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Etwa zu Beginn meiner (Russells) Gruppenarbeit im Gefängnis erlebte ich folgende Situation: Frau Sanders, eine Vollzugsbeamtin, öffnete vorsichtig die Tür und bat Richard, einen Gruppenteilnehmer, nach draußen zu kommen. Richard fragte, warum, und sie sagte ihm, dass er in der falschen Gruppe sei und für eine andere, obligatorische Gruppenaktivität eingeteilt sei, die zur gleichen Zeit stattfand. (Es gibt im Gefängnis bestimmte Arbeitsgruppen für die Gefangenen, an denen die Männer teilnehmen müssen – unsere gehört nicht dazu). Nun versuchte Richard zu erklären, dass er die Sache mit einem anderen Beamten besprochen und die Erlaubnis erhalten hatte, stattdessen an unserer Gruppe teilzunehmen. Die Vollzugsbeamtin erwiderte, sie habe keine Kenntnis von einer solchen Vereinbarung und bestand darauf, dass er sofort mitkam. Es ging zwischen den beiden vor der Gruppe noch eine Weile hin und her und sowohl Richard als auch Frau Sanders wurden immer angespannter und gereizter. Nach einer Weile trafen beide die kluge Entscheidung, das Gespräch unter vier Augen fortzusetzen, und verließen den Raum, um die Sache zu klären.
In schwierigen Situationen wie der oben beschriebenen kann leicht ein Gefühl der Bedrohung aufkommen. Indem wir denken: „Ich habe recht und du hast unrecht“, sind wir ausschließlich damit beschäftigt, uns gegen einen Angriff zu verteidigen. In solchen herausfordernden Situationen hören wir normalerweise nicht mehr zu, werden vielleicht lauter, schneiden dem anderen das Wort ab oder sprechen schneller. Das Problem ist allerdings, dass diese Verhaltensweisen sehr ineffektiv und absolut nicht dazu geeignet sind, dem anderen unsere Sichtweise zu vermitteln, weil sie das Bedrohungssystem der anderen Person aktivieren. Weil sie das Gefühl hat, nicht gehört oder verstanden zu werden, fängt sie vielleicht an, sich genauso zu verhalten wie wir, hört nicht mehr zu und wird lauter – was den Teufelskreis aufrechterhält, indem nun wiederum unser Bedrohungssystem aktiviert wird. Es ist, als würden unsere Bedrohungssysteme aufeinanderprallen, und die Situation kann leicht zu einer hitzigen Auseinandersetzung eskalieren. Wenn das in einem öffentlichen Raum oder vor anderen geschieht, empfinden wir unsere negativen Gefühle wie unter einem Vergrößerungsglas, weil wir wissen, dass wir von anderen beobachtet werden. Das kann sehr peinlich sein.
Wenn uns dieser Prozess bewusst wird, erkennen wir, dass ein Wechsel der Strategie alles verändern kann. Anstatt weiterhin auf das Bedrohungssystem der anderen Person einzuhämmern, können wir für einen Moment langsamer atmen, um unser eigenes Bedrohungssystem „herunterzufahren“ und dann unser Verhalten so ändern, dass sich der andere sicherer fühlt. Anstatt beispielsweise unsere eigene Sicht der Dinge pausenlos zu wiederholen, könnten wir sagen: „Es tut mir leid, ich war total darauf fixiert, meinen eigenen Standpunkt zu vertreten, und habe überhaupt nicht richtig zugehört. Könntest du mir deinen noch einmal erläutern, damit ich sicher sein kann, dich richtig verstanden zu haben?“ Stellen Sie sich vor, Sie befänden sich mitten in einer hitzigen Auseinandersetzung und der andere würde so etwas zu Ihnen sagen. Können Sie erkennen, wie eine solche Aussage, die dem anderen vermittelt, dass er respektiert wird und keine Bedrohung darstellt, den Druck aus einer wütenden Interaktion nehmen kann? Wenn wir uns bedroht fühlen oder wie besessen von einem Ziel sind, sind unser Denken und unsere Aufmerksamkeit starr und eng. Völlig auf uns selbst fixiert, kann es fast unmöglich sein, den Standpunkt des anderen zu sehen. Wenn wir achtsam sind und bemerken, dass unser Bedrohungs- oder Antriebssystem die Bühne beherrscht, dass wir in einer Verteidigungshaltung erstarrt sind oder um jeden Preis unsere eigenen Interessen durchsetzen wollen, können wir „herunterkommen“ und eine offenere Haltung einnehmen – eine, in der alle das Gefühl haben, gehört zu werden, und sich sicher fühlen. Dadurch kommen wir oft auf einen gemeinsamen Nenner. Und manchmal stellen wir sogar fest, dass unsere Meinungen im Grunde gar nicht so unterschiedlich waren!
Im Fall von Richard und der Vollzugsbeamtin war die Auseinandersetzung einfach auf eine Unterbrechung des Kommunikationsflusses zurückzuführen, was in einem so komplexen Umfeld wie einem Gefängnis oder am Arbeitsplatz recht häufig vorkommt. Richard hatte tatsächlich die Vorschriften eingehalten und die Erlaubnis bekommen, an unserer Gruppe bis zum Ende teilzunehmen, bevor er in die nächste gehen musste. Die Vollzugsbeamtin war davon nicht in Kenntnis gesetzt worden und versuchte einfach nur, ihren Job zu machen und dafür zu sorgen, dass die Gefangenen dort waren, wo sie sein sollten. Beide fühlten sich bedroht, weil die Auseinandersetzung vor anderen stattfand: Richard, weil es ihm peinlich und er frustriert war, und die Vollzugsbeamtin, weil ihre Autorität vor anderen infrage gestellt wurde – in einem Umfeld, in welchem die Sicherheit aller davon abhängt, dass man ihren Anweisungen folgt. Glücklicherweise erkannten die beiden das und setzten ihr Gespräch unter vier Augen fort, sodass sie sich sicher fühlen konnten und das Missverständnis rasch aufgelöst wurde.
BETRACHTUNG
Mitgefühl und Emotionen
Denken Sie an eine Zeit zurück, in der Sie sich aggressiv verhalten oder komplett verschlossen haben und sich weigerten, mit einer anderen Person zu kommunizieren. Welche Gefühle hatten Sie zu diesem Zeitpunkt? Rufen Sie sich nun eine Zeit ins Gedächtnis, in der Sie sich freundlich und mitfühlend verhielten. Wie haben Sie sich dabei gefühlt? Sie werden feststellen, dass Ihre Fähigkeit, Mitgefühl anzunehmen und mitfühlend zu handeln, zunimmt, wenn in einer Situation das Gefühl, bedroht zu sein, dem Gefühl der Sicherheit weicht.
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