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wie Gott im »Unterfrankenreich«!
Der Start in die Freiheit war also geglückt, zumal ich meinen Eltern glaubhaft plausibel machen konnte, dass ich zwecks konzentrierten Lernens unbedingt eine eigene Studentenbude in Uni-Nähe benötigte, um nicht dauernd zwischen Aschaffenburg und Würzburg hinund herpendeln zu müssen. Die Miete für mein neues Zuhause habe ich mir an einigen Abenden in der Woche, gelegentlich auch am Wochenende, in dem Weinspital zusammengekellnert, das wir auch heute noch, bei Wochenendtrips nach Würzburg, so gerne aufsuchen, um bei erlesenen Tropfen in ausgewählten gemeinsamen Erinnerungen zu schwelgen.
Tja, »in vino veritas« – und was war die Wahrheit, meine Wahrheit? Morgens ausschlafen, gemütlich frühstücken, ab 11.00 Uhr Vorlesungen, Mittagspause im Café, selten in der Mensa, dann erneut Kurse, Seminare, Vorlesungen, bis spätestens 17.00 Uhr, dann neue Bekanntschaften knüpfen, mit Freunden trinken bis es »neblig« wird, und nach der Traumfrau Ausschau halten. Diesbezüglich herrschte leider Dauernebel, und das während der gesamten Studienzeit! Übrigens nicht nur in der theologischen Fakultät, was man fälschlicherweise womöglich noch für einleuchtend hätte halten können.
Nein, auch bei den Germanistinnen traf man eher auf unterkühlte Walküren als auf heiße sexy-Sirenen oder feurige Amazonen. Hätte ich im Paris des 19. Jahrhunderts studiert, wäre ich in meiner Verzweiflung ins »Maxim« geflüchtet, zu Lolo und Froufrou – Nora gab’s da leider noch nicht!
Ich aber war im Würzburg des 20.Jahrhunderts und – studierte deshalb brav weiter. Allerdings betrachtete ich mittlerweile diese gleichmäßig dahinplätschernde Studienzeit nur als längeren »Boxenstopp« in dem Rennen meines Lebens!
Ich glaubte weder an ein zölibatäres Priesterleben als Berufungs- und Lebensziel noch an den Deutsch- und Religionslehrer Nick Marchant. Und da ich nach dem erfolgreich bestandenen 1. Staatsexamen auf diesem für mich beruflich monotonen Rundkurs keine weitere Runde mehr drehen wollte, habe ich im Jahre 1983, also vor Beginn des Referendariats, eine regelrechte Vollbremsung hingelegt!
Als überraschendes »Bremsmittel« fungierte dabei ein Plakat des Klosters Marienfelde im Schaukasten der theologischen Fakultät, welches mir seinerzeit, direkt nach dem mündlichen Examen, beim Verlassen des Gebäudes ins Auge gefallen war: »Ora et labora – eine Woche der Sinnfindung«.
Sinnfindung – genau das war ja immer noch mein Problem!
Die Suche nach der Traumfrau und auch das Beten darum hatte ich übrigens schon seit längerem aufgegeben, und so suchte ich eines frostigen Wintertages im März, ohne große Hoffnung auf Sinnfindung, dafür aber mit meinem Lieblingsroman: »Mordsache ‚dünner Mann’« im Gepäck, Zuflucht hinter den dicken Klostermauern von Marienfelde.
War gar nicht so leicht, dorthin zu finden. Ich musste mehrere Anläufe unternehmen und kam mir vor wie die Hauptperson in einem Roman von Kafka.
Aber dann war’s endlich geschafft. Nun flugs aufs Zimmer, noch etwas frisch gemacht und die Klamotten gewechselt – und dann zur ersten von gefühlten tausend Vorstellungsrunden.
Mein Gott, in was für eine »Trauergemeinde« war ich denn da geraten: Schwarz dominierte dermaßen, dass man glauben konnte, der Raum sei abgedunkelt worden. Echt »kafkaesk«!
Ich war so ziemlich der Einzige, der modisch auf helle, freundliche Farben gesetzt hatte und mich nun, wie ich befürchtete, in der Außenseiterrolle wiederfand.
Doch dann geschah das Wunder von Marienfelde, und zwar exklusiv für mich: Eine bildschöne junge Frau, ganz in Weiß, mit strahlenden Augen und geheimnisvollem Lächeln, betrat den Seminarraum und »swingte« zum letzten freien Platz, genau mir gegenüber. »Das muss eine moderne Marien-Erscheinung sein«, schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf, doch es sollte noch viel besser für mich kommen. Erstens war dieses bezaubernde, engelgleiche, mit natürlichem Charme nur so um sich sprühende Wesen völlig real und, dem Himmel sei Dank, aus Fleisch und Blut!
Und zweitens, das hat mich dann echt vom Stuhl gehauen, hieß dieser Wirklichkeit gewordene Traum von einer Frau doch tatsächlich: NORA!!! Welch ein Wahnsinn!
Weißt du noch, wie der Kursleiter, Pater Anselm, mich sorgenvoll fragte, ob es mir nicht gut gehe, weil ich vom Stuhl gekippt war? Mann, um nicht zu sagen: Mönch, war das peinlich! Ich erwiderte dann, mir sei »schwarz« vor Augen geworden (erschien mir logisch bei der tristen Teilnehmerschar!), es gehe aber schon wieder besser.
Was für eine Untertreibung! Es ging mir sogar bestens, so wie noch nie in meinem Leben! Ich hatte meine Traumfrau gefunden, und das zu einem Zeitpunkt, als ich mich bereits mit einem in Mode kommenden Single-Dasein abgefunden hatte!
Ach Nora, was waren das für herrliche Tage und Nächte, die dann folgten, zumal das Thema Sinnfindung nun für uns beide keines mehr war. Nick und Nora hatten ihren Sinn des Lebens gefunden! Nun lautete unser ganz persönliches Kurs-Motto:
»Ora et labora – mit Nick und Nora«!
Wir arbeiteten zusammen, wir beteten zusammen und genossen unsere Zweisamkeit, am liebsten in Einsamkeit.
Wie haben wir gelacht, als du den »Dünner Mann«- Roman auf meinem Bett erblickt hattest und wir uns dann gegenseitig als Nick und Nora Charles-Fans »outeten«.
Mein Gott Nora – was für eine Übereinstimmung zwischen uns!
Ich weiß noch, wie du mir eines Morgens, in aller Herrgottsfrühe, in der Klosterkapelle während des Laudes-Gebetes zugeflüstert hast: »Nick, du bist mein Amor.« Ich entgegnete dir dann ungefähr einen Psalm später:
»Und du süße Nora, bist meine Aurora, meine Morgenröte!«
Es war uns dann aber mehr nach Sonnenfinsternis zumute, als der Tag des Abschieds kam. Wie haben wir da zusammen geheult! Schon abends zuvor im Weinkeller – »nomen est omen« – brachen sich die ersten Tränen Bahn. Das waren die bisher schrecklichsten Stunden meines Lebens. Es wundert mich noch heute, dass ich auf der Rückfahrt nach Würzburg keinen Unfall gebaut habe – es war der reinste Höllenritt!
Nach der unvermeidbar letzten Umarmung und dem viel zu früh endenden Abschiedskuss habe ich dir zum Trost noch ein kleines Gedicht geschenkt. Ich hatte es tags zuvor verfasst, während des Küchendienstes, den Schwester Maria mir dankenswerterweise für die Zeit meiner kreativen Schaffenspause abnahm. Das Gedicht lautet:
»Amora«
Nick ist Amor, und Nora ist Aurora
Und wenn beide verschmelzen
Dann sind sie: »Amora«!
Heute hängt dieses Mini-Poem, dessen Titel auch unserem zweiten Zuhause in München den Namen gab, hübsch eingerahmt über unserem gemeinsamen Schreibtisch im Arbeitszimmer.
Nachdem ich – aus dem Paradies vertrieben – wieder in der kalten Wirklichkeit Würzburgs angekommen und doch nicht angekommen war(in Gedanken war ich ja bei dir!), begann für mich die Zeit des Fegefeuers:
Ich musste die Trennung von Dir verkraften und zudem die bohrenden Fragen meiner Eltern bezüglich meiner zukünftigen Lebens- und Berufsplanung über mich ergehen lassen. Was mich irgendwie am Leben hielt und immer wieder aufrichtete, waren weniger die tröstenden Worte der Krankenschwestern in der Quarantänestation des Würzburger Uniklinikums, als ich, wie du ja sorgenvoll mitbekommen hast, mit einer schweren Grippe zu kämpfen hatte. Nein, es waren vielmehr deine erotisch angehauchten Liebesbriefe, die meinen Selbsterhaltungstrieb reanimierten – übrigens: nicht nur den!
Kaum wieder auf den Beinen, nahm ich zunächst meine Kellnertätigkeit wieder auf, und zwar ganztags. Nebenher jedoch bewarb ich mich in München um einen Job im schreibenden Gewerbe: Redaktionen, Verlage, Werbeagenturen waren meine Adressaten. Den Rest kennst du ja: Nach exakt einem Vorstellungsgespräch bekam ich die Chance, bei einer renommierten Werbeagentur als Juniortexter zu debütieren. Was so vielversprechend begonnen hatte, fand tatsächlich sein »Happy End«. Die hässliche Hochhaussiedlung, in der wir nun wohnten, konnte einen zwar in tiefe Depressionen stürzen, aber nicht uns beide. Wir waren überglücklich, endlich vereint zu sein – Nick und Nora in »Amora«!
Bussi,
dein Nick
P.S.: Bin gespannt auf deinen nächsten Brief!
Amora, den 22.11.2010
Geliebter Nick,
ich habe mich echt gefreut, wie ein Schnitzel in der Pfanne, als ich die erste Hauspost von dir bekam.
Danke auch für deinen süßen Gruß. Ich fürchte, bei mir beschwert die verführerische Marzipanpraline eher den Hüftspeck als den Brief. Ich muss zugeben, ich habe heute kalorienmäßig schon gesündigt. Du weißt, ich hatte mein monatliches Frauentreffen. Diesmal waren wir bei Mona eingeladen und die backt immer so superleckere Kuchen, da kann ich einfach nicht widerstehen. Heike hat uns wieder den ganzen Nachmittag von ihrem »Ex« vorgejammert, einfach schrecklich der Typ. Also wenn ich diesen ganzen Beziehungsstress der anderen so höre, ist es mir fast peinlich, dass wir nach über 25 Jahren noch so glücklich wie am ersten Tag miteinander sind. Wir hatten aber auch einige Klippen zu umschiffen, bis wir endlich im Hafen der Ehe vor Anker gehen durften.
Ich konnte mir damals bildlich vorstellen, wie deinen Eltern buchstäblich die Kinnlade heruntergeklappt ist, als sie realisieren mussten, dass aus ihrem geliebten Sohn weder ein Priester – tja, eine Privataudienz beim Papst, das wäre was gewesen – noch ein Lehrer am Gymnasium werden würde.
Was für ein Teufel war nur in dich gefahren, dass du ihren Wunschvorstellungen so eine Abfuhr erteiltest?
Ein windiger »Schreiberling« ist doch nichts wert, damit kann man als Eltern nicht viel Staat machen, und dazu noch eine Schwiegertochter – das war der reinste Staatsbankrott!
Kein Wunder, dass dich dieser Stress flachgelegt hat und du dir eine Auszeit im Krankenhaus nehmen musstest. Du hast es sicher nur der Fürsprache deiner schrulligen, aber liebenswerten Tante Hella zu verdanken, dass deine Eltern dich damals nicht enterbten.
Meine Erzeuger haben auch nicht gerade die große Lobes- und Dankeshymne angestimmt, als ich ihnen meine Zukunftspläne mitteilte. Zuerst waren sie noch euphorisch, als ich, die verlorene Tochter, mit Sack und Pack wieder vor ihrer Haustüre stand, aber dann ging es mit den Schimpftiraden auch schon los. Sätze, wie »Und dafür haben wir dich all die Jahre studieren lassen«, wobei sie mich doch förmlich zum Studium gedrängt hatten, musste ich mir ständig anhören. Beliebt war auch:»Du hättest doch besser Theologie studieren sollen, Pastoralreferentin wäre der ideale Beruf für dich gewesen!« Diesen Spruch hatten sie drauf, seitdem ich in unserer Pfarrgemeinde für drei Jahre die Kinder- und Jugendgruppe geleitet hatte und während dieser Zeit auch noch im Pfarrgemeinderat vertreten war.
Auch mit der Wahl meines zukünftigen Ehemanns hatten sie ihre Probleme. Warum warst du kein berühmter Arzt oder wenigstens ein anerkannter Staatsanwalt? Der einzige Trost für sie war, dass ihre Tochter keine alte Jungfer werden würde und sie so vielleicht in den Genuss einiger Enkelkinder kommen könnten.
Unsere Hochzeit hatten wir ursprünglich als Traumhochzeit à la Lady Di und Prinz Charles geplant, schließlich sind wir füreinander auch Prinz und Prinzessin. Wie im Märchen träumten wir von einer 8-spännigen weißen Kutsche, einem diamantbesetzten Brautkleid mit 10 Meter langer Schleppe, mindestens sechs kleinen süßen Brautmädchen, einem Meer von weißen und roten Rosen und einem prächtigen Schloss, in dem die Feier stattfinden sollte.
In der Realität hätte dies allerdings nicht so recht zu unserem Kloster Marienfelde und Pater Anselm gepasst.
So haben wir uns entschieden, im kleinsten Kreis, also nur mit Pater Anselm und Schwester Maria als Trauzeugin – die hilfsbereite Nonne aus der Küche – in der wunderbaren Klosterkapelle zu heiraten.
Unsere Eltern und die übrige »bucklige Verwandtschaft« wollten wir, nach all dem Zirkus, am schönsten Tag unseres Lebens nicht dabei haben.
Wir haben sie mit dem Versprechen vertröstet, irgendwann mal eine kleine Nachfeier zu veranstalten.
Die Trauungszeremonie wird uns wohl ewig in Erinnerung bleiben. Vor Aufregung hast du mich mehrmals hintereinander »Aurora« genannt, so dass Pater Anselm ganz verwirrt seinen Notizzettel noch mal von vorne bis hinten nach dem richtigen Namen durchgeforstet hat.
Beim Austausch der Ringe hatte ich so zittrige Hände, dass mir dein Ring auf den Boden gefallen ist. Er hüpfte mit einem »Kling« auf und davon.
Schwester Maria hat sich aufopfernd auf die Suche gemacht und ist auf allen vieren durch die Kapelle gerutscht.
Unter der Kniebank der hintersten Reihe hat sie ihn dann endlich erwischt.
Wir sind dabei am Altar fast an unserem unterdrückten Lachen erstickt. Glücklicherweise hat unsere liebe Trauzeugin nichts davon mitbekommen, jedenfalls hat sie beim Schluss-Segen richtig herzzerreißend geweint und uns anschließend, als wären wir ihre eigenen Kinder, schluchzend an ihre voluminöse Brust gedrückt.
Nach einer champagnerseligen, wundervollen Hochzeitsnacht in einem nahegelegenen Romantikhotel sind wir am nächsten Tag, mit kurzem Zwischenstopp zu Hause, in die Flitterwochen gestartet. Dies sollte unsere erste gemeinsame Tour werden – hoffentlich keine Tortur!
Als Ziel hatten wir uns, wie könnte es auch anders sein, Paris, die Stadt der Liebe, ausgesucht. Mangels Kleingeld, und weil so eine lange Fahrt auch viel abwechslungsreicher ist, fuhren wir mit der Bahn. Was sind schon neun Stunden in einem schwankenden, stickigen, völlig überfüllten Zugabteil mit unbequemen Sitzen, nach Knoblauch stinkenden oder schnarchenden Mitreisenden und kreischenden Kindern, wenn man frisch verliebt ist.
In der französischen Hauptstadt angekommen, fühlten wir uns, als wären wir in 80 Tagen um die Welt gereist. Die Fahrt mit dem Taxi zum Hotel war das nächste Highlight. Ich weiß noch, dass wir schon nach einem Zettel kramten, um unser Testament zu machen, aber dann sind wir, welch ein Wunder, doch unfallfrei vor unserem Quartier gelandet.
Das gebuchte Hotelzimmer hatte zwar die Größe einer Sardinenbüchse, und das Bett war so klein wie ein Kinderbett, doch was macht das schon, wenn man sich auf Hochzeitsreise befindet.
Abgesehen von der schäbigen Unterkunft war unser Aufenthalt in Paris einfach traumhaft. Du denkst sicher auch noch gerne daran zurück. Tagsüber haben wir uns die Schuhsohlen durchgelaufen, von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Ich weiß schon gar nicht mehr, was wir alles gesehen haben. Du wolltest jedenfalls unbedingt auf den Eiffelturm hinauffahren. Wir haben uns stundenlang in der Schlange an der Kasse angestellt, und als wir endlich an der Reihe waren, bist du plötzlich ganz bleich geworden, denn dein Portemonnaie war restlos leer.
Du hast der Dame im Kassenhäuschen irgendwas von einem Überfall erzählt und gefragt, ob denn ein frisch vermähltes Paar nicht ein paar Freikarten bekommen könnte. Dein umwerfender Charme, oder lag es doch eher an deinem Schulfranzösisch, hat bei dem »alten Drachen« jedenfalls keinen Eindruck gemacht.
Die Ursache für die Ebbe in deinem Geldbeutel war natürlich nicht ein Diebstahl, sondern mein ausgiebiger Einkaufsbummel im berühmten »Lafayette«. Du hattest schon Blasen an den Füßen und deshalb in einer netten Sofa-Ecke Zuflucht gesucht, während ich die Schätze des Konsumtempels inspizierte. An dem todschicken Seidentuch mit »Paris-Motiv« konnte ich einfach nicht vorübergehen, und die ausgeflippte Krawatte war wie für dich gemacht.
Leider war ich im Kopfrechnen noch nie so gut und die Preise doch ziemlich gesalzen. Die Verkäuferin war sogar so lieb, mir ein paar Francs nachzulassen. Ich hab ihr erzählt, die Krawatte wäre mein Hochzeitsgeschenk für dich, sonst hätte ich noch Schulden machen müssen.
Nach einer »Beichte« meinerseits und einem dicken Versöhnungskuss haben wir uns dann auf den Weg zurück ins Hotel gemacht, um unser Geld aufzufüllen und die erworbenen Souvenirs in Sicherheit zu bringen.
Beim zweiten Anlauf Richtung Eiffelturm hat uns dann das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht. Als wir zwei Tage später wieder vor dem Kassenhäuschen standen, ging ein richtiger Wolkenbruch hernieder und wir flüchteten uns ins nächste Café. Wir haben dann ein paar Fotos vom berühmtesten Turm Frankreichs gemacht und uns vorgenommen, irgendwann mal wieder herzukommen und die Fahrt nach »oben« nachzuholen.
Die Nächte in Paris waren immer besonders schön. Wir saßen in romantischen Bistros, schlürften herrlichen Rotwein, naschten französische Spezialitäten und genossen ausgiebig das einmalige Flair dieser Weltstadt. Den absoluten Höhepunkt unserer Reise sollten wir jedoch am letzten Abend erleben – bei einem Besuch im weltberühmten »Moulin Rouge«!
Dank deiner lieben Tante Hella, die zur Hochzeit einen großzügigen Scheck geschickt hatte, konnten wir uns diesen Luxus leisten. Es war ein einmaliges, unvergessliches Erlebnis. Wir fühlten uns wie in die dreißiger Jahre zurückversetzt und waren in Gedanken vereint mit Nick und Nora Charles. Voller Vorfreude auf ein atemberaubendes, spritzig-erotisches Bühnenspektakel betraten wir den prachtvollen, im Stil der Belle Epoque ausstaffierten und in warmes Rot getauchten Cabaret-Saal und nahmen an dem uns zugewiesenen Tisch Platz. Die Kellner waren im Frack und bedienten uns sehr zuvorkommend mit einer Verbeugung.
Wir schwelgten gerade in einer anderen Sphäre, da huschte etwas an meinem Bein vorbei unter unseren Tisch. Ich traute meinen Augen kaum, es war eine ausgewachsene graue Maus.
Ich konnte nicht mehr an mich halten und stieß einen spitzen Schrei aus, der jeder Theaterdiva würdig gewesen wäre.
Die Gäste um uns herum sahen mich entsetzt an, und die Kellner liefen alle gleichzeitig herbei. Ein Glück, dass mein Französisch etwas holprig klang und somit nicht das ganze Publikum den Grund meiner Aufregung verstand.
Du hast erst mal mich, dann die aufgescheuchten Kellner sowie den herbeigeeilten Manager beruhigt. In deiner coolen, lässigen Art hast du dann sehr erfolgreich mit den Herren verhandelt. Wir wurden zum besten Tisch mit direktem Blick zur Bühne gebeten, bekamen eine exquisite Flasche Champagner, das aktuelle Programmheft und ein hübsches Opernglas gratis. Was so eine kleine Maus alles bewirken kann. Wir mussten uns beherrschen, nicht lauthals loszulachen, und hatten für den Rest des Abends ein seliges Grinsen im Gesicht!
Mit uns war es eben von Anfang an nicht eintönig. Ich bin mal gespannt, welche Anekdoten du noch von unseren Flitterwochen gespeichert hast. So, nun muss ich aufhören. Wie du weißt, beginnt in einer halben Stunde mein Gymnastikkurs. Ich wollte eigentlich schwänzen, aber nach der Kuchenschlacht heute Nachmittag muss ich dringend was für meine Figur tun. Ich liebe dich!
Bussi,
deine Nora
Amora, den 24.11.2010
Geliebte Nora,
»waahouw« – was für ein Empfang, dabei war ich doch nur für einen Tag in Stuttgart! Erst die herzliche Begrüßung samt inniger Umarmung an der Haustür und anschließend dieses köstliche Abendessen auf italienische Art: Minestrone, Tagliatelle al salmone und zum Dessert Tiramisu.
»Mille grazie, Liebling, ich bin dir echt dankbar!«
Gemüsesuppe, Lachsnudeln und kalorienfreundlicher Nachtisch waren allererste Sahne. Kompliment an den Pizza-Service! Sollten wir den nicht auch an Weihnachten einschalten?
Aber damit nicht genug – »getoppt« wurde dieser muntere Mix gelungener Überraschungen noch durch einen wahren Augenschmaus, nämlich deinen bezaubernden Brief, den ich gerade mit optischem Heißhunger verschlungen habe!
Visuelle Übelkeit hingegen verursachte mir während meiner Geschäftsreise der Stuttgarter Hauptbahnhof – der sieht vielleicht runtergekommen aus. Ich fürchte, wenn kein Wunder geschieht, wird er wohl bald ganz unter der Erde liegen.
Bereits jetzt schon »unterirdisch« war in der Schwabenmetropole allerdings das Mittagessen, zu dem mich meine Auftraggeber eingeladen hatten: Man hätte die »Maultaschen in der Brühe« besser umbenennen sollen in »klumpig-kleines Inselpaar im großen Salzsee«! Zurück in die Küche damit! Selbst meine Stuttgarter Geschäftspartner machten mit diesem Teller-Gericht kurzen Prozess und verweigerten die Nahrungsaufnahme.
Dafür nahmen die Herren mit großer Zustimmung die von unserer Agentur erstellte Imagebroschüre über ihr Unternehmen auf – und das mit leerem Magen!
Ebenfalls mit leerem Magen, zugleich aber vollauf zufrieden, trat ich per Bahn die Heimreise an und freute mich schon auf ein paar »Wienerle« im Bordbistro.
Wie ein Schlag in den hohlen Bauch und ohne jede Vorwarnung traf mich daher die abrupte LautsprecherDurchsage, dass sich in diesem Zug heute ausnahmsweise kein Bistro befindet.
Jetzt weißt du auch, warum ich mich eben mit solchem Heißhunger aufs italienische Abendmahl gestürzt habe!
Und dann, quasi als Sahnehäubchen, noch dieser süße Brief, der sogar das gehaltvolle Tiramisu um Längen übertrifft!
Apropos Tiramisu – habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass dies auch ein Lieblingsdessert von Tante Hella ist? Schon allein beim Anblick solch einer Süßspeise ist sie wie von Sinnen und vergisst völlig ihren Cholesterinspiegel!
Die gute Tante Hella »us Kölle« – ohne sie und ihren kölschen Humor wäre das Verhältnis zu meinen Eltern wohl endgültig in die Brüche gegangen. »Jeder Jeck es anders«, lautete das Motto, mit dem sie erste Schlichtungsversuche zwischen ihnen und mir unternahm.
Hinzu kam der segensreiche Vorschlag, sie sollten doch eine Wallfahrt unternehmen, um für mein Lebensglück zu beten, aber vor allem auch um die Einsicht, mich endlich loszulassen und den Weg, den ich beruflich und privat einschlagen wollte, ohne Wenn und Aber zu akzeptieren.
Und so fuhren meine Eltern tatsächlich los: nach Lourdes!
Die Reise war von der Pfarrgemeinde aus organisiert worden und fand genau zu dem Zeitpunkt statt, als wir beide uns nach Marienfelde aufmachten, um zu heiraten!
Nun begann also endlich unser Hochzeits-Abenteuer, mit dem Titel: »Trausache dünner Mönch«!
Pater Anselm war in der Tat sehr hager und obendrein über zwei Meter lang. Ich glaube, der konnte bei klarer Sicht von Marienfelde aus die Zugspitze sehen!
Ich weiß noch, wie sehr er sich freute, als wir ihn einige Wochen zuvor besucht hatten, um ihn zu fragen, ob er uns trauen wolle. »Wenn ihr euch traut, dann trau ich euch!«, hat er in seiner humorvollen Art geantwortet.
Mein Gott, was war ich vor der Trauung nervös! Während du dich in dein hinreißendes Brautkleid zwängtest und gedankenverloren: »Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß« summtest, bin ich fluchtartig aus dem Zimmer gestürmt, durch endlos lange Gänge geschwirrt und zielsicher an der Hotelbar gelandet, um meinen Bienenschwarm von Gedanken halbwegs im Korb, ich meine im Zaum zu halten!
Und weil ich an meinem Hochzeitstag nicht geizig sein wollte, habe ich rasch zwei doppelte »Scotch« runtergekippt, einen für mich und stellvertretend einen für dich. Nun hatte ich Ruhe im Kopf und Swing in den Hüften. Leicht, locker und beschwingt – nein, nicht beschwipst! – habe ich dich zum Trau-Altar in die romantische Klosterkapelle geleitet, wo Pater Anselm uns bereits mit strahlendem Lächeln erwartete. Selbst die Sonne strahlte an diesem Tag und blinzelte uns durch die schmalen Kirchenfenster zu – besonders mich schien sie zu mögen!
Was die Trauzeremonie selbst anbelangt, so verlief eigentlich alles wie erwartet – chaotisch eben!
Warum musste die »liebe Sonne« mich auch so penetrant und unliebsam angrienen? Dauernd kam mir das »Amora«-Gedicht in den Sinn, und so habe ich unsinnigerweise mehrmals hintereinander beim Trauspruch »Aurora« statt Nora geflüstert. Armer Pater Anselm! »Mea culpa, mea culpa …«!
Meine whiskygeschwängerten Gedanken hatten sich während des Trau-Ritus ebenso verselbstständigt, wie, einige Minuten später, der Ehering, den du mir hättest anstecken sollen und der sich nun ein schattiges Plätzchen in der hintersten Reihe suchte. Nur gut, dass wir in einer Kapelle und nicht in einem kilometerlangen Dom heirateten!
Mühsam fing unsere Trauzeugin, gelobt seist du Maria, den kleinen Ausreißer wieder ein, so dass wir dann alle nach dem abschließenden Segen, je nach Gefühlslage, entweder froh und erleichtert oder ergriffenschluchzend »Oh happy day« anstimmen konnten.