Seewölfe - Piraten der Weltmeere 24

- -
- 100%
- +
Der Profos wurde mitgerissen. Wellen schlugen über ihm zusammen, versuchten ihn zu verschlingen und ihn von seinem Halt loszureißen.
Carberry ließ nicht locker. Er kämpfte um sein Leben.
Mit unmenschlicher Anstrengung gelang es ihm, sich an Bord des Beibootes zu ziehen. Er hatte Unmengen von Wasser geschluckt. Seine Augen schmerzten höllisch. Als er aufblickte, sah er nur schemenhaft die Umrisse des breiten Hecks, das in dem aufgewühlten Meer auf und nieder tanzte.
Carberry schrie sich die Kehle heiser.
Irgend jemand mußte ihn doch hören!
Er sah den Schatten, der zur Heckgalerie hinabkletterte und wollte aufatmen. Aber dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock.
Dieser Schatten hatte ihn über die Reling gestoßen!
Wer war der Mann, der ihm nach dem Leben trachtete?
Zum erstenmal in seinem Leben spürte Edwin Carberry so etwas wie Angst in sich aufsteigen. Er sah, wie der Schatten sich zu der Stelle vorarbeitete, an der das Beiboot mit der Vorleine vertäut war.
Doughty! schoß es ihm durch den Kopf. Das mußte John Doughty sein!
Der Mann hatte die richtige Gelegenheit genutzt, sich dafür zu rächen, daß Carberry seinen Bruder geköpft und ihn selbst ausgepeitscht hatte!
Carberry schrie.
„Du verfluchter Hurensohn! Du Ausgeburt der Hölle! Du elendes Rübenschwein, laß deine dreckigen Pfoten von der Leine!“
Der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen.
Carberry kroch im Boot nach vorn und packte die Vorleine. Er zerrte daran. Die Muskelstränge auf seinen Oberarmen schienen zerreißen zu wollen. Stück um Stück zog er sich näher an den Heckspiegel der „Golden Hind“ heran, der Rettung für ihn bedeutete.
Carberrys Augen waren weit aufgerissen. Sie versuchten, das Dunkel zu durchdringen und den Schatten zu identifizieren, der jetzt auf der Heckgalerie hockte und an der Vorleine des Beibootes hantierte.
Er konnte nichts erkennen. Eine Welle schlug über ihm zusammen. Der fürchterliche Druck des Seiles ließ von einem Augenblick zu anderen nach. Carberry fiel zurück. Er stieß gegen die harte Kante einer Ducht. Der Schmerz schnitt durch seinen Rücken, und er dachte für einen Moment, sein Rückgrat wäre gebrochen.
Er schluckte Wasser und spuckte es wieder aus. Er merkte kaum, daß er sich dabei übergab. Die Schaukelbewegungen des Bootes hatten sich verdoppelt. Seine Hände krallten sich in der Ducht fest. Langsam zog er sich hoch.
Es war reiner Zufall, daß er das in der Dunkelheit hell schimmernde Focksegel der „Golden Hind“ noch einmal sah, bevor die Galeone von der Finsternis verschluckt wurde.
Ein wilder Schrei brach aus Carberrys Kehle. Er dachte nicht daran, daß es niemanden gab, der ihn hören konnte. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, bis ihn ein dichter Gischtschleier zum Schweigen brachte.
Wieder übergab er sich. Er würgte, obwohl er nichts mehr im Magen hatte. Der bittere Geschmack der Galle brachte ihn wieder zur Besinnung.
Er tastete sich vor und holte die Vorleine ein. Seine großen lederhäutigen Hände betasteten das Endes des Seils. Es gab keinen Zweifel. Es war nicht gebrochen. Jemand hatte es mit einem Messer durchtrennt.
Carberry schüttelte den Kopf. Er wollte nicht daran denken. Nicht jetzt. Er lebte, und solange noch ein Funken Leben in seinem Körper war, hatte er die verdammte Pflicht, um dieses Leben zu kämpfen.
Er band sich die Vorleine um den Leib und befestigte sie an Back- und Steuerbord an den Dollen. Das Boot tanzte wie eine Nußschale auf den immer stärker werdenden Wellen. Mit den Händen begann Carberry, das Wasser hinauszuschöpfen. Er arbeitete wie ein Verrückter. Nichts konnte ihn davon abbringen, mit aller Macht um sein Leben zu kämpfen, nachdem er sich erst einmal dazu entschlossen hatte.
Er merkte nicht, daß die ersten Sterne bereits am Himmel erschienen. Die Wolkenbänke waren nach Norden davongejagt und hatten einen blanken Himmel zurückgelassen. Noch tobte das Meer, aber nur selten schlug das Beiboot noch voll Wasser.
Als der erste graue Schimmer über der Kimm erschien, erwachte Carberry zu neuem Leben. Er hörte auf, Wasser zu schöpfen und ließ sich auf eine Ducht sinken. Seine schmerzenden und vom Salzwasser entzündeten Augen richteten sich auf den schmalen Streifen Lichtes, das den neuen Tag verkündete.
Der erste Sonnenstrahl entzündete in ihm einen Funken. Er atmete die scharfe, belebende Luft ein, die das Gewitter zurückgelassen hatte, und beugte sich hinunter, um die festgezurrten Riemen zu lösen.
Er war froh, daß er sie nicht während des Sturmes gelöst hatte. Vielleicht wären sie ihm weggerissen worden.
Er schob sie in die Dollen. Einen Moment lang überlegte er, ob er in dieselbe Richtung pullen sollte, in der die „Golden Hind“ verschwunden war. Aber dann verwarf er den Gedanken. Er wußte nicht, wie weit der Sturm sie von der peruanischen Küste fortgetrieben hatte. Auf alle Fälle war es besser, den Mittelweg zu wählen: nach Nordosten auf die Küste zu.
Carberry tauchte die Riemen ins Wasser und begann nach Nordosten zu pullen. Er sah die glutrote Sonne über der Kimm auftauchen. Noch wies sie ihm den Weg, doch bald schon würde sie der zweite grausame Feind nach dem unendlichen Meer sein, der Carberry nach dem Leben trachtete.
Mit unerschütterlicher Gewißheit glaubte Carberry daran, daß Francis Drake ihn suchen würde, wenn sich erst einmal herausstellte, daß sich der Profos nicht mehr an Bord der „Golden Hind“ befand.
Mit dem Sonnenaufgang waren die dunklen Gedanken an den Tod verschwunden. Fast hätte Carberry eins von den obszönen Liedern angestimmt, die er so oft mit seinen Kameraden in der Bloody Mary des alten Fettsackes Nathaniel Plymson gesungen hatte, doch die aufgewühlte See nahm seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch.
Immer wieder schaute er sich um, ob nicht schon irgendwo im Nordosten die Umrisse von Land an der Kimm auftauchten. In der Dunkelheit, die noch an der westlichen und nördlichen Kimm herrschte, war nichts zu erkennen.
Edwin Carberrys muskelbepackte Arme zogen unentwegt die Riemen durchs Wasser. Er wußte, daß er weiterpullen würde, bis sein Herz aufhören würde zu schlagen.
Der Rudergänger der „Golden Hind“ fluchte lautlos, als er das Schralen des Windes bemerkte. Die Galeone neigte sich nach Backbord. Er gab dem Ruder nach und ließ die Galeone abfallen. Mit einem Ohr lauschte er nach Backbord, wo Carberry stehen mußte. Gleich würde seine rauhe Stimme über Deck schallen und den Männern befehlen, die Schoten und Brassen zu bedienen, um das Focksegel wieder richtig an den Wind zu bringen.
Das Knattern des Segeltuchs riß den Mann aus seiner Lethargie.
„He, Profos!“ brüllte er. „Willst du uns in Teufels Küche bringen?“
Fast wäre er ausgerutscht und mit einem Fuß ins Koldergat abgeglitten.
Verdammt, pennte der Profos etwa? Der Rudergänger schüttelte den Kopf.
Nicht Carberry. Wenn der Wache hatte, war er überall, wo es etwas zu tun gab, und wenn alles in Ordnung wäre, hätte der Profos wahrscheinlich schon etwas unternommen, bevor der Rudergänger das Schralen des Windes bemerkt hätte.
„He, Deck! Ist da denn niemand?“
Er verrenkte sich fast den Hals. Er hörte das Schlagen einer Tür und schrie abermals, bis er das Gesicht von Thomas Moone über sich erkannte.
Moone hatte sofort bemerkt, was los war. Mit ein paar Befehlen jagte er die Fockgasten an die Brassen und Schoten und ließ die Segelstellung regeln. Dann erst wandte er sich wieder dem Rudergänger zu.
„Wo ist Carberry?“ fragte Moone.
Der Rudergänger hob die Schultern.
„Ich habe nach ihm gerufen, aber er hat sich nicht gemeldet“, sagte er.
„Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?“
Der Rudergänger überlegte.
„Seit fast drei Glas“, sagte er dann. „Ich dachte, weil ...“
Thomas Moone winkte ab. Er rief einem anderen Mann zu, sofort alle Mann an Deck zu holen.
Er ging auf die Tür zu, die zu den Kammern führte, als John Doughty erschien. Moone blieb stehen.
„Sie sind doch vorhin einmal längere Zeit auf dem Achterdeck gewesen, Sir“, sagte er zu Doughty. „Haben Sie da nicht den Profos gesehen?“
John Doughty warf den Kopf in den Nacken.
„Sie werden von mir nicht verlangen können, daß ich mich um solche Kreaturen kümmere, Mr. Moone“, erwiderte Doughty.
Thomas Moone verschränkte die Arme vor der Brust und hatte Mühe, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Der arrogante Bursche brachte ihn jedesmal so in Wut, daß er nahe daran war, sich zu vergessen.
„Sie sollten wissen, daß Mr. Carberry für dieses Schiff sehr viel wichtiger ist als Sie, Sir“, sagte er gepreßt.
Doughty schnappte nach Luft.
„Wie wagen Sie es, mit mir zu sprechen, Moone!“ rief er mit erregter Stimme.
„Sie werden mir ...“
„Was geht hier vor?“ Die ruhige Stimme von Francis Drake unterbrach ihn. Der Kapitän der „Golden Hind“ trat an John Doughty vorbei aufs Achterdeck und blieb zwischen Doughty und Moone stehen.
Thomas Moone warf noch einen kurzen Blick auf den eingebildeten Laffen, der einem Mann wie Edwin Carberry nicht das Wasser reichen konnte. Dann drehte er sein Gesicht Drake zu und sagte: „Mr. Carberry ist verschwunden, Sir. Der Rudergänger bemerkte es, weil die Wache keinen Befehl erhielt, die Schoten und Brassen zu bedienen.“
Francis Drake schüttelte den Kopf.
„Das gibt es doch nicht“, sagte er. „Lassen Sie das ganze Schiff durchsuchen, Mr. Moone. „Leise fügte er hinzu: „Halten Sie es für möglich, daß Carberry über Bord gegangen ist? Hat er vielleicht einen von den Ziegenschläuchen Wein ...“
Thomas Moone schüttelte den Kopf.
„Nicht, wenn er auf Wache war, Sir“, sagte er. „Carberry war immer ein Vorbild für die Mannschaft.“
„Bei diesen primitiven Menschen weiß man doch nie ...“, warf John Doughty ein, aber ein einziger Blick von Francis Drake brachte ihn zum Schweigen.
„Wenn Ihre Suche ergebnislos verläuft, gehen Sie auf Gegenkurs“, sagte Francis Drake zu Moone. „Und zwar so lange, bis wir morgen früh die Position haben, an der Carberry vermutlich über Bord ging.“
„Aye, aye, Sir“, sagte Thomas Moone.
Er riß den Kopf herum, als er einen Schrei von Steuerbord hörte.
„Das Beiboot ist verschwunden!“
Francis Drake und Thomas Moone eilten an die Reling. Tatsächlich, vom Beiboot war nichts mehr zu sehen. Moone schickte einen Mann auf die Heckgalerie, um nachzuprüfen, ob die Schleppleine vielleicht gerissen war. Doch es war nichts von der Leine zu sehen.
Francis Drake schüttelte den Kopf. Moone las in seinen Augen die Sorgen, die sich auf seinem Haupt häuften. Erst hatten sie den jungen Killigrew und seine Mannschaft abschreiben müssen, und jetzt war einer der besten Männer der Crew verschwunden. Sollte es ihnen vielleicht so ergehen wir dem Portugiesen Magalhaes bei der ersten Weltumseglung, als von seiner Mannschaft nach drei Jahren nur noch siebzehn Männer die Heimat wiedersahen?
Der Kapitän blieb auf dem Achterdeck. Er wollte das Ergebnis der Schiffsdurchsuchung abwarten.
Schon bald schwirrten die wildesten Gerüchte unter der Mannschaft. Mac Pellew war fleißig dabei, eins nach dem anderen in die Welt zu setzen.
„Carberry gehört zu den Kerlen, die nachts allein auf dem Südmeer spazierengehen. Ihr sollt mal sehen, wenn wir morgen wieder umkehren, latscht er uns entgegen und fragt uns, wo wir so lange geblieben sind.“
Patrick Evarts, der Segelmacher, scheuerte dem Koch eine, daß er gegen die Wanten krachte.
„Halt dein verdammtes Lästermaul“, sagte er grimmig, „oder ich werde dich ebenfalls über Bord schmeißen und zusehen, ob du auf dem Meer spazierengehst.“
Mac Pellew rieb sich die Wange. Er nahm den Schlag nicht übel. Er war es gewohnt, von der Mannschaft was einzustecken.
„Du meinst, man hat ihn über Bord geworfen?“ fragte er interessiert. „Weißt du auch, wer das getan hat?“
„Ooouuh!“ Evarts raufte sich die Haare. „Ich hab gar nichts behauptet!“ brüllte er. „Halt endlich deine Klappe, sonst wickel ich dich in Segeltuch und nagle dich hier unten in der Bilge fest!“
Mac Pellew rümpfte die Nase.
„Hast du das vielleicht mit Carberry auch ...“
Die anderen mußten Patrick Evarts festhalten, sonst hätte er tatsächlich das mit dem Koch angestellt, was er ihm angedroht hatte.
Sie suchten das Schiff dreimal gründlich ab, und als sie immer noch nichts gefunden hatten, gab Francis Drake den Befehl, auf Gegenkurs zu gehen.
Sie wußten alle, daß es in der stürmischen Nacht ein Ding der Unmöglichkeit war, Carberry in den tosenden Wellen zu finden. Sie hatten nur eine Chance. Sie mußten zurücksegeln und bei Tagesanbruch dort zu suchen beginnen, wo der Profos mit aller Wahrscheinlichkeit über Bord gegangen war.
Drake ließ die Mannschaft einen Tag suchen, denn er hatte an ihren Gesichtern abgelesen, daß sie es ihm sehr übelnehmen würde, wenn er nicht alles tat, um Carberry zu finden.
Doch dann waren auch die Hartnäckigsten davon überzeugt, daß sie Carberry höchstens in der Hölle wiedersehen würden. Niedergeschlagen gaben sie die Suche auf.
Die „Golden Hind“ ging auf Nordwestkurs und segelte ihrem Ziel Panama entgegen. Francis Drake schloß sich in seiner Kammer ein. Er mußte diesen zweiten Schlag erst einmal verdauen. Er wurde das Gefühl nicht los, daß an Bord der „Golden Hind“ ein unsichtbarer Feind saß, der dem Unternehmen Unglück brachte.
Carberry und bei der Wache über Bord gefallen?
Francis Drake schüttelte den Kopf. Das war undenkbar. Irgend etwas war geschehen, was er nie würde aufklären können.
Er dachte an die Männer, die ihm in der letzten Zeit Gesellschaft leisteten, und er erkannte, daß er sich in diesen Tagen so weit von seiner Mannschaft entfernt hatte, daß sie ihm schon fremd zu werden begann.
Drake beschloß in diesen Stunden, sich wieder mehr um sein Schiff und die Mannschaft zu kümmern. Er brauchte seine Seeleute für das Unternehmen weit mehr als die Abenteurer an Bord, die zwar amüsant plaudern konnten, aber mit grünlichem Gesicht und voller Hose dastanden, wenn es hart auf hart ging.
Er dachte zurück. Er hatte geglaubt, daß mit Thomas Doughtys Hinrichtung der Störenfried beseitigt worden sein. Er schien sich getäuscht zu haben.
Francis Drake stand auf und lief wie ein gefangenes Raubtier in seiner Kammer hin und her. Dann blieb er stehen und schlug die Faust auf den Schreibtisch.
Ja, er würde noch einmal hart durchgreifen, wenn sich herausstellte, daß es irgend jemanden gab, der es wagte, sein Unternehmen zu sabotieren.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.