Der auferstandene Jesus als erzählte Figur im Matthäus- und Lukasevangelium

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Zuletzt greifen Gunn und Fewell Forsters Unterscheidung in flache und runde Charaktere auf, wobei sie jedoch deutlich machen, dass ein und dieselbe Figur in unterschiedlichen Szenen einmal flach und einmal rund dargestellt werden kann.28
Marguerat und Bourqin29 widmen sich u.a. auch ausführlich der Analyse von Charakteren. Dabei verwenden sie Forsters Unterteilung in flache und runde Charaktere sowie das von Greimas entwickelte Aktantenmodell.30 Zusätzlich stellen sie heraus, dass ein typisches Merkmal biblischer Figuren ihre fehlende Autonomie ist, da sich die Figuren immer in einer Beziehung zu Gott oder Jesus befinden und niemals nur für sich existieren.31Auch untersuchen Marguerat und Bourqin, inwiefern der Leser sich mit bestimmten Figuren identifiziert, bzw. wodurch eine Wirkung wie Sympathie, Empathie oder Antipathie für die Figur entsteht. Dabei kommen sie zu folgender Schlussfolgerung: „The rule is simple: the more the characters resemble real beings, i.e. the more their life coincides with that of the reader (whether real or imaginary), the more attractive these characters will be to the reader.”32 Dem Erzähler kommt dabei eine bedeutende Position zu, da er durch seine gezielt gewählte Erzählstrategie die Wirkung des Lesers auf bestimmte Figuren beeinflusst.33 Zu dieser gezielten Beeinflussung der Leser gehört auch die Position, die der Erzähler seinen Lesern in Bezug auf bestimmte Figuren zuweist. Zentral ist hierbei die Frage, ob die Leser mehr, weniger oder genauso viel wissen wie die Figur.34 Die Rolle des Erzählers und sein Verhältnis zur Figur sind dabei genauso bedeutsam. Entweder beschreibt er das Innenleben einer Figur, ihre Gedanken und Träume, erzählt also aus einer großen Nähe zur Figur; oder er schildert die Figur „von weitem“ aus einer gewissen Distanz heraus.35 Als weiteres Analysekriterium für die Untersuchung von Figuren nennen Marguerat und Bourqin die grundlegende Unterscheidung zwischen telling und showing. Dabei beinhaltet das telling alle direkten Aussagen, die vom Erzähler über die Figur gemacht werden. Das showing bezeichnet dagegen das Handeln und Sprechen der Figur selbst.36 Marquerat und Bourqin entwickeln somit ein Analysemodell, das Aspekte von Forster und Greimas sowie die grundlegende Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Charakterisierung miteinbezieht.
In der letzten Zeit hat v.a. Finnern37 einen Versuch unternommen, eine generell anwendbare Methodik für die Analyse biblischer Figuren auszuarbeiten. Dabei orientiert er sich stark an dem von Eder entwickelten Konzept zur Figurenanalyse im Film.38 Finnern gliedert eine Figurenanalyse in sechs verschiedene Methodenschritte. 1. Figurenbestand und Figurenkonfiguration: Hier werden zunächst die in einer bestimmten Szene vorkommenden Figuren39 die oftmals eine Auswahl aus dem Gesamtbestand aller Figuren darstellen, aufgelistet.40 2. Figurenmerkmale: Hierunter fallen die folgenden zwölf Kriterien Identität, Charakterzüge, Meinungen, Erleben, Gefühle, Verhaltensweisen, äußere Attribute, sozialer Kontext, Wissen, Pflichten, Wünsche und Intentionen der Figur.41 Auch wird nach ihrer Wirkung auf den Rezipienten gefragt. 3. Figurenkonstellation: In dieser Analysekategorie steht die Figur und ihre Beziehungen zu anderen Figuren, die auch grafisch veranschaulicht werden können, im Fokus.42 4. Figur und Handlung: An dieser Stelle wird nach der Bedeutung und Funktion der Figur innerhalb der Handlung gefragt.43 5. Figurendarstellung: In dieser Kategorie wird die Art und Weise der Charakterisierung einer Figur genauer beleuchtet. So kann sie direkt oder indirekt erfolgen, auktorial oder figural, über den Text verteilt oder in Blöcken.44 6. Figurenkonzeption: In diesem die Figurenanalyse abschließenden Punkt findet eine Gesamtbeurteilung der Figur statt. Es geht dabei um die Frage, ob die Figur letztlich statisch oder dynamisch, knapp oder detailliert, eindimensional oder mehrdimensional, typisch oder untypisch, geschlossen oder offen, realistisch oder unrealistisch, kohärent oder inkohärent ist.45
2.3.1.2.2 Durchführungen von Figurenanalysen in den Evangelien und der Apostelgeschichte
Im Folgenden werden konkrete Durchführungen von Figurenanalysen in den Evangelien und der Apostelgeschichte vorgestellt. Dabei liegt der Fokus zum einen auf Figurenanalysen im Johannesevangelium, Matthäusevangelium, Lukasevangelium, der Apostelgeschichte und zum andern auf Analysen der Jesus-Figur in den synoptischen Evangelien. Die zuerst genannten Durchführungen werden an dieser Stelle skizziert, weil sie in einigen Punkten Impulse liefern für die in dieser Arbeit verwendete Methodik und in anderen Punkten durch Abgrenzungen zu mehr Klarheit verhelfen. Die Darstellungen von Analysen der Jesus-Figur liefern dagegen nicht unbedingt signifikante Impulse hinsichtlich der von mir zu entwickelnden Figurenanalysemethode, zeigen jedoch, wie in der bisherigen Forschung die Jesus-Figur in den synoptischen Evangelien analysiert worden ist, und machen so mögliche Schwachstellen deutlich.
2.3.1.2.2.1 Figurenanalyse im Johannesevangelium
Fehribach1 untersucht und analysiert die fünf Frauenfiguren – die Mutter Jesu, die samaritanische Frau, Maria aus Bethanien, Martha und Maria Magdalena – im Johannesevangelium und kommt dabei letztlich zu folgendem Ergebnis: „[T]he main function of the female characters in the Gospel is that of supporting Jesus’ role as the messianic bridegroom who has come to give those who believe in him the power to become children of God”2. Bei ihrer Figurenanalyse verfolgt Fehribach einen historisch-literarischen Ansatz, bei dem sie versucht, zu ergründen, wie die Figuren auf den impliziten Leser des 1.Jhds n. Chr. gewirkt haben können.3 Dazu untersucht sie den Text in enger Beziehung zu seinem kulturellen und literarischen Millieu.4 Als Bezugstexte dienen hierfür die Hebräische Bibel, Hellenistisch-Römische Schriften, bekannte Griechisch-Römische Literatur, das Konzept „Ehre und Schande“, das von Kulturanthropologen zur Untersuchung von Geschlechter-Beziehungen im mediterranen Raum verwendet wird und die Geschichte der Frauen in der Griechisch-Römischen Welt.5 Für die Analyse der Frauenfiguren geht sie generell von fünf verschiedenen Annahmen aus: 1. Figuren sind eng mit der Handlung und dem Plot verbunden 2. Figuren verraten wichtige Aspekte über andere Figuren 3. Eine Charakterisierung vollzieht sich zugleich sequenziell und kumulativ 4. Eine Charakterisierung impliziert stets eine rhetorische Funktion 5. Der soziale Standpunkt des Lesers spielt eine tragende Rolle bei der Vorstellung von Figuren.6
Nicklas7 untersucht die Figurengruppe der Juden und der Jünger im Johannesevangelium auch im Blick auf ihre Wirkung auf den impliziten Leser. Dafür nennt er in Bezug auf die Figurenanalyse einige grundlegende Techniken der Charakterisierung8: So macht er deutlich, dass Figuren im JohEv selten mit Attributen belegt werden, sondern oft nur mit Namen genannt sind. Darüber hinaus werden Figuren „in erster Linie durch ihre Aktionen und Aussagen gezeichnet.“9 Einige Figuren vollziehen zudem eine Entwicklung. Auch können die Figuren in ihrem jeweiligen Verhältnis zu Jesus (als Maßstab) analysiert werden.10 Als eine weitere Technik der Charakterisierung nennt Nicklas die Beurteilung von Figuren durch Aussagen anderer Figuren, wobei zwischen dem Gewicht der Aussagen aufgrund der Stellung der jeweiligen Figuren differenziert werden muss. Auch die Technik der Kontrastierung und Parallelisierung von Charakteren findet sich im JohEv.11 Dabei weist Nicklas insgesamt darauf hin, dass bei der Charakterisierung von Figuren dem Erzähler eine ganz entscheidende Rolle zukommt. Denn durch seine Erzählweise (u.a. durch Anspielungen, das Durchbrechen erwarteter Muster oder Ironie) kann er die Rezeption des impliziten Lesers lenken und die Wirkung von Figuren auf den impliziten Leser bestimmen.12
In ihrer Untersuchung zur Charakterisierung der Figuren Maria Magdalena, Petrus, Thomas und der Mutter Jesu im Johannesevangelium unterscheidet Hartenstein13 generell zwischen einer direkten Beschreibung und einer indirekten Präsentation der Figuren.14 Zur direkten Beschreibung zählen die Aspekte ausdrückliche Charakterisierung, Gruppenzugehörigkeit, Verwandtschaft und Herkunft sowie Einführung und Wiederauftritt von Personen. Unter den Aspekt der indirekten Präsentation fallen bei ihr die Aspekte Handlung und Reden der Figur sowie Reaktionen auf Jesus und Dreiecksbeziehungen zwischen den Figuren. Dabei verfolgt Hartenstein insgesamt einen narratologischen Ansatz, den sie historisch ausweitet, indem sie bei jeder Figur zugleich verschiedene frühchristliche (und auch apokryphe) Texte miteinbezieht, in denen diese Figur eine Rolle spielt.15 Sie begründet diesen Ansatz folgendermaßen: „Mein Ansatz, Vergleichstexte zu einzelnen Personen heranzuziehen, bedeutet also eine Rekonstruktion des historischen Kontextes des JohEv an dieser einen Stelle, bei den zu verschiedenen Personen vorhandenen Vorstellungen. Sinnvoll und notwendig ist dies nicht nur aus historischen, sondern auch aus literarischen Gründen, weil das JohEv nicht alle Figuren neu erfindet“.16 Im Vergleich mit anderen frühchristlichen Texten soll so das spezielle Profil der johanneischen Darstellung besser zur Geltung kommen.17
Bennema18 entwickelt eine Theorie zur Figurenanalyse, indem er zunächst Ansätze zur Charakterisierung von Figuren aus der Hebräischen und Griechisch-Römischen Literatur mit modernen Ansätzen zur Figurenanalyse in Beziehung setzt.19 In einem weiteren Schritt entwickelt Bennema seinen eigenen Ansatz zur Figurenanalyse. Hierbei geht er in drei Schritten vor: Zuerst untersucht er die Figur im Text und im Kontext.20 Dabei macht er deutlich, dass es für eine Figurenanalyse notwendig ist, hinter den Text zurückzugehen und historisch zur Entstehung des Textes, den ursprünglichen Adressaten und der damaligen Umwelt zurückzufragen.21 Anschließend klassifiziert er die Figur anhand der von Ewen herausgestellten drei Dimensionen „complexity“, „development“ und „inner life“.22 Hierbei führt er den Ansatz von Ewen weiter, indem er vorschlägt, anstatt Gegensätze wie „complex“ und „simple“ vielmehr den jeweiligen Grad der Komplexität anzugeben. Dafür unterteilt Bennema in „none“, „little“, „some“ und „much“.23 Als drittes setzt er die Figur in Beziehung zum ideologischen Standort des Autors sowie zum Plot.24
In ihrer Untersuchung zum Petrusbild im Johannesevangelium verfährt Schultheiss25 sowohl nach einem synchronen als auch nach einem diachronen Analyseansatz.26 Dabei analysiert sie die Petrus-Szenen in der Abfolge des Johannesevangeliums jeweils zunächst synchron, um „Feinstrukturen innerhalb eines Abschnitts wie intratextuelle Verbindungslinien“27 herauszustellen. In einem weiteren diachronen Analyseschritt untersucht sie die Abschnitte v.a. in Beziehung zu den synoptischen Vergleichstexten um „das Profil der johanneischen Darstellung herauszuarbeiten.“28 Innerhalb der synchronen Analyse der Textabschnitte charakterisiert sie die Petrusfigur in Anlehnung an Finnern mithilfe der Kategorien 1. Figur(en) und Plot 2. Figurenbestand und Figurenkonstellation 3. Figurendarstellung 4.Figurenkonzeption 5. Wirkung auf den Leser.29
Myers30 untersucht in ihrer Arbeit zur Charakterisierung Jesu im Johannesevangelium die Verwendung des Alten Testaments, die maßgeblich zur Präsentation der Jesus-Figur im Johannesevangelium beiträgt, unter rhetorischen Gesichtspunkten der damaligen Zeit. „Examining the Fourth Gospel’s use of Israel’s Scriptures through the lens of Graeco-Roman rhetoric offers a new way to approach the characterization of Jesus in this Gospel.”31 Hierfür geht sie grundlegend in zwei Schritten vor: Zunächst untersucht sie die Verwendung der Schriften innerhalb der Reden Jesu; anschließend analysiert sie deren Verwendung außerhalb der Reden Jesu, so etwa durch andere Figuren.32 Insgesamt geht Myers davon aus, dass der Evangelist ganz gezielt und rhetorisch bewusst das Alte Testament in seinem Evangelium zur Sprache bringt, um damit Jesus in bestimmter Art und Weise seinen damaligen Hörern zu präsentieren.33
In seinem Aufsatz zur Figurenanalyse im Johannesevangelium beschäftigt sich Zimmermann34 zunächst mit der Frage, was Figuren im Johannesevangelium sind, auf welchen Ebenen sich Figuren befinden und inwiefern zwischen Einzelfiguren und Figurengruppen zu unterscheiden ist.35 Anschließend untersucht er die Figur in Bezug zur Handlung und unterscheidet hier zwischen Hauptfiguren, Nebenfiguren und Randfiguren.36 In einem weiteren Schritt nennt Zimmermann einige Aspekte der Figurenpräsentation und gibt hierfür jeweils Beispiele aus dem Johannesevangelium. Hierbei unterteilt er in Figurenmerkmale und Charakterisierung, Figurenkonstellation und Figurenkonzeption. Unter Figurenmerkmale und Charakterisierung fallen bei Zimmermann verschieden Charaktermerkmale einer Figur wie ihr Name, ihre Herkunft, etc. „Charaktermerkmale von Figuren sind nicht nur durch Herkunfts- und Beinamen, sondern auch durch Gruppenzugehörigkeit […] oder qualifizierende Sätze über Verhaltensweisen gegeben und können ganz unterschiedliche Bereiche betreffen.“37 Darüber hinaus unterscheidet er zwischen einer direkten Präsentation einer Figur (Aussagen des Autors oder einer Erzählfigur) und einer indirekten Präsentation der Figur (das Handeln und Sprechen der Figur selbst).38 Zum Bereich der Figurenkonstellation zählen nach Zimmermann die Beziehung und das Verhältnis der Figuren untereinander, mögliche Kontrastfiguren und Dreieckskonstellationen innerhalb der Erzählung.39 Die Figurenkonzeption schließt die Figurenanalyse ab. „Hier werden unterschiedliche bisherige Beobachtungen zu einer Beurteilung zusammengeführt.“40 Dabei spielen u.a. die Perspektive der Figurendarstellung (der point of view), die Entwicklung einer Figur sowie ihre abschließende Beurteilung eine Rolle.41
2.3.1.2.2.2 Figurenanalyse im Matthäusevangelium
Die Figuren Petrus und Johannes der Täufer sowie die Figurengruppe der jüdischen Oberschicht im Matthäusevangelium werden von Anderson1 analysiert.2 Für ihre Figurenanalyse nimmt sie u.a. die Kategorien showing und telling auf und zählt zum letzteren u.a. die Bereiche Aussehen, sozialer Status, Persönlichkeitseigenschaften, die Umgebung der Figur, die Vergangenheit der Figur sowie die Beziehung zu anderen Figuren.3 Unter den Bereich des showing fallen bei ihr hingegen v.a. das Sprechen und Handeln einer Figur. Auch spielt die Beziehung der Figur zu Jesus bei ihrer Analyse eine Rolle.4 Auch übernimmt Anderson Forsters Unterteilung in flache und runde Charaktere sowie in statische und dynamische Charaktere.5 Anderson macht insgesamt deutlich, dass „all of these means of characterization or clues can involve repetition.”6 Die Wiederholung von Aussagen trägt ihrer Ansicht nach in hohem Maße dazu bei, das Bild, das sich der implizite Leser von der Figur macht, zu beeinflussen und zu formen.7 In der anschließenden Figurenanalyse betont sie daher v.a. die Wiederholungen, die in Bezug auf die Figur im Text gemacht werden und untersucht sie hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Funktion.8
Syreeni9 untersucht die Petrus-Figur im Matthäusevangelium anhand von drei unterschiedlichen Ebenen der Analyse.10 Zum einen unterscheidet sie die narrative Ebene, in der ein Erzähler einem Adressaten etwas mitteilt. Die Figur wird in diesem Bereich als Charakter verstanden.11 Zum anderen unterscheidet sie die symbolische Ebene, in der ein impliziter Autor und ein impliziter Leser agieren und die Figur als Symbol erscheint.12 Als drittes unterscheidet Syreeni die reale Ebene, in der die Figur eine reale Person ist und in der sich ein realer Autor sowie ein realer Leser befinden. Dabei kommt Syreeni letztlich zu dem Ergebnis, dass Petrus auf der narrativen Ebene ein Charakter im Matthäusevangelium ist, dem sowohl eine intratextuelle Bedeutung innerhalb des Evangeliums als auch eine intertextuelle Bedeutung in Beziehung zum Markusevangelium zukommt.13 Auf der symbolischen Ebene beschreibt Syreeni Petrus als „a symbol for ethical values, doctrinal options, social and religious commitments, party strifes, or the like”14. Schließlich macht Syreeni deutlich, dass Petrus auf der realen Ebene eine historische Person ist, die einen indirekten, aber dennoch nicht unerheblichen Beitrag zur matthäischen Darstellung des Petrus-Charakters leistet.15
In ihren naratologischen Studien zum Matthäusevangelium widmet sich Poplutz16 u.a. auch der Charakterisierung von Randfiguren.17 Dabei unterscheidet sie ebenfalls zwischen direkter und indirekter Charakterisierung.18 Zum Bereich der indirekten Charakterisierung zählt Poplutz die Handlungen der Figur, ihre Rede, ihr äußeres Erscheinungsbild sowie die dargestellte Umwelt der Figur.19 Darüber hinaus unterscheidet sie zwischen den beiden Begriffen Charakter und Typus.20 Als Charakter versteht sie eine Figur, „die individuelle Züge aufweist und über Merkmale verfügt, die man auch bei realen Personen wahrnehmen und notieren könnte.“21 Ein Typus besitzt dagegen keine ausgeprägten Charakterzüge, sondern verfügt über Merkmale und Qualitäten, die den Rezipienten bekannt sind und daher einen hohen Wiedererkennungswert und eine „Klischeehaftigkeit“22 aufweisen.23 Die Hauptfigur im Matthäusevangelium ist nach Poplutz eindeutig Jesus, die Nebenfiguren lassen sich in Familienangehörige Jesu, politische und religiöse Autoritäten, Jünger Jesu, Kranke und Andere einteilen.24 Entscheidend ist hierbei die Stellung der Nebenfiguren zu Jesus, die dadurch bestimmt wird, ob die Figur für oder gegen ihn ist, also ob es sich bei ihr um einen Adjuvanten oder einen Opponenten handelt.25 Das Ziel ihrer folgenden Figurenanalysen ist durch die Leitfrage bestimmt, „welche Funktionalisierung die Figuren haben und wie sie möglicherweise vorgängige Rollenzuweisungen durchbrechen.“26 Ihr Fazit im Hinblick auf diese Fragestellung lautet, dass im Matthäusevangelium fünf Figuren existieren (der Hauptmann von Karfarnaum in Mt 8,5–13; ein Schriftgelehrter in Mt 8,19f; eine kanaanäische Frau in Mt 15,21–28; die Frau des Pilatus in Mt 27,19; ein römischer Hauptmann und seine Soldaten in Mt 27,54), die als „Grenzgänger“27 bestimmte Rollenzuweisungen durchbrechen.28
2.3.1.2.2.3 Figurenanalyse im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte
Darr1 analysiert Figuren im Lukasevangelium und weitet dabei den naratologischen Ansatz historisch aus, indem er ein „reader-response (or pragmatic) model attuned to the Greco-Roman literary culture of the first century“2 verwendet. Dabei geht es ihm darum, den damaligen lukanischen Leser zu rekonstruieren und den Text (und die Charaktere) durch dessen Brille hindurch zu sehen.3 Darr vertritt die Ansicht, dass „sein“ Leser im späten ersten Jahrhundert im mediterranen Raum lebt, stark beeinflusst ist durch die kulturellen Normen seiner Zeit und seiner Umgebung. Er verfügt zudem über ein Basiswissen über historische, geographische, militärische und politische Angelegenheiten des Römischen Imperiums. Auch kennt er die großen Städte seiner Zeit, wie Athen und Jerusalem. „Sein“ Leser ist beheimatet in der griechisch-römischen Literatur, kennt auch jüdische Schriften, weiß aber noch nichts vom Markusevangelium sowie von den paulinischen Briefen und der Quelle Q. Über Jesus hat er sehr wahrscheinlich bereits etwas gehört.4 Der Text selbst fungiert bei Darr lediglich als ein „rhetorical framework“5, der dem Leser Hinweise darauf gibt, wie er verstanden werden will.6 Dies gilt nach Darr auch im Hinblick auf die Charaktere, da sich der Leser beim Lesen ein mentales Modell von der Figur macht. Figuren sind daher „personal images generated by text and by reader“7. Darr analysiert die Charaktere zunächst in ihrem Kontext. Hierzu zählt er die Aspekte plot, setting und other characters.8 Auch untersucht er sie hinsichtlich des Ablaufs und mit Rücksicht auf ihre kumultative Beschaffenheit. Sein Ziel formuliert er folgendermaßen: „The goal is not to arrive at a static conception of a character […], but rather to follow the reader’s successive construction and assessment of this character while reading the text”9.
In seiner Untersuchung zum „Dynamic Reading of the Holy Spirit in Luke-Acts“10 charakterisiert Hur im vierten Kapitel den Heiligen Geist in der Apostelgeschichte.11 Dafür macht er zunächst deutlich, dass die beiden grundlegenden Ansätze der textzentrierten12 und der leserzentrierten13 Charakterisierung keinesfalls einen Gegensatz bilden müssen, sondern sich ergänzen können.14 Anschließend gibt er einen Überblick über verschiedene Methoden der Figurenanalyse und fokussiert hierbei besonders die beiden Bereiche „character-classification“15 und „character-presentation“16. Er entscheidet sich schließlich in Anlehnung an Rimmon-Kenan für eine Methodik, die einerseits die Bereiche der direkten Definition17 und indirekten Präsentation18 einer Figur (hierzu zählt er das Sprechen und Handeln der Figur, aber auch ihr Aussehen und ihre Umgebung) umfasst.19 Andererseits bezieht er aber auch in Rückbezug auf Rimmon-Kenan den Aspekt der Analogie (Ähnlichkeit, Wiederholung, Vergleich und Kontrast) mit ein.20 Er betont den Analogie-Aspekt so stark, denn „through analogy, characterization is reinforced or further explained.“21 Im Folgenden führt er eine Figurenanalyse des Heiligen Geistes anhand der erwähnten Kategorien durch und kommt zu folgendem Ergebnis: „In short, the Holy Spirit is defined as an enigmatic divine character.“22 Genau wie Anderson weist Hur somit auf die Bedeutung von Analogien hin, weitete diese im Vergleich zu Anderson jedoch noch aus, indem er auch Kontraste und Ähnlichkeiten zwischen den Figuren in seine Untersuchung miteinbezieht.
Thompson23 untersucht die Kirche als narrative Größe in der Apostelgeschichte.24 Dabei bezieht er Griechisch-Römische Literatur als Vergleichs- und Bezugsgröße mit ein, denn „[I]n the study of Greco-Roman literature, one finds several general features or aspects of character depiction that become useful tools in the building and evaluation of characters through one’s reading of Acts”25. Im direkten Vergleich zur Charakterisierung von Figuren in der Griechisch-Römischen Literatur leitet Thompson somit fünf Analyseschritte für seine Charakterisierung der Kirche in der Apostelgeschichte ab: Zum einen unterscheidet Thompson zwischen direkter und indirekter Charakterisierung.26 Zur indirekten Charakterisierung zählt er die Handlung einer Figur, aber auch ihr Sprechen. Durch beides erhält der Leser Informationen über den Charakter und bildet sich seine Urteile.27 Zur direkten Charakterisierung zählt Thompson vor allem die Aussagen des Erzählers über eine Figur. So erfährt der Leser durch den Erzähler etwas über die Gedanken, Motive und Gefühle der Figur.28 Als dritten Analyseschritt benennt Thompson die Kategorisierung der Figurenbeschreibung. Demnach können die Charaktere bestimmten (sozialen) Kategorien oder Gruppen zugeordnet werden29 Darüber hinaus gilt es nach Thompson, die Summe der Bilder und Effekte hinsichtlich der Figur, die beim Leser durch den Leseprozess entsteht und die seine Beurteilung der Figur maßgeblich beeinflussen, zu untersuchen.30 Als letzten Analyseschritt nennt Thompson die Beziehung und Interaktion der Figur zu anderen Figuren.31 Durch den Vergleich mit anderen Charakteren treten seines Erachtens Ähnlichkeiten, Spannungen, Harmonien, Gegensätze und Konflikte stärker hervor, die letztlich dazu beitragen, das Bild des Lesers von der Figur in eine bestimmte Richtung zu lenken.
In ihrer narratologischen Studie zur Apostelgeschichte behandelt Eisen32 auch den Bereich der Analyse von Figuren.33 Dabei geht sie in drei Schritten vor: Zunächst widmet sie sich der Klassifizierung der Figuren, zeigt dann Techniken der Figurencharakterisierung auf und widmet sich abschließend den Figuren in der Apostelgeschichte. Zum Bereich der Klassifizierung von Figuren zählt zum einen die Frage nach dem Status der Figur. Hier arbeitet Eisen mit den drei Begriffen Haupt-, Neben-, und Hintergrundfigur.34 Darüber hinaus fragt Eisen nach der Komplexität der Figur.35 Dabei greift sie auf Forster Unterscheidung in flache und runde Charaktere zurück, macht aber zugleich deutlich, dass diese Kategorien „lediglich die Pole von Individualisierung und Typisierung, zwischen denen sich eine Skala mit vielen Zwischenformen befindet“36, bilden. Auch die Frage nach der Funktion der Figur zählt Eisen zum Bereich der Klassifizierung.37 Eisen schreibt den Figuren – in Anlehnung an Greimas und sein Aktantenmodell – sechs grundlegende Funktionen zu: 1. Protagonist 2. Sender 3. Empfänger 4. Objekt 5. Helfer 6. Gegner.38 Den letzten Teilbereich der Klassifizierung von Figuren bildet bei Eisen die Frage nach den Attributen der Figur. Im zweiten Schritt beschäftigt sich Eisen mit Techniken der Figurenanalyse und unterscheidet hier zum einen zwischen expliziter39 und impliziter Charakterisierung und zum anderen zwischen auktorialer und figuraler Charakterisierung. In einem dritten Schritt gibt sie einen kurzen Überblick über Forschungsbeiträge zur Figurenanalyse in der Apostelgeschichte.40 Eisen legt den Schwerpunkt bei ihrer Figurenanalyse somit ganz deutlich auf die Klassifizierung und Einteilung von Figuren und bezieht zudem noch die direkte und indirekte Charakterisierung mit ein.





