- -
- 100%
- +
Längst war die Anfangseuphorie verflogen, zu viele Kameraden hatten ihr Leben verloren. Den Tränengasangriff der Franzosen hatte er mithilfe feuchter Tücher vor dem Gesicht überstanden und war nicht, wie einige seiner Mitstreiter, panisch aus den Gräben gesprungen, um dann brutal abgeschossen zu werden. Der französische Giftgasangriff war für die Deutschen eine wunderbare Begründung dafür, ihrerseits einen deutlich gefährlicheren Stoff, nämlich Chlorgas, einzusetzen. Alfred war das recht. Er wollte einfach nur weg hier. Von seiner Position aus konnte er beobachten, wie einige höhergestellte Kameraden Stahlflaschen mit dem Gas vorbereiteten. Es war mucksmäuschenstill. Der Gegner ahnte wohl, dass etwas bevorstand, und die deutschen Soldaten warteten gespannt auf die Wirkung der tödlichen Substanz. Die üblichen Feuergefechte waren jedenfalls eingestellt worden. Plötzlich sah man eine riesige gelblichweiße Gaswolke in Richtung der gegnerischen Gräben ziehen. In dem Moment, als sie den Feind erreichte, erschollen grauenhafte Schreie aus tausenden Kehlen. Männer stürzten aus den zur Falle gewordenen Gräben, in denen sich das Gas sammelte, rissen die Arme hoch, griffen sich an die Kehle und brachen zusammen. Ein grausiges Sterben hatte begonnen. Für Alfred und viele andere war jedoch dieser Moment wie Balsam für die geschundene Seele. Aber unerfahren und dumm, wie er war, blieb er nicht im Schutz des eigenen Grabens, sondern sprang mit einem Siegesgeheul heraus und feuerte mit dem Gewehr in die Luft. Die Befehle seines Hauptmanns, sofort zurückzukehren, hörte er nicht oder wollte er nicht hören. Für Alfred war der Krieg in diesem Augenblick vorbei, und das galt es zu feiern. Plötzlich nahm er vor sich Bewegungen wahr: Männer, die sich ihm in der einsetzenden Dämmerung mit dem Gewehr im Anschlag näherten. In diesem Augenblick passierten zwei Dinge: Ein weiterer Mann sprang auf ihn zu, brüllte: »Get down, immediately!«, und riss ihn von den Füßen. Gleichzeitig fielen zwei Schüsse, und Alfred verspürte einen fürchterlichen Schmerz in der linken Schulter. Einen Moment blieb er benommen liegen, nur undeutlich war ihm klar, dass der Engländer noch immer auf ihm lag. In der schnell einsetzenden Dunkelheit wurden beide in den englischen Graben gezogen und notversorgt. Sein Retter hatte eine Kugel ins Bein bekommen. Sie konnten gerade noch ihre Namen austauschen, dann wurden sie auch schon getrennt. Alfred kam in Kriegsgefangenschaft, sein Lebensretter, ein junger Soldat namens William Danning aus York, wurde vor Gericht gestellt und wegen »Feindsbegünstigung« zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.
Von Strelitz hatte sich mittlerweile auf eine Bank vor dem Münsteraner Hauptbahnhof gesetzt. Er schwitzte leicht trotz der noch winterlichen Temperaturen und zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, um sich das Gesicht trocken zu wischen. Außerdem spannte seine Uniform. Vielleicht war es doch nicht eine so gute Idee gewesen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er beobachtete ein paar Frauen, die über die Straße eilten. Die meisten waren einfach gekleidet, nur wenige hatten einen Hut auf. In der Hand trugen sie einen Korb mit den wichtigsten Dingen zum Überleben. Fast alle mussten den Gürtel zurzeit enger schnallen. Das ist so in Kriegszeiten, dachte Alfred. Die Frauen bewegten sich im Laufschritt. Man wusste von der Gefahr eines erneuten Bombenangriffs. Aber noch waren die Sirenen intakt. Die Warnung würde früh genug überall in der Stadt zu hören sein. Ein paar wenige Lkws brummten vorbei und hinterließen ihre stinkende Abgaswolke.
Inzwischen waren auch einige Dienstwagen der SS vorbeigefahren, und die ihm bekannten Offiziere hatten ungläubig geschaut, dass er da so alleine vor dem Bahnhof auf einer Bank saß. Er meinte, bei manchen ein spöttisches Lachen bemerkt zu haben. Ihn interessierte das nicht.
Bis heute war ihm schleierhaft, warum William ihm damals das Leben gerettet hatte. Oft hatten sie in den 20er-Jahren bei diversen Besuchen darüber diskutiert, aber verstanden hatte Alfred es trotzdem nicht. Diese Art der Selbstlosigkeit war ihm zutiefst fremd. Sie waren Freunde geworden. Einmal, weil sie dieses einschneidende Erlebnis in Belgien verband, aber auch, weil sie eine gemeinsame Leidenschaft pflegten: Beide hatten nach dem Krieg Kunstgeschichte studiert. Keiner von ihnen hatte ein besonderes Talent für eigene Gemälde, aber beide liebten die Bilder der Renaissance und der Impressionisten.
6. Kapitel
Im Norden Dortmunds, Juli, 2019
Die Kuchenberge waren geschrumpft, der Kaffee war ausgetrunken. Wie in Westfalen üblich, war man zu einer Runde guten westfälischen Korns übergegangen, zumal eine der ältesten und größten Kornbrennereien hier ganz in der Nähe ansässig war. Entsprechend gab es einen Krämer Doppelkorn.
»Du musst jetzt sehr tapfer sein«, flüsterte Sabine Raster zu.
»Warum?«, fragte dieser zurück.
»Es beginnen die Festtagsreden. Das kann dauern.«
Raster schluckte und machte der jungen Kellnerin ein Zeichen, das Pinnchen noch einmal zu füllen. Eigentlich stand er überhaupt nicht auf Hochprozentiges, aber irgendwie musste das ja überlebt werden.
Als Erster kam Pfarrer Hilgenstock an die Reihe. Seine Ansprache war erstaunlich prägnant und kurz. Allerdings ließ er es sich nicht nehmen, mit einem spitzbübischen Lächeln darauf hinzuweisen, dass er Oma Lina, wie er sie nannte, gerne etwas öfter in der Messe sehen würde. Ansonsten hob er das hohe Alter und die herausragende Gesundheit der Jubilarin hervor und verband das selbstverständlich mit einem kurzen Dankgebet, das von den Anwesenden teilweise inbrünstig, teilweise peinlich berührt mitgetragen wurde.
Raster fiel auf, dass der Pfarrer in dieses Dankgebet auch die vielen Wohltätigkeiten einschloss, die die Familie des Geburtstagskindes für die Gemeinde geleistet habe. Er sagte jedoch zunächst nichts dazu.
Als Nächstes durfte Onkel Günter das Wort ergreifen. Seine Rede war deutlich länger, und Raster verspürte schon nach wenigen Minuten einen unsäglichen Drang, dem Korn erneut zuzusprechen. Wobei ihm ein Glas Bier viel lieber gewesen wäre. »Ich muss mal auf die Toilette«, raunte er Sabine zu. »Wo finde ich die denn?«
»Kannst du nicht noch ein bisschen warten? Jetzt kommt der Bürgermeister. Dann zeig ich dir alles.«
Raster rollte mit den Augen, ergab sich aber in sein Schicksal. Eigentlich musste er ja auch gar nicht. Letztlich war er jedoch froh, die Ansprache des Oberhaupts von Dortmund-Brechten nicht verpasst zu haben. Es wurde interessant: Fleischhauer lobte Lina Funda über den grünen Klee für ihr Engagement beim Bau des Kindergartens, der Grundschule, des Sportplatzes und so weiter. Und das sogar gegen den Widerstand ihres verstorbenen Gatten – Gott habe ihn selig. Diese Wohltätigkeiten hätten ja schon mit ihrem Vater, dem alten von Strelitz, begonnen, ohne den es Holthausen und Brechten in ihrer jetzigen Form wahrscheinlich gar nicht geben würde.
Raster kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. »Dann bist du ja eine richtig gute Partie. Ich wusste gar nicht, dass deine Familie so reich ist«, flüsterte er ein wenig verwaschen.
»Sch. Sei still! Ich will weiter zuhören.«
Da sähe man mal wieder, dass auch aus der dunkelsten Vergangenheit Gutes entstehen kann, endete gerade Bürgermeister Fleischhauer seine wirklich schöne Rede und prostete Lina zu. Alle Gäste erhoben ihre Gläser, und ein vielstimmiges Hoch-soll-sie-leben schallte über die Wiese, und die angrenzenden Koppeln.
»So richtig freut sich deine Oma aber nicht über diese tolle Ansprache«, sagte Raster.
Lina war auf ihren Stuhl gesunken und wirkte plötzlich kleiner als vorher. Gedankenverloren schaute sie auf ihren leeren Teller und schien gar nicht zu bemerken, dass Onkel Günter begeistert auf sie einredete.
»Raster, bitte! Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dir das später erklären möchte. Nicht jetzt.« Sabine stand auf und verabschiedete sich von den Freunden aus dem Dorf, die aufbrechen wollten.
Die übrige Gesellschaft nutzte die freien Plätze, sich neu zu gruppieren, und Raster landete neben Cousine Barbara, mit der er ein angeregtes Gespräch über IT-Anwendungen führen konnte, da auch sie in der Branche tätig war. Die kleine Ungereimtheit hatte er schon bald wieder vergessen.
Sabine spielte mit Hanna, den beiden Mädchen und Max Krocket, und die übrige Familie hatte sich im kleineren Kreis zusammengesetzt und plauderte über dies und das. Die Mädchen wurden schließlich zu ihrer versprochenen Reitrunde abgeholt, und nach und nach wurden die ersten Jacken für die Damen herausgebracht. Es wurde kühler, und der Abend brach langsam an. Barbara entschuldigte sich bei Raster, sie hätte versprochen, bei den Vorbereitungen für das Abendessen zu helfen.
Einen Moment genoss es Raster, allein das mittlerweile ruhigere Treiben auf dem Rasen beobachten zu können. Verliebt schaute er Sabine zu, wie sie Max half, die Kugel durch ein schwieriges Doppeltor zu schlagen. Wie lange hatte er vergeblich darauf gewartet. Über 20 Jahre wohnten sie mit Philo zusammen in der WG in Dortmund. Alles hatte er versucht, Sabines Herz zu erobern. Mit Romantik, was ihm mehr schlecht als recht gelungen war, mit Coolness, was schon eher sein Ding war, aber so überhaupt nicht Sabines. Er hatte sein Leben für sie riskiert, als er damals nur für sie nach Afrika gereist war, um ihr die Augen zu öffnen. Er hatte sie mit seinem Körper vor einem drohenden Schuss geschützt. Aber all das hatte ihr Herz nicht für ihn geöffnet. Und was war es dann letztendlich gewesen? Raster musste unwillkürlich laut lachen, als er daran zurückdachte, und zog einige irritierte Blicke auf sich. Sein Geruch war es. Sein ihm ganz eigener Geruch. Plötzlich stimmte die Chemie. Alles war klar. Und was das Besondere war: Diese 20 Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, waren ja nicht verloren. Nein, sie konnten darauf aufbauen. Sabine und er kannten sich so gut wie kaum ein anderes Paar, das frisch zusammen war.
Wie gut, dass Philo auch endlich seine Liebe gefunden hat, dachte er. Raster wusste, was für ein großes Paket sein Freund mit sich herumschleppte. Eine zutiefst traumatisierende Kindheit, bevor er mit seinen Eltern nach Dortmund gezogen war, hätte ihn ohne Weiteres in eine endgültige Einsamkeit werfen können. Zumindest was eine Partnerschaft anging. Aber in Susanne hatte er eine tolle junge Frau gefunden, die ihn genau da annahm, wo er war und wo er herkam.
Als Raster in seinen Gedanken bei diesem Punkt angekommen war, bemerkte er, dass sich Cousin Gernot aus dem Kreis der Verwandten erhoben hatte und sich suchend umblickte. Sein Blick fiel auf den allein Sitzenden, und schon machte er sich auf den Weg. Auf dem vom Kaffeegeschirr befreiten Tisch standen mittlerweile einige Gläser mit frisch gezapftem Bier. Gernot schnappte sich zwei und setzte sich mit einem schiefen Grinsen neben Raster. »Na, du siehst aus, als könntest du auch eins gebrauchen. Ich bin Gernot. Ein Vetter von Sabine. Und du bist also Raster. Hat Sabine doch noch einen abgekriegt.« Er lachte. »Nichts für ungut. Aber in unserer Familie war man eigentlich davon ausgegangen, dass Sabine für immer und ewig ein Mauerblümchen bleibt.« Gernot hielt Raster seine rechte Hand hin, die dieser etwas widerwillig schüttelte.
»Hallo, Gernot. Ja, da bin ich wohl für deine Familie zum Blumenpflücker avanciert.«
Gernot runzelte die Stirn. Man sah ihm deutlich an, dass er keinen Schimmer hatte, wovon Raster sprach. »Was machst du so beruflich?«, fragte er stattdessen.
»Ich bin in der IT-Branche tätig«, antwortete Raster kurz und musterte Gernot. Sein Kleidungsstil war tatsächlich dem seinen von früher nicht unähnlich. Nicht verdreckt, aber ungebügelt und lodelig, wie Sabine sagen würde. Er war unrasiert und, seinen Haaren zufolge, auch ungeduscht, was Raster an diesem speziellen Tag doch etwas merkwürdig fand. »Und du bist zurzeit in einer Art Selbstfindungsphase?«, fragte er sein Gegenüber.
Gernots Blick hellte sich auf, und seine Körperspannung nahm deutlich zu. »Ja, kann man so sagen. Ich stehe kurz vor der Selbstständigkeit.«
»Oh!«, heuchelte Raster Interesse. »Was hast du für Pläne? Erzähl!«
»Verschiedenes. Insbesondere aber will ich in Immobilien machen. Du musst wissen: Hier, im Norden Dortmunds bis rüber nach Dülmen, wo ich zurzeit wohne, gibt es einen unglaublichen Bedarf an hochwertigen Eigenheimen. Die Gegend ist ungemein beliebt. Du brauchst nur hier und da ein wenig Land von den Bauern abzwacken, und schon kannst du Millionen machen.«
»Aber braucht man dazu nicht ein gewisses Eigenkapital?«
»Na ja. Schon. Aber mal unter uns. Sieh dich doch um. Siehst du hier etwas anderes als brach herumliegendes Kapital? Wenn ich daran denke, was dieser Pfarrer und der Bürgermeister vorhin geschwafelt haben. All diese Spenden und Wohltätigkeiten.« Gernot zog das Wort zynisch in die Länge. »Alles Verschwendung, sag ich dir. Richtig investiert, kannst du mit dem Schotter meiner Familie ein Vermögen machen.«
»Und du meinst, dass du an dieses Vermögen deiner Großmutter einfach so rankommst?«, fragte Raster unschuldig.
»Vielleicht nicht sofort. Aber über kurz oder lang wird sich da schon was machen lassen.« Gernots Blick wurde misstrauisch. »Du glaubst mir nicht, oder?«
Raster lachte. »Doch. Wenn du das so sagst, wird es schon stimmen. Aber weißt du, mir ist Geld so dermaßen egal. Ich bin, glaube ich, der falsche Gesprächspartner für dieses Thema. Mach du mal dein Ding. Ach, übrigens, das Abendessen scheint fertig zu sein. Barbara winkt uns rein.«
Gernot wirkte ein wenig beleidigt, als ihn Raster allein zurückließ, sprang dann aber auf und folgte ihm ins Haus, wo sich die meisten Gäste im Wohnzimmer versammelt hatten und einen Cocktail oder einen Aperitif in der Hand hielten. Mittlerweile hatte sich der Gutsverwalter Fritz dazugesellt, der mit Oma Lina in ein angeregtes Gespräch vertieft war. Raster beobachtete den alten Mann mit seinem dunklen etwas altmodischen Anzug, den braunen, für den Anlass recht groben Halbschuhen und dem weißen Haarkranz. Auffallend war sein verschmitztes Lachen, das immer wieder aufblitzte, sowie seine schnellen Augenbewegungen. Trotz des intensiven Gesprächs, das er führte, schien er alles um sich herum aufmerksam zu beobachten.
7. Kapitel
Münster, Februar 1944
Er hatte mehrere Möglichkeiten: Entweder er ging nach Hause zu seiner Familie und verschob den Brief auf später oder er verdrückte sich in die Nische einer einsamen Gastwirtschaft, wo er in Ruhe lesen konnte, riskierte damit aber Ärger mit Ruth. Er entschied sich für die zweite Lösung. Noch länger warten konnte er einfach nicht.
Ein paar Straßen weiter Richtung Südosten kannte er eine kleine Spelunke, die für seine Zwecke gerade richtig war. Sie wurde so gut wie nie von Angehörigen der SS oder der Gauleitung besucht. Außerdem wusste Alfred, dass es dort einen Ecktisch gab, der in genau so einer Nische stand, wie er sich das vorstellte, und die ihn vor neugierigen Blicken schützen würde.
Der Tisch war frei. Er bestellte ein Bier und während er wartete, wanderten seine Gedanken zurück zu jener Zeit, als William und er ihre Geheimsprache entwickelten.
Das Ganze hatte mit einem Planspiel angefangen. Sie saßen in York in Williams Lieblingspub, hatten schon so manches Pint geleert und philosophierten über die Weltgeschichte. Hierbei benutzten sie alle möglichen Gegenstände auf ihrem Tisch, um Länder, Armeen und Grenzen darzustellen. Es war ein wüstes Hin- und Hergeschiebe von Gläsern, Salzfässchen, Tellern und Besteck. Immer öfter brachen sie in schallendes Gelächter aus, wenn sich zum Beispiel ein zierlicher Kaffeelöffel namens Belgien gegen den schweren Bierkrug Deutschland auflehnte. Schließlich hielt Alfred inne und wurde ernst.
»Wie wäre es, wenn wir aus diesem Spiel einen Code entwickeln würden, den nur wir verstehen? Wir sind uns doch beide darüber einig, dass es schon bald wieder Krieg geben wird.«
William nickte zustimmend. Die wirtschaftliche und politische Situation Ende der 20er-Jahre in Europa, vor allem aber in Deutschland, legte nichts anderes nahe.
»Wenn das wirklich so sein sollte, wird nämlich ein Kontakt für uns schwierig. Reisen werden unterbunden, selbst Briefeschreiben kann gefährlich werden«, fuhr Alfred fort. William hörte aufmerksam zu. »Wir könnten – ähnlich wie hier unsere Sachen auf dem Tisch – alle wichtigen Länder Europas und der Welt mit unverfänglichen Namen belegen.«
»Ja. Das ist gut. Und zwar, wenn ich englische Namen schreibe, wenn du deutsche schreibst.« William war Feuer und Flamme. »Nur. Was machen wir mit dem Inhalt? Es darf ja keiner verstehen, was wir eigentlich sagen wollen.«
»Wir schreiben einfach das Umgekehrte von dem, was wir meinen. Ein Beispiel: Du willst mir schreiben, dass Deutschland Russland angreifen will. Dann könnte das in etwa lauten: August hat sich unsterblich in Lenchen verliebt.«
»Weil August für Deutschland und Lenchen für Russland steht. Tolle Idee!«, begeisterte sich Alfred.
Und so ging es noch Stunden weiter, bis sie eine Familie entwickelt hatten, deren Mitglieder für alle entscheidenden Länder standen und jeweils einen deutschen und einen englischen Namen trugen. Außerdem legten sie noch einige Verben und Attribute fest, mit deren Hilfe sie das Gemeinte besser verdeutlichen konnten. Nur das mit der Sinnumkehrung ließen sie wieder unter den Tisch fallen.
»Ist das aber nicht reichlich unkonkret?«, fragte schließlich William seinen Freund. »Wir können uns so überhaupt nichts Persönliches mitteilen.«
»Das ist doch gerade das Fantastische«, antwortete Albert. »Der Code ist so ungenau und auch immer wieder anders, dass er nie geknackt werden kann.«
Vor sechs Jahren hatte der letzte Briefwechsel auf diese Art stattgefunden. Damals hatten sie sich über mögliche Angriffsziele Nazideutschlands ausgetauscht. Es war aber beiden deutlich geworden, dass Alfreds Parteizugehörigkeit bei aller bestehenden Freundschaft doch zwischen ihnen stand. Und jetzt lag ein weiterer dieser Briefe vor ihm auf dem schmierigen Holztisch in der schummrigen Kneipe. Daneben ein Glas lauwarmes Bier. Alfred fischte sich einen Zigarettenstummel aus der Innentasche seiner Uniformjacke, den er sich eigentlich für nach dem Abendessen hatte aufsparen wollen, und zündete ihn an. Dann endlich zog er das Papier aus dem geöffneten Umschlag und begann zu lesen.
Lieber Alfred,
so lange haben wir nichts mehr voneinander gehört. Ich hoffe inbrünstig, dass es dir gut geht.
Ich muss dir einiges, teilweise Erschütterndes aus meiner Familie erzählen, da du ja immer so viel Anteil nimmst. Dafür bin ich dir sehr dankbar.
Du erinnerst dich daran, als wir uns das erste Mal gesehen haben. Damals ging es ja bald mit Onkel John zu Ende. Ich weiß noch, wie traurig du warst. Vielleicht kannst du dich auch an John junior erinnern? Stell dir vor, dem geht es genauso schlecht. Dieselbe Krankheit, und wahrscheinlich wartet derselbe Tod auf ihn. Manche in meiner Familie haben es ja kommen sehen. So sagte Tante Jane zu mir: Junge, warte ab. Dem kleinen John wird es wie dem alten gehen. Woher sie das nur wissen konnte?
So, wie es aussieht, wird wohl Lewis zu John über die Themse fahren, wo er zurzeit bei Agatha wohnt. Aber ich denke, dann wird bald alles vorbei sein.
Ach, was ich dir noch sagen wollte: Tante Jane ist ja wirklich gut im Weissagen von Dingen. Sie lässt dir ausrichten, dass du unbedingt warme Sachen für dich und deine Familie besorgen sollst. Es soll ein extrem kalter Winter auf uns zukommen.
So viel erst einmal von mir. Denk an uns!
In tiefer Freundschaft,
Dein William
Geschockt legte Alfred von Strelitz den Briefbogen auf den Tisch zurück. Die Aussage des Schreibens war so einfach wie prägnant, sodass er nicht lange über den Sinn rätseln musste:
Deutschland würde, wie schon den ersten, auch diesen Krieg verlieren. Und das in absehbarer Zeit durch eine Invasion der Amerikaner über den Ärmelkanal in Frankreich. Außerdem ermahnte ihn William, etwas für sich und seine Familie zurückzulegen, da schwere Zeiten anbrechen würden.
Na dann prost, dachte Alfred und bestellte sich ein weiteres Bier und gleich einen doppelten Korn dazu.
8. Kapitel
England, Frühjahr 2017
Es war eine Sache, eine Bank auszurauben. Fünf große Sporttaschen mit Diebesgut quer durch Englands Süden zu transportieren, eine andere. Paul hatte das Problem mit seinem Lieblingshehler Nathan Weissman diskutiert. Schließlich waren sie übereingekommen, dass Paul zur Probe eine Tasche packen und den Rest fotografieren sollte. Die übrigen Sachen verstaute er in mehreren Schließfächern in Brighton und machte sich eine Woche nach dem Überfall mit seinem Wagen auf den Weg Richtung Norden. Drei Stunden später stellte er erleichtert fest, dass Nathan vorsorglich das schmale Tor neben seinem Antiquariat in der Linton Road im Londoner Stadtteil Bermondsey offengelassen hatte. Paul steuerte sofort den Wagen hindurch, parkte in dem engen Hinterhof und schloss das Tor wieder. Er war froh, dass er auf diese Weise nicht von neugierigen Nachbarn auf der Straße gesehen werden konnte.
Früher gehörte diese Gegend zu den Schmuddelecken der Stadt. Heute waren die Häuser renoviert oder neu gebaut, und es hatte sich eine äußerst attraktive Wohn- und Arbeitsgegend für die Mittelschicht etabliert. Nathans altertümlicher Laden wirkte daher etwas deplatziert, wurde aber von vielen Kunden landesweit hoch geschätzt. Hier fand man Sachen, die sonst nur schwer zu beschaffen waren. Die Preise waren human, und um die Herkunft der diversen Schmuck- und Antikgegenstände machte sich seine Kundschaft keine Gedanken. Die Polizei war des Öfteren in Nathans Etablissement aufgetaucht, da es immer wieder Hinweise auf Diebesgut gegeben hatte, doch erstaunlicherweise konnte nie ein einziges Stück gefunden werden, das aus dubiosen Quellen stammte. Und das lag hauptsächlich an der hervorragenden Vernetzung Nathans mit der örtlichen und sogar der Metropolitan Police, der er hin und wieder Hinweise auf wirklich böse Jungs gegeben hatte.
Sein Alter war für Paul ein Rätsel. Seit Jahren unverändert: klein und dürr mit einem minimalen Rundrücken, der ihn immer etwas unterwürfig erscheinen ließ. Dazu ein permanentes wissendes Lächeln in den hellen, wachen Augen. Paul schätzte ihn auf 65 bis 80 Jahren, was so viel hieß wie, er wusste es einfach nicht.
»Na, dann komm mal rein, junger Mann«, begrüßte ihn Nathan freundlich. »Wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen. Wie geht es dir? Hab von der Sache im Süden gehört. Nicht schlecht, nicht schlecht.« Auch das gehörte zu den angenehmen Seiten des alten Mannes. Er sprach nie Worte aus, die in irgendeiner Weise verfänglich werden konnten. Der Name »Worthing« zum Beispiel. Die Stadt, in der der Raub stattgefunden hatte, musste nicht erwähnt werden. Wozu auch? Beide wussten genau, wovon Nathan sprach. Nicht, dass er Angst vor Wanzen hatte. Aber unnötige Risiken sollten vermieden werden, war einer seiner oft wiederholten Leitsprüche.
Sie befanden sich in einer Art Werkstatt im hinteren Teil des Geschäftes. An den Wänden und in den Regalen hingen und lagen alle möglichen Werkzeuge, deren Funktionen sich Paul nicht erschlossen. In der Mitte stand ein großer alter Holztisch, der normalerweise voll mit zu reparierenden Gegenständen, jetzt aber leer geräumt war.
»Na, dann zeig mal, was du Schönes mitgebracht hast.« Erwartungsvoll rieb sich Nathan die Hände.
Paul packte die Sachen, von denen er hoffte, eine repräsentative Wahl ausgesucht zu haben, auf den Tisch. Daneben legte er die Fotos der restlichen Beute und die gestohlenen Dokumente.
Nathans Augen wurden immer größer und größer, und plötzlich sprang er wie Rumpelstilzchen auf einem Bein um den Tisch herum und jauchzte wie ein kleines Kind. »Eieiei!«, rief er ein ums andere Mal. »A bisl un a bisl vert a fule shisl! Das hat sich ja wirklich gelohnt.«
»Was hast du da gerade gesagt?«, fragte Paul, der kein Wort verstanden hatte.
»Ach, das war nur so ein jiddisches Sprichwort. Heißt so viel wie: Ein Bisschen und ein Bisschen ergibt eine volle Schüssel.«
»Aha.«
Ohne den Blick vom Tisch abzuwenden, meinte er: »Nimm dir einen Kaffee, Paul. Steht in der Küche und ist noch einigermaßen frisch. Mach dir keine Gedanken wegen des Ladens. Der ist geschlossen. Wir sind ungestört. Hab Geduld. Das wird dauern.«






