dem Fuß, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Es ist ihr natürlicher Instinkt und es kommt beiden zugute. Wenn wir also anderen helfen, sollten wir auf unsere Motive achten und es mit echtem Mitgefühl tun.
Respekt für andere ist ein wesentliches Merkmal des Mitgefühls und echtes Mitgefühl fördert Respekt. Den meisten Menschen ist es wichtiger, respektvoll behandelt zu werden, als es physisch bequem zu haben. Diejenigen unter uns, die normalerweise mit Respekt behandelt werden, betrachten das vielleicht als selbstverständlich und verstehen gar nicht, wie essenziell das tatsächlich für uns ist. Menschen, denen Respekt versagt wird – Arme, Kranke, Behinderte, Inhaftierte und Unterdrückte –, kennen den Schmerz, den Respektlosigkeit verursacht, nur allzu gut.
Während eines Seminars, das ich (Chodron) über Mitgefühl hielt, bat ich meine Schüler, zu versuchen, täglich mindestens eine Tat aus echtem Mitgefühl heraus zu tun. In der folgenden Woche erzählte ein Schüler, dass er in der Innenstadt gewesen war, wo er eine Frau gesehen hatte, die auf dem Bürgersteig saß und bettelnd ihre Hände ausstreckte. Das hatte sein Mitgefühl geweckt und er wollte helfen. Er hatte nicht viel Geld bei sich, aber er zog einen Dollar aus der Tasche und überreichte ihn der Frau mit beiden Händen, während er ihr in die Augen schaute und sagte: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr geben, aber das ist alles, was ich bei mir habe.“
Die Frau blickte auf und schaute ihn mit Tränen in den Augen an. „Das ist das erste Mal, dass mich jemand mit Respekt behandelt hat, seit ich hier bin“, sagte sie, „das bedeutet mir mehr als das Geld.“
BETRACHTUNG
Mitgefühl und Respekt
Versuchen Sie, sich an eine Situation zu erinnern, in der Sie bemitleidet wurden und Sie dabei das Gefühl hatten, dass jemand auf Sie herabschaut oder Sie nicht respektiert. Falls Sie sich nicht an eine solche Situation erinnern können, stellen Sie sich vor, wie das für Sie wäre. Schauen Sie sich diese Gefühle an.
Rufen Sie sich jetzt eine Situation ins Gedächtnis, in der Ihnen jemand mit Mitgefühl begegnete – vielleicht respektvoll Hilfe anbot, als Sie sie brauchten, irgendetwas tat, um Ihren Tag schöner zu machen, oder einfach Ihre Hand hielt, als Sie traurig waren. Nehmen Sie auch hier wieder wahr, welche Gefühle das auslöst.
Nehmen Sie nun die unterschiedlichen Auswirkungen von Bemitleiden und respektvollem Mitgefühl auf Ihren inneren Zustand wahr. Unsere Haltung und unsere Einstellungen gegenüber anderen Menschen können einen enormen Einfluss auf deren Denken und Fühlen haben. Denken Sie darüber nach, welche Wirkung Sie auf andere haben wollen. Welche Gefühle möchten Sie in anderen wachrufen?
6 Mitgefühl bedeutet Mut

Wenn sie das Wort „Mitgefühl“ hören, denken manche Leute, es bedeute, auf alles einzugehen, was ein anderer Mensch will. Andere denken, Mitgefühl bedeute, zu versuchen, eine Welt zu schaffen, in der alles vollkommen ist und alle sich bei der Hand fassen und spirituelle Lieder singen. In dieser imaginären Welt hat kein Mensch je mit irgendetwas zu kämpfen, niemand weint, alle Konflikte werden sanft gelöst, es gibt keinen Schmerz und keine Schwierigkeiten und wir alle leben glücklich bis ans Ende unserer Tage.
Manche Menschen stellen sich unter Mitgefühl einen Zustand vor, in welchem man über allem steht, mit heiterer Gelassenheit alle weltlichen Probleme hinter sich lässt und unversehrt und unbeeinflusst von Schwierigkeiten durchs Leben geht. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wir mit einem feinen Lächeln durchs Leben schweben, mit anderen auf eine Weise kommunizieren, die sie wie durch Zauberhand sofort und mühelos von ihren inneren und äußeren Kämpfen befreit und sie inspiriert, ihr Leben um 180 Grad zu drehen. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wundervoll die Welt wäre, wenn nur jede(r) die Welt von unserem Standpunkt aus betrachten würde und wenn diese armen Menschen verstehen könnten, was wir verstehen.
Hier eine Kurzmeldung: Das hat mit Mitgefühl nichts zu tun. Es ist Selbstgefälligkeit und riecht nach etwas, das Chögyam Trungpa „Narren-Mitgefühl“ nannte. Mitgefühl ist weder abgehoben noch versponnen. Es ist nicht anmaßend. Es bedeutet nicht, immer nur nett zu sein und es gemütlich zu haben, und es ist auch keine Ausrede dafür, sich anderen überlegen zu fühlen.
Stellen Sie sich vor, Sie wären Installateur und jemand riefe Sie an, weil seine Toilette nicht mehr richtig funktioniert. Er berichtet von einem schrecklichen Geruch, der von unterhalb des Hauses nach oben zieht, was auf ein Leck in einem Abwasserrohr hinweisen könnte, das erneuert werden muss. Wir kommen in unserer sauberen, weißen Arbeitskleidung an, unterhalten uns mit dem Kunden über das Problem und geben gut gemeinte Ratschläge: „Diese Dinge erledigen sich oft von selbst. Achten Sie darauf, dass Sie keine verkehrten Sachen in die Toilette werfen. Trinken Sie eine schöne Tasse Tee, essen Sie einen Keks und Sie werden sich gleich besser fühlen.“ Das ist alles gut und schön, aber es wird das Problem nicht lösen. Wir müssen den Kanalzugang unter dem Haus öffnen, hineinkriechen, um das Problem zu diagnostizieren, unser Werkzeug durch den Dreck schleifen und das geborstene Rohr reparieren. Es wird ungemütlich sein. Der Geruch wird sehr unangenehm sein. Die weiße Arbeitskleidung wird definitiv schmutzig werden. Aber das ist es, was getan werden muss, wenn wir helfen wollen.
Und so setzt auch Mitgefühl eine Bereitschaft voraus, mit dem Schmerz und dem Leiden in Berührung zu kommen – unserem eigenen und dem Leid derjenigen, denen wir helfen wollen. Mitgefühl setzt voraus, dass wir dableiben, wenn es ungemütlich wird, dass wir die schwierigen Gefühle aushalten, die hochkommen, wenn wir in Kontakt mit dem Leiden kommen und mit denen, die es durchmachen. Mitgefühl bedeutet Mut.
Es ist nicht leicht, mit Menschen zusammen zu sein, die leiden. Und das hat auch etwas mit unserer Gehirnstruktur zu tun: Bestimmte Zellen in unserem Gehirn, sogenannte „Spiegelneuronen“ erlauben uns, bis zu einem gewissen Grad nachzufühlen, was diejenigen fühlen, mit denen wir in Kontakt sind. Deshalb schaudern wir, wenn wir sehen, dass jemand Schmerzen leidet – wir spüren psychisch etwas von ihrem Schmerz. Zeuge des Leidens anderer zu werden kann intensive Gefühle bei uns auslösen, Gefühle, die auszuhalten und mit denen zu arbeiten wir lernen müssen, wenn wir hilfreich sein wollen. Die Gefühle, die hochkommen, wenn wir andere (oder sogar uns selbst) leiden sehen, können sehr schmerzlich sein, aber das ist keine schlechte Sache. Es ist ein wesentlicher Aspekt des Mitgefühls, es ist Teil unserer emotionalen „Grundausstattung“.
Probieren Sie eine kurze Übung aus: Atmen Sie ein paar Mal ein und aus und nehmen Sie bewusst Ihre Gefühle und Gedanken wahr. Sagen Sie nun zu sich: „Hungriges Kind.“ Nehmen Sie alle Gefühle wahr, die bei diesen Worten hochkommen und lassen Sie sie zu. Vielleicht fühlen Sie sich berührt oder traurig – diese Gefühle kamen bei mir hoch, als ich die Worte schrieb. Das ist kein Zufall. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unseren Schmerz miteinander zu teilen, und wir sind mit dem Instrumentarium des Mitgefühls ausgestattet, um darauf zu antworten.1
Es braucht Mut und Geduld, sich diesem Schmerz zu stellen. Das ist nicht leicht, denn wir haben starke Instinkte, die uns vor allem zurückschrecken lassen, was uns unangenehm ist. Aber wenn wir uns ständig erlauben, dem äußeren und inneren Leiden auszuweichen, werden wir nicht in der Lage sein, es gut genug zu verstehen, um helfen zu können. Wir müssen bereit sein, uns in den Leidenden hineinzuversetzen, die Welt durch seine oder ihre Augen zu betrachten. Wir müssen fähig sein, dazubleiben und zuzuhören. Und das bedeutet, dass wir unsere gewohnheitsmäßige Reaktion, aus der Situation zu flüchten, zu urteilen oder gedankenlosen Rat zu erteilen, aufgeben müssen, damit wir weitergehen können. Stattdessen müssen wir uns das Leiden genau anschauen, um sein Wesen und seine Ursachen zu verstehen und zu wissen, was heilsam sein kann. Wenn wir dann mitfühlend handeln, können wir es mit Weisheit und Selbstvertrauen tun.
BETRACHTUNG
Uns selbst kennenlernen
Denken Sie an ein paar Situationen, in denen Sie sich unwohl fühlen und die Sie gerne meiden. Wie empfinden und reagieren Sie beispielsweise, wenn Sie mit Menschen zusammen sind, die körperliche Schmerzen leiden oder die Trauer, Kummer, Angst, Wut oder Hoffnungslosigkeit fühlen? Überlegen Sie, welche Erfahrungen Sie mit diesen Menschen teilen können und welche Sie dazu bringen, sich zurückzuziehen.
7 Verwirrung über Mitgefühl

Während mitfühlendes Verhalten allgemein bewundert wird, existiert auch eine Menge Verwirrung in Bezug auf Mitgefühl. Wenn wir lernen, was Mitgefühl ist, ist es auch gut, zu wissen, was es nicht ist.
Mitgefühl zu haben heißt nicht, es ständig allen Leuten recht machen zu wollen. Die Motivation eines Jasagers ist Selbstschutz. Es ist also nicht echte Fürsorge für einen anderen Menschen, sondern der Wunsch, andere mögen gut von uns denken oder nett zu uns sein. Ein solches Motiv entspringt dem Bestreben, unser Ego zu schützen, und nicht, jemand anderem etwas Gutes zu tun.
Mitgefühl bedeutet auch nicht, dass man sich in das Leben anderer einmischt und ihre Probleme löst. Wenn wir Herr oder Frau „Repariere es“ werden, liegt der Fokus wieder auf uns. Wir denken: „Ich kann es nicht ertragen, einen anderen Menschen leiden zu sehen. Ich muss etwas dagegen tun.“ Mit diesem Gedanken riskieren wir, stärker involviert zu werden, als es dem anderen recht ist. Der Gedanke: „Ich werde ihr Problem lösen“, treibt uns so an, dass wir ungewollt dazu beitragen, dass sich die andere Person hilflos und ohnmächtig fühlt. Niemand will, dass andere sein Leben aus falsch verstandenem Mitgefühl kontrollieren. Manchmal äußert sich unser Mitgefühl am stärksten darin, dass wir anderen zeigen, wie sie ihr Problem selbst lösen können, und dann einen Schritt zurücktreten, um ihnen dazu Gelegenheit zu geben. Gelingt es ihnen, wird ihr Selbstvertrauen wachsen. Wenn nicht, werden sie hoffentlich aus ihren Fehlern lernen. Fragen sie uns nach Tipps, wie sie mit der Situation umgehen könnten, können wir ihnen welche geben, während wir gleichzeitig ihre Autonomie respektieren.
Weiterhin bedeutet Mitgefühl nicht, dass wir uns zum „Fußabtreter“ machen, auf dem andere herumtrampeln können, oder dass wir uns ausnutzen lassen. Mitgefühl hat nichts mit fehlgeleiteter Vergebung zu tun wie im Falle von häuslicher Gewalt: „Es ist wieder gut, Liebling. Du hast mich gestern und vorgestern Abend geschlagen. Ich habe Mitgefühl mit dir und vergebe dir. Du kannst mich wieder schlagen, wenn du willst.“ Das ist kein Mitgefühl, das ist Dummheit, die weder anderen noch uns selbst hilft. Wenn wir oder unsere Kinder in Gefahr sind, sollten wir die Situation unmittelbar verlassen und nicht zurückkehren, bis die andere Person die Hilfe erhalten hat, die sie braucht, damit die Gewalt ein Ende hat und die Situation sicher ist. Obwohl wir unser Mitgefühl für Menschen, die von negativen Emotionen überwältigt werden, aufrechterhalten, erlauben wir ihnen nicht, uns zu verletzen oder zu schaden. Das ist nicht nur für unsere eigene Sicherheit wichtig, sondern hilft auch ihnen, denn sie werden aufgrund ihres gewalttätigen Verhaltens viele Probleme bekommen.
Mitgefühl kann tatsächlich ein Handeln erforderlich machen, das der anderen Person überhaupt nicht gefällt. Mit echtem Mitgefühl könnten wir sogar gezwungen sein, eine Beziehung zu jemandem aufs Spiel zu setzen, der uns am Herzen liegt, um dieser Person weiterzuhelfen. Einmal erzählte mir ein Mann, dass er als Jugendlicher sehr über die Stränge geschlagen hatte und immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Jedes Mal war seine Mutter zum Gericht gegangen und hatte dafür gesorgt, dass er wieder auf freien Fuß kam. Und dann fing er wieder an zu stehlen, zu trinken oder Drogen zu verkaufen. Doch eines Tages schaute die Mutter den Jugendrichter an und sagte: „Mein Sohn ist außer Kontrolle geraten. Behalten Sie ihn hier.“ Dann verließ sie das Gericht. Der Junge war bestürzt und saß eine Weile im Gefängnis. Anfangs war er ziemlich verstört, aber es führte dazu, dass er über sein Verhalten nachdachte und die Gutherzigkeit seiner Mutter nicht mehr als selbstverständlich betrachtete. Er begann, sein Verhalten zu ändern.
Mitgefühl gibt uns auch das Selbstvertrauen, „Nein“ zu sagen, wenn wir mit dem manipulierenden Verhalten einer Person konfrontiert werden. Ihren Ansinnen und Intrigen nachzugeben hilft auf lange Sicht weder ihr noch uns. Auch wenn der andere wütend wird, zweifeln wir nicht an unserer Entscheidung, wenn wir wissen, dass das, was wir tun, das Richtige ist und einer mitfühlenden Absicht entspringt.