Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium

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Abb. 4 Erzählmodell nach Eco (eigene Darstellung)
2.2.1.5 Schmid
Auf der Ebene der Kommunikationssituation einer Erzählung übernimmt Schmid im Wesentlichen das Kommunikationsmodell von Chatman, modifiziert es jedoch an entscheidenden Stellen. Er geht – wie Chatman – von einem realen Autor sowie von einem realen Leser1 aus, die sich beide außerhalb des Textes befinden und die daher für narratologische Untersuchungen keinerlei Bedeutung haben. Obwohl der reale Autor außerhalb des Textes existiert, ist er nach Schmid dennoch „auf eine bestimmte Weise präsent.“2 Denn der konkrete Leser macht sich beim Lesen des Textes ein bestimmtes Bild vom Autor, von seinen Einstellungen und seiner Person. Dieses Bild bezeichnet Schmid als abstrakter Autor. Als Definition für den abstrakten Autor gibt er „das semantische Korrelat aller indizialen Zeichen des Textes, die auf den Sender verweisen“3, an. Parallel zum abstrakten Autor geht Schmid von einem abstrakten Leser aus, dem er grundsätzlich zwei Funktionen zuschreibt: Zum einen ist der abstrakte Leser ein unterstellter Adressat, an den sich der Text richtet und der aus dem Text und den in ihm enthaltenen Werten, Normen und sprachlichen Codes zu rekonstruieren ist.4 Zum anderen ist der abstrakte Leser ein idealer Rezipient, „der das Werk auf eine der Faktur optimal entsprechende Weise versteht und jene Rezeptionshaltung und Sinnposition einnimmt, die das Werk ihm nahe legt.“5
Darüber hinaus verwendet Schmid den Begriff des fiktiven Erzählers und macht durch die Voranstellung des Wortes „fiktiv“ deutlich, dass es sich beim Erzähler nicht um eine reale Person, sondern um eine fiktive und frei erfundene Größe handelt. Den fiktiven Erzähler teilt er weiter auf in einen impliziten Erzähler, der z.B. hinter der Auswahl von Personen und Redehandlungen steht und von dem sich der reale Leser automatisch ein Bild macht, und in einen expliziten Erzähler, der sich selbst präsentiert und der als Stimme im Text deutlich wahrnehmbar ist.6 Auf derselben Ebene wie den fiktiven Erzähler ordnet Schmid den fiktiven Leser ein. Dabei ist der fiktive Leser „der Adressat des fiktiven Erzählers, jene Instanz, an die er seine Erzählung richtet.“7
Im Gegensatz zu den vorherigen Erzählmodellen teilt Schmid eine Erzählung in die Ebenen Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung. Das Geschehen bezeichnet demnach die gesamte, unbegrenzte Situation, die Geschichte steht für die aus dem Gesamtgeschehen getroffene Auswahl von Ereignissen. Als Erzählung versteht Schmid die Komposition dieser selektiven Auswahl aus dem Geschehen; die Verbalisierung der Erzählung bezeichnet er als Präsentation der Erzählung.8
Sein Erzählmodell lässt sich folgendermaßen darstellen:

Abb. 5 Erzählmodell nach Schmid (eigene Darstellung)
2.2.1.6 Martinez und Scheffel
Im Gegensatz zu Genette unterteilen Martinez und Scheffel in einer Erzählung lediglich – wie Chatman – die zwei Ebenen Handlung und Darstellung.1 Dabei umfasst das „was“, also die Handlung, die Elemente Ereignis, Geschehen, Geschichte und Handlungsschema. Unter dem „wie“, also der Darstellung, fassen sie die beiden bei Genette als eigenständig proklamierten Bereiche Erzählung und Narration. Sie begründen diese Zusammenführung der beiden Bereiche unter die Kategorie Darstellung damit, dass „die ‹Narration› in fiktionaler Rede nicht mehr als die text- und fiktionsinterne pragmatische Dimension der ‹Erzählung› umfasst […], d.h. die zeitliche und räumliche Position des fiktiven Erzählers gegenüber seiner Geschichte“2.
Auf der Ebene der Erzählsituation finden sich bei Martinez und Scheffel jedoch nur wenige Begriffe. Im Grunde reduzieren sie die Erzählsituation auf die Instanzen realer Autor, Erzähler und Leser. Es gilt: „Der Autor erfindet den Erzähler“3. Der Leser ist dabei der „narrative Adressat“4 einer Erzählung und kann in einen fiktiven und in einen realen Leser unterteilt werden.5 Der Leser ist darüber hinaus an der Sinnerschließung und Wirkung eines Textes maßgeblich beteiligt, denn die Tätigkeit des Lesers „beschränkt sich […] nicht nur auf das Nachvollziehen logischer Implikationen des explizit Gesagten, sondern sie ergänzt auch aufgrund lebensweltlicher und literaturhistorischer Muster“6.
Daraus ergibt sich folgendes Erzählmodell:

Abb. 6 Erzählmodell nach Martinez und Scheffel (eigene Darstellung)
2.2.1.7 Finnern
In Bezug auf die Unterteilung einer Erzählung schlägt Finnern die ungewöhnliche und hier nicht näher zu erläuternde Einteilung in Umwelt, Handlung, Figuren, Perspektive und Rezeption vor.1 Auf der Ebene der Erzählsituation spricht sich Finnern dafür aus, den Begriff des impliziten Lesers durch den Begriff des intendierten Rezipienten zu ersetzen. Er begründet diese Änderung wie folgt: „Die (klassische) Rezeptionsästhetik hat […] mehrere Probleme: Sie geht von einem textimmanenten 'impliziten Leser' aus, bei dem das benötigte Vorwissen und die typischen Verstehensprozesse bei der Lektüre nicht berücksichtigt werden und der deshalb durch das kognitive Konzept des intendierten Rezipienten ersetzt werden sollte“2. Anstatt als eine rein textimmanente Größe versteht Finnern den intendierten Rezipienten als eine Vorstellung von der Leserschaft im Kopf des realen Autors. Daher verfügt der vom realen Autor intendierte Leser auch über ein bestimmtes, kulturell bedingtes Vorwissen, auf das der reale Autor gezielt anspielt.3 Auch erwartet der reale Autor bestimmte Reaktionen bei seinen intendierten Rezipienten und schneidet seine Erzählstrategien auf sie zu.4 Für die Analyse ist es daher nach Finnern wichtig, den Text historisch zu verorten, um möglichst genau das Vorwissen und die Verstehensprozesse der intendierten Rezipienten zu rekonstruieren. Finnern übernimmt dabei die in der Forschung übliche Einteilung dieses Vorwissens in statische frames und dynamische scripts.5 Frames beschreiben die historisch und kulturell bedingten, sich von Kindheit an verfestigenden Vorstellungen, die wir von bestimmten Dingen, wie z.B. einem Vogel, einem Hochhaus etc. haben. Die scripts stellen dagegen das „prozeduale Vorwissen, also welche Ereignisse uns in einer bestimmten Situation erwarten […] oder wie man etwas tut“6 dar. Zum Verstehen eines Textes und der Leserlenkung des Erzählers ist es daher nach Finnern unumgänglich, die frames und scripts der intendierten Rezipienten zu berücksichtigen. Im Hinblick auf die Figurenanalyse bedeutet dies z.B., dass die intendierten Rezipienten bereits eine bestimmte Vorstellung von den Figuren haben, auch wenn diese zum ersten Mal erwähnt werden. Denn aus „kognitiver Sicht funktioniert die Figurenrezeption nach demselben Muster wie die reale Personenwahrnehmung. Der Rezipient setzt sich dabei auch mit inhaltlichen Standpunkten der Figuren auseinander.“7
Die von Finnern vertretene Berücksichtigung von historischen und kulturellen Kenntnissen der intendierten Rezipienten kann als eine Folge der kognitiven und historischen Wende8 angesehen werden.9 Ebenso kritisiert Finnern den – wiederum textimmanenten – Begriff des impliziten Autors und schlägt dagegen vor, ihn als das „kognitive Modell des Lesers vom Autor – ähnlich dem mentalen Modell, das sich der Leser von Figuren der Erzählung macht“10 zu verstehen. Auch der in der bisherigen Narratologie weitgehend ausgeklammerte reale Autor gewinnt bei Finnern wieder an Beachtung.11 Darüber hinaus definiert er das Verhältnis zwischen dem realen Autor und dem Erzähler neu: „Der Autor einer Erzählung ist zunächst immer selbst ein Erzähler.“12 In den Fällen, in denen auch in fiktionalen Erzählungen realer Autor und Erzähler nicht merkbar auseinandertreten, hält Finnern eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Größen, wie u.a. Genette sie durchführt, für künstlich und „unsinnig“13. Es gibt somit nach Finnern einen realen Autor, der gleichzeitig auch der Erzähler ist. Die realen Rezipienten erhalten durch den Text ein Bild des Erzählers/Autors. Der reale Autor/Erzähler kann sich jedoch auch eine von ihm abweichende Erzählerfigur konstruieren und sich an bestimmte (fiktive) Adressaten wenden. Dabei hat der reale Autor/Erzähler stets ein Bild der Rezipienten mit einem bestimmten Vorwissen vor Augen, auf die er seine Erzählstrategie abstimmt.
Finnerns Erzählmodell lässt sich somit folgendermaßen veranschaulichen:

Abb. 7 Erzählmodell nach Finnern (eigene Darstellung)
2.2.1.8 Fludernik
Eine Erzählung unterteilt Fludernik grundsätzlich in zwei Ebenen: Die „Ebene der dargestellten Welt (die Geschichte) und die Ebene der Vermittlung“1, womit sie sich Chatmans Zweiteilung in story und discourse anschließt.
Hinsichtlich der Kommunikationssituation in einer Erzählung lehnt sie sich ebenfalls stark an Chatman an und unterscheidet verschiedene Erzählebenen von innen nach außen: Im Inneren, im Kern einer Erzählung, befindet sich demnach eine Erzählfigur, die einer textinternen Leserfigur etwas mitteilt.2 Ganz außen befinden sich ein realer Autor sowie ein realer Leser. In der Mitte unterscheidet sie mit Chatman zwischen einem impliziten Autor und einem impliziten Leser. Dabei ist der implizite Autor ihrer Ansicht nach „in Wirklichkeit keine Figur, sondern ein Leser/Interpreten-Konstrukt, das den Sinn des Werkganzen in eins fasst.“3 Parallel dazu ist für sie der implizite Leser ein „Konstrukt des Interpreten, der eine Rezeptionshaltung aus dem Werk abliest.“4
Fluderniks Erzählmodell, das sich stark an das Modell von Chatman anlehnt, kann wie folgt skizziert werden:

Abb. 8 Erzählmodell nach Fludernik (eigene Darstellung)
2.2.2 Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell
Im Folgenden soll nun das bei der in dieser Arbeit durchgeführten Figurenanalyse des Auferstandenen im Matthäus- und Lukasevangelium als Basis dienende und sich aus den im Vorhergehenden vorgestellten Modellen zusammensetzende Erzählmodell kurz skizziert werden. Anschließend werden die verwendeten Begrifflichkeiten erklärt.
2.2.2.1 Erzählmodell
Die im Vorangehenden kurz dargestellten Erzählmodelle haben m.E. jeweils ihre Stärken und Schwächen. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit durchgeführte Figurenanalyse des Auferstandenen scheint daher eine Kombination aus verschiedenen Modellen sinnvoll zu sein.
Hinsichtlich der Einteilung einer Erzählung in verschiedene Ebenen schließe ich mich Chatman, Marguerat/Bourqin, Martinez/Scheffel und Fludernik an, die jede Erzählung grundsätzlich in das, was erzählt wird, und in das, wie etwas erzählt wird, also in Handlung und Darstellung einteilen. Die von Genette als Narration bezeichnete Situation des Erzählens sowie die von Schmid als Präsentation der Erzählung bezeichnete Verbalisierung der Erzählung kann m.E. zu Recht mit Martinez und Scheffel zu dem Bereich der Darstellung gezählt werden, da der Erzähler maßgeblich daran beteiligt ist, wie etwas erzählt wird.
Hinsichtlich der Kommunikationssituation dient mir das Erzählmodell von Chatman als Basis, der den realen Autor aus der narrativen Untersuchung ausklammert und den Adressaten als nicht konstitutiv, sondern optional beschreibt. Anders als Chatman setze ich jedoch den Erzähler als konstitutiv voraus, da m.E. eine Erzählung niemals ohne Erzähler sein kann. Auch trenne ich den Erzähler – im Gegensatz zu Finnern – vom realen Autor, da es zwar große Übereinstimmungen zwischen diesen beiden Größen geben kann, sie jedoch in einer Erzählung (anders als in einer Autobiographie) nicht automatisch identisch sind. Zudem verwende ich in meinem Erzählmodell nicht den bei Chatman und Marguerat/Bourqin als Summe aller Erzählstrategien verstandenen Begriff impliziter Autor, sondern verzichte wie Genette bewusst auf diese Größe, da sie sich in Erzähltexten nur schwer vom Erzähler abgrenzen lässt und daher nicht wesentlich zur Erzähltextanalyse beiträgt. Auch wird der Begriff des impliziten Lesers in Anlehnung an Finnern gegen den Begriff des intendierten Rezipienten getauscht, der jedoch inhaltlich Schmids Zweiteilung in einen unterstellten Adressaten und in einen idealen Rezipienten sowie Ecos Modellleser folgt. Die Entscheidung für die Verwendung dieser Begriffe wird im Folgenden jeweils erläutert.
Es ergibt sich daher als Grundlage für diese Arbeit folgendes Erzählmodell:

Abb. 9 Das in dieser Arbeit verwendete Erzählmodell (eigene Darstellung)
2.2.2.2 Begriffsklärungen
2.2.2.2.1 Realer Autor
Der reale Autor ist eine historische Person oder eine Gruppe, die den Text produziert hat, sich dabei folglich außerhalb des Textes befindet. Für alle Erzählungen gilt: „Alle Texte sind von realen AutorInnen verfasst und werden von realen LeserInnen gelesen.“1 Sie und ihr Umfeld zu ergründen ist Aufgabe der historisch-kritischen Exegese. Der reale Autor existiert „outside the text, independently of the text, and can only be reconstructed by historical hypothesis.“2 Daher ist er für die narrative Figurenanalyse von keiner Bedeutung.3 Wer der reale Autor des Matthäusevangeliums und wer der reale Autor des Lukasevangeliums war, in welchen sozialen und kulturellen Umwelten sie ihre Evangelien geschrieben haben, welche Quellen sie dabei verarbeitet haben und wie sie dabei vorgegangen sind, fällt nicht in den Bereich der Narratologie.
2.2.2.2.2 Realer Leser
Beim realen Leser verhält es sich ähnlich wie beim realen Autor: Auch er befindet sich generell außerhalb des Textes. Dabei handelt es sich nicht um eine einzelne Person, sondern um eine unendlich große Anzahl an Menschen, die zu allen Zeiten den Text gelesen haben, lesen und lesen werden (die also später einmal zu realen Lesern werden). 1 Zu rekonstruieren, wer die damaligen Erstleser des Evangeliums waren, auf die der reale Autor sein Evangelium zugeschnitten hat, und wo das Evangelium seinen „Sitz im Leben“ gehabt hat, ist nicht Gegenstand der Narratologie. Denn was im Kopf der Erstleser beim Lesen des Textes vorgegangen ist, welches Vorwissen und welche Verstehensprozesse sie an den Tag legten, kann nicht mehr rekonstruiert werden, da die realen Erstleser sowie der reale Autor im Dunkeln liegen.
Dennoch bin ich als reale Leserin natürlich faktisch an der Erzählung beteiligt, da ich mit meinen kognitiven Verstehens-Prozessen und aus meiner Lebenswelt heraus den Text wahrnehme.2 Bei dieser Wahrnehmung versuche ich jedoch, anhand bestimmter Textsignale die vom Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten und seine vom Text intendierten Reaktionen) zu rekonstruieren.3 Eco spricht dabei sogar von einer gewissen Verpflichtung des realen Lesers, sich dem Code und dem Verstehenshorizont des Modell-Lesers so weit wie möglich anzunähern.4 Darüber hinaus enthält der Text selbst Lese-Anweisungen für eine im Text vorgesehene Rezeptionsweise (den intendierten Rezipienten) und es geht dabei darum, diese Anweisungen aufzuzeigen, damit sich der reale Leser im Spielraum dieses intendierten Rezipienten bewegen kann.5 Der intendierte Rezipient ist damit eine vom Text angebotene Lese-Rolle, die vom realen Leser eingenommen werden kann, auch wenn diese natürlich im Einzelnen von realen Lesern unterschiedlich eingenommen wird.6
2.2.2.2.3 Intendierter Rezipient
In meinem Erzählmodell verwende ich anstelle des in vielen Erzähltheorien begegnenden Begriffs impliziter Leser1 in sprachlicher Anlehnung an Finnern den Begriff intendierter Rezipient. Finnern versteht jedoch unter diesem Begriff das kognitive Bild, das sich der reale Autor von seinem Leser gemacht hat. Parallel dazu existiert bei ihm das Bild, das sich der reale Leser vom Autor macht.2 Jedoch muss mit Schmid bemerkt werden, dass hier „eine verführerische Symmetrie“3 naheliegt. Denn der Schwachpunkt an Finnerns Konzept des intendierten Rezipienten besteht m.E. darin, dass wir in den Kopf des realen Autors nicht mehr hineinschauen können und dass wir daher nicht wissen, welches Bild vom Leser sich der reale Autor gemacht hat.4 Diese „doppelte Brechung“ des Rezipienten als mentales Konstrukt eines im Dunkeln liegenden realen Autors scheint mehr als problematisch zu sein. Der intendierte Rezipient ist daher in meinem Erzählmodell nicht der vom realen Autor, sondern der vom Text intendierte Rezipient.
Der intendierte Rezipient nimmt dabei in meinem Erzählmodell zwei von Schmid5 herausgearbeitete Funktionen wahr: Er ist zum einen der unterstellte Adressat, der vom realen Leser durch die Wortwahl des Erzählers und die von ihm verwendeten sprachlichen und kulturellen Codes rekonstruiert werden kann. Über die unterstellten Adressaten des Matthäusevangeliums kann z.B. gesagt werden, dass sie wahrscheinlich mit alttestamentlichen Texten vertraut waren, da der Erzähler an vielen Stellen alttestamentliche Zitate anbringt. Gleichzeitig ist der intendierte Rezipient aber auch ein idealer Rezipient, der jede Anspielung im Text versteht, ein Lesegedächtnis besitzt und über ein bestimmtes (historisches und kulturelles) Vorwissen verfügt. Der Text selbst und mit ihm der im Text intendierte Rezipient wird somit historisch sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium im 1. Jhd. n. Chr. verortet.6 Das mögliche Vorwissen des intendierten Rezipienten wird daher in den Fällen mit berücksichtigt, in denen der Text ein solches (historisches oder kulturelles) Wissen vorauszusetzen scheint und gezielt darauf anspielt. Dabei beziehe ich mich in diesem Punkt auf Eco und seinen Modelleser, der über ein bestimmtes, kulturell geprägtes enzyklopädisches Wissen verfügt.7 Darüber hinaus werden bei der Analyse des Textes das Lesegedächtnis des intendierten Rezipienten (das die vorhergehenden Kapitel des Matthäus- oder des Lukasevangeliums umfasst) sowie seine wahrscheinlichen und im Text intendierten Reaktionen und Rezeptionsemotionen (wie Empathie, Sympathie, Antipathie, Spannung, Furcht, Freude, Humor)8 stets mit berücksichtigt.
2.2.2.2.4 Erzähler
Der reale Autor einer Erzählung schafft sich einen Erzähler, der dann eine Erzählung auf eine bestimmte Art und Weise erzählt. Jeder Erzähltext verfügt somit über einen Erzähler, auch wenn er oft auf den ersten Blick nicht deutlich erkennbar ist. Der Erzähler ist eine fiktive, imaginäre Figur des textexternen Autors und damit gleichzeitig „das vermutlich wesentlichste Formprinzip von Erzähltexten.“1
Der Erzähler begegnet in einer bestimmten Erzählform (z.B. Ich-Erzählung, Er/Sie- Form).2 Für den Erzähler des Matthäusevangeliums gilt durchweg die Er/Sie-Form, der Erzähler des Lukasevangeliums erzählt jedoch in seiner Einleitung zunächst in der Ich-Form und wechselt dann in die Er/Sie-Erzählung. Besonders Erzähler, die selbst im Text als Figur auftreten, besitzen oft ein persönliches Profil (Name, Geschlecht, Alter etc.).3
Darüber hinaus zeigt der Erzähler ein bestimmtes Erzählverhalten: auktorial, personal oder neutral. Bei allen gilt jedoch: „Er präsentiert die erzählte Welt.“4 Beim auktorialen Erzählverhalten (wie es sich im Matthäus- und im Lukasevangelium findet) überblickt der Erzähler das Geschehen und greift durch Kommentare wie z.B. Hinweise für die Leser, Urteile über Personen etc. in die Erzählung ein.5 Der Erzähler leitet den Leser durch die Erzählung. Beim personalen Erzählverhalten schildert der Erzähler die Geschichte aus der Perspektive einer Person, wobei er zwischen verschiedenen Personen wechseln kann. Der Erzähler weiß dabei nur so viel, wie die Person weiß. Das objektive Erzählverhalten zeichnet sich dadurch aus, dass der Erzähler sachlich und ohne jegliche Kommentare das Geschehen berichtet. Aber auch bei einem (scheinbar) objektiven Erzählverhalten gilt folgendes: „Der Erzähler ist anwesend als Quelle, Garant und Organisator der Erzählung, als ihr Analytiker und Kommentator, als Stilist“6.
Des Weiteren nimmt der Erzähler einen bestimmten Erzählstandpunkt und eine Fokalisierung ein.7 Er kann in großer Nähe zum Geschehen stehen oder auch aus einer starken Distanz heraus erzählen. In der Narratologie spricht man von einem offenen und einem verborgenen Erzähler.8 Die Fokalisierung kann dabei innerhalb einer Erzählung wechseln.9 Genette kennt insgesamt drei Formen der Fokalisierung: Nullfokalisierung, Externe Fokalisierung und Interne Fokalisierung.10 Man kann die Wahl des Erzählstandortes mit der Wahl der Kameraeinstellung im Film vergleichen. In einigen Szenen „zoomt“ die Kamera an Personen heran, schildert ihre Gefühle und ihre Sicht, im nächsten Moment wird das Geschehen aus einer Weitwinkel-Einstellung heraus präsentiert und der Zuschauer erhält einen Gesamtüberblick über das Geschehen.
Außerdem zeigt der Erzähler eine bestimmte Erzählhaltung: Er kann sich affirmativ, begeistert, neutral, humorvoll, ironisch, skeptisch, distanziert oder ablehnend zu dem von ihm Erzählten verhalten.11 „Die Überzeugungen, Normen und Werte des Erzählers werden auf verschiedene Weise […] zum Ausdruck gebracht.“12 Durch gezielte Informationsvergabe steuert er die Leseraffekte und erzielt somit bei den Lesern Sympathie, Antipathie, Empathie, etc. in Bezug auf bestimmte Figuren.13
Auch unterliegt der Erzähler einer bestimmten Erzählzeit, da der Akt des Erzählens selbst Zeit benötigt. Diese steht der erzählten Zeit, die die Zeit der erzählten Geschichte und der Handlung bezeichnet, gegenüber.14 Er nimmt darüber hinaus einen bestimmten zeitlichen Standpunkt ein, indem er z.B. von Geschehnissen in der Vergangenheit – also im Präteritum – berichtet oder von Dingen in der Gegenwart oder Zukunft spricht.15





