- -
- 100%
- +
Sie waren Engel. Sie beide waren Engel, die im Augenblick in den Himmel über Berlin sahen, obgleich dieser Himmel sich in einer Hitze entlud, die für sie zu viel schien.
Sie wusste, dass auch er es wusste. Ein Engel geworden zu sein.
Einige Zeit nach der Öffnung des Reichstages ebbte der Strom der Besucher merklich ab. Jenny war von den Menschen abgelenkt, die sie nicht sahen, vor und hinter ihr liefen oder durch sie hindurchgingen. So war es ihr entgangen, dass Rocco sie eine ganze Weile mit einer nachdenklichen Miene ansah. Denn mit einer fast lakonischen Selbstverständlichkeit hatte er die keinen Abstand zu ihm haltenden Menschen um sich ertragen, offenbar war er so jemand, der immer aushielt oder oft hatte einfach aushalten müssen. »Du hast mich gerettet«, sagte er sich ihr nähernd und verstummte abrupt. »So habe ich es nicht sagen wollen.« Er ruderte hilflos mit seinen Armen. »Du hast mich gerettet«, korrigierte er seine Betonung und lachte unsicher. »Ich kann deine Sprache sprechen, aber jedes Wort hört sich falsch an!«
»Vielleicht sprichst du ja eigentlich deine Sprache, aber weil du in Deutschland bist, klingst du wie ich«, schlug Jenny zur Güte vor. Dann wich sie von ihm ein Stück zurück und hielt sich die Nase zu, als er ihr zu nah gekommen war. »Du musst duschen und brauchst neue Sachen. Du stinkst wie ein Iltis!« Sie lächelte ihn entschuldigend an, eine Beleidigung lag ihr fern, aber er hatte sie verstanden.
Indem sie sich vom Dach abwandten, verabschiedeten sie sich vom Himmel über Berlin, um in die Welt der Menschen einzutauchen, die ihr doch so sehr bekannt zu sein schien. Den Weg nach unten nahmen sie über das Treppenhaus. Jenny hatte im Handumdrehen die Initiative ergriffen, zog Rocco mit sich. Gerade erst hatte sie herausgefunden, ein Engel zu sein, zumindest hatte sie das so für sich geschlossen. Zuvor war sie eine Tote, was sie in gleichem Maß befremdete wie ihr Engeldasein, war sie doch bislang die einzige Tote gewesen, die sie kannte, bis Rocco aufgetaucht war, der offenbar wie sie ein Toter war. Je mehr sich die Erkenntnis in ihr langsam, Stück für Stück, verbreitete, ein anderes Wesen geworden zu sein, desto wackeliger fühlte sie sich den Menschen gegenüber. Die Menschen, vermutete sie, waren Menschen geblieben, aber sie, sie war nun anders. Etwas anders, ganz anders? Jenny wusste es nicht. Ihre Hand griff nach dem Geländer.
Auf den Stufen nach unten unterwegs betastete sie ihren Arm. Sie untersuchte ihn, um herauszufinden, ob sie überhaupt noch einen Körper hatte, den man anfassen konnte, da es Menschen ja offenbar nicht möglich war. Oder war etwa alles an ihr nicht nur durchsichtig, sondern komplett ungegenständlich? War sie schlicht ein Schleier, der in einer körperähnlichen Form lebte? Oder eine glibberige Masse, wobei sie der Gedanke ekelte, die Konsistenz einer Qualle zu haben. Sie befühlte ihren Arm. Sie sah die Haut ihres Arms und spürte die Knochen ihres Unterarms. Obwohl es ein wenig eklig war bei seinem Gestank, übermannte sie die Neugier und sie fasste nach Roccos Arm. Sie war erleichtert, dass sie seinen Arm deutlich ertastete, und hatte darüber vergessen, dass sie ihn ja bereits berührt hatte, als sie ihn von der Kante gezogen hatte. Sie lächelte ein wenig, denn sein Arm fühlte sich unglaublich kräftig an, ein muskelbepackter Arm, wie sie ihn zuvor weder gesehen noch gefühlt hatte. Er löste ein Gefühl in ihr aus. Das Gefühl war seltsam, weil es alles in ihr aufwühlte. In diesem Moment, in dem Menschen ihr fremd geworden waren und ihr Begleiter ohne sein Zutun sie für einen kurzen Moment im Treppenhaus schwindelig werden ließ, empfand sie alles um sich herum als zu viel. Derzeit und für einige Zeit war es das Sicherste, sich diese neue Welt einfach anzusehen, Beobachter zu sein. Diesen erstaunlichen Mann neben sich eingeschlossen. Bis sie mehr Klarheit hatte, mehr verstand.
Sie sah zu Rocco herüber. Seine Mimik strahlte Ruhe und Selbstsicherheit aus, doch seine Augen flackerten. War das Angst oder zumindest Unsicherheit? ›Was Wunder‹, dachte Jenny, sich in seine Lage versetzend, in einem völlig fremden Land und dann in diesem Moloch Berlin gelandet zu sein. Wobei er Berlin ja noch gar nicht kannte.
Jenny war erleichtert, nicht nur ein konturloses schleierhaftes Wesen geworden zu sein, das dahinschwebte. Vielleicht war es ja ein Geschenk, ein Engel zu sein. Sie war neugierig, zu was Engel fähig waren und was sie brauchten. Mussten Engel essen? Konnten sie fliegen? Waren sie in der Lage, mit Menschen zu sprechen, oder nur miteinander? Und …, sie warf Rocco einen Seitenblick zu in der Hoffnung, dass er ihre Gedanken nicht hörte, hatten Engel die Fähigkeit, Engel zu küssen? Wäre es möglich, dass Engel ja sogar Sex hatten!? Sie sah Rocco genauer an, aber in seinem augenblicklichen äußeren Zustand wollte sie es dann doch nicht so genau wissen. Außerdem fühlte sich dieser Gedanke fremd an wie noch nie erlebt. Möglicherweise hatten Engel noch ganz andere Fähigkeiten, von denen sie als Mensch keine Ahnung hatte. Es könnte spannend werden, fand sie.
Genau in diesem Moment erinnerte sich Jenny an etwas aus ihrer Zeit als Mensch. Es gab keinen genauen Zusammenhang, nur Bruchstücke. Sie sah in ihrer Erinnerung jemanden, der etwas vortrug, mehr ein Schatten als ein Mensch – nicht zu erkennen. Einzelne Bilder hatte sie vor Augen. Vielleicht ein Kurs in einer Schule. Fast wäre sie gestolpert, weil ihre Füße unachtsam die Stufen nicht mehr trafen, und sofort ergriff ihre Hand instinktiv den Lauf des Geländers – ohne hindurchzugleiten. Verletzte sich ein Engel, wenn er fiel? Vorhin hatte sie sich ja nichts getan. Sie grinste. ›Gefallener Engel‹, schoss ihr für einen Moment durch den Kopf. Doch der Gedanke war ein loses Ende, der in einem erinnerten Klassenzimmer wie auf einen Puffer lief. Ein Referat zu einem Film über Engel, im Fach Kunst oder einer ›AG Film‹? Preisgekrönt war der Film gewesen. Irgendetwas im Titel mit ›Himmel‹ und ›Berlin.‹ Zwei männliche Engel. Sie hatte ein paar Schnipsel vor Augen, in Schwarz-Weiß, zwei beobachtende Engel waren es gewesen, ja! Genau hier in Berlin. Wie sie. Nur – und das gaben die Bilder und die wenigen Tonsequenzen in ihrem Kopf her, ohne jede Körperlichkeit.
Sie blickte wieder Rocco an. Und wie körperlich er war! Seine Füße trafen jede Stufe genau in der Mitte. Aber er sah traurig aus. Er sah nur auf die Stufen. Seine Haltung war aufrecht, doch sein Blick jämmerlich, ohne zu jammern!
Sie brauchten neue Bekleidung für ihn und vorher eine Dusche. Wenn Engel einen Körper hatten und Stufen berührten, mussten sie doch auch duschen, oder? Sie konnte eine Dusche gebrauchen; sie sah auf ihre Finger, die sie weit von ihrer Hand abspreizte. Jenny war sich nicht sicher, wie es mit der Körperpflege bei Engeln so war, aber sie würde es herausfinden. Sie war eben eine Anfängerin als Engel. Obwohl sie innerlich nach diesen Entdeckungen zitterte, umspann sich um ihren Mund ein zartes Lächeln.
Sie waren am Ende des Treppenhauses im Erdgeschoss angekommen, eine schwere Metalltür bewachte den Zugang zur menschenüberfüllten Fläche. Da würden sie wieder sein, die vielen Menschen, die zu beobachten so seltsam war. Sie fröstelte ein wenig – ihre Unsicherheit. Aber im gleichen Moment eine Freude darauf, mit den Leben realer Menschen in Kontakt zu kommen, um zu spiegeln, wer sie selbst, Jenny, nun geworden war.
Handyamputation und Identitätskrisen
Ich muss mich waschen«, sagte Rocco mit seiner dunklen Stimme, als sie im Erdgeschoss des Reichstages angekommen waren.
»Es ist ein Reihenfolgeproblem«, erwiderte Jenny mit einer folgerichtigen Präzision, als ob sie über eine mathematische Aufgabe nachgedacht hätte. So kam es ihr auch wirklich vor. Als ob das Letzte, was sie damals getan hatte, das Lösen einer mathematischen Aufgabe gewesen wäre.
Auf dem Weg nach draußen gingen sie einfach durch Schlangen von Besuchern des Reichstages hindurch. Wenn sie schon ein Engel geworden war und nicht mehr Mensch sein durfte, war diese Eigenschaft zumindest sehr vorteilhaft. Nirgendwo mehr anstehen. Nur durchgehen. Klappte das immer? Mit einem Fetzen ihres Gedankens erinnerte sie sich an die steinerne Stele. Die Berührung hatte ein wenig weh getan.
»Reihenfolgeproblem?« Sie unterhielten sich inmitten der Menschen munter und niemand bekam davon etwas mit, keiner schien sie zu hören.
»Du kannst dich nicht waschen und dann wieder in diese Sachen springen. Wir brauchen erst eine Jeans und ein Shirt oder so etwas für dich. Dann kannst du dich waschen und die neuen Sachen anziehen«, erläuterte Jenny ihre Überlegung.
»Ah«, machte er. Solch profane Fragestellungen hatte immer seine Frau für ihn beantwortet und dann unternommen, was nötig war.
»Könnte ich mal Ihr Handy benutzen?«, fragte Jenny einen jungen Mann inmitten einer Besuchermenge im Erdgeschoss, der ziellos dastand, wohl zu einer Schülergruppe gehörte und gedankenverloren daddelte. Erst in diesem Moment, als sie sich auf den jungen Mann konzentrierte, fiel ihr auf, dass er merkwürdige Klamotten trug.
Ganz schwarz war er gekleidet, die Haare hochgegelt wie bei einem Irokesenschnitt. Er stach aus der Masse der Menschen hier heraus. Er wirkte wie ein Punk. Gab es Punks noch? Aber so ein richtiger Punk war er nicht, fand Jenny. Denn ein bisschen sah er auch aus wie ein Held aus ›Star-Wars‹, einer Serie, der sich Jenny mit Leidenschaft hingegeben hatte. Die Helden konnten von Sonnensystem zu Sonnensystem springen, sie beherrschten hervorragende Technologien, aber die Planeten, auf denen sie lebten, waren entweder ›High-End‹-gespickt mit merkwürdigen Abgründen oder sie waren so seltsam, primitiv, dass es sie bei dem Gedanken schauderte, dort leben zu müssen.
Doch nicht er, dieser Punk oder Nicht-Punk, war das Besondere, sondern die anderen. Er stach nur heraus, weil die anderen so merkwürdig uniform waren. Denn zahlreiche der Leute trugen so etwas wie Funktionskleidung: Die Hose über und über mit Taschen besetzt, die Jacke in derselben Farbe. Jenny sah sich um. Viele der Besucher hier trugen solche Kleidung, wenn auch in unterschiedlichen Farben. Es gab Leute, die Jeans anhatten und ein Shirt darüber. Und noch andere waren mit Röcken, Blusen, Hosen und Sakkos bekleidet, ganz normal, wie sie es kannte. Das waren aber nur ein paar und die wirkten älter als die Funktionskleidungsträger – nicht richtig alt, ihre Gesichter, ihre Körper waren zwar nicht jugendlich, aber eben nicht wirklich alt. Und doch kamen ihr die Gesichtszüge wie ein Fake vor, eine Täuschung ihres wahren Alters.
Der junge Mann blieb die richtige Wahl. Er war der Einzige in greifbarer Nähe, der auf den Bildschirm eines Smartphones starrte. Er hatte das Gerät gerade auseinandergefaltet und eingeschaltet, was Jenny etwas seltsam vorkam, denn faltbare Smartphones hatte sie noch nie gesehen. Doch es musste so etwas wie ein Smartphone sein, war sie sich sicher. Sie schaute Rocco fragend an, aber Rocco starrte auf das Ding, als sei es ein Ufo in der Hand des jungen Mannes.
Dieser blieb derweil unbeeindruckt von Jennys Ansprache. Er hörte sie nicht und er sah sie nicht. Von was sollte er beeindruckt sein? Von einem Nichts, das vor ihm stand? Wäre ja seltsam gewesen, wenn sie durch die Leute hindurchgehen konnte, diese sie aber dennoch sahen. Dann hätten Rocco und sie schon vorher reichlich erstaunte Blicke geerntet. Und trotzdem war es einen Versuch wert: Sie griff nach diesem Smartphone-Ding und bekam es tatsächlich zu fassen. Der junge Mann mit der angedeuteten Punkfrisur staunte nicht schlecht, als sein Smartphone für einen Moment regungslos in der Luft hing und dann spurlos verschwand. Er konnte sich nicht erklären, was passiert war. Hektisch suchte er auf dem Boden, aber dort war sein Smartphone nicht. Es war einfach weg. Und doch war es da. Jenny hielt es in ihrer Hand. Aber er entdeckte es nicht, in der Annahme, dass es ihm heruntergefallen war, starrte er suchend auf den Boden.
Jenny stand weiterhin direkt neben ihm und suchte Google auf dem Display, jeder hatte Google, und damit würde sie klarkommen, um zu finden, was sie brauchte. Aber Google fand sie nicht auf der Oberfläche. Überhaupt hatten fast alle Programme seltsam fremde Namen. Sie kam erst gar nicht zurecht. ›Commuelook‹ gab es, sie vermutete einen Nachfolger des ›Outlook.‹ ›Climate-Prognos‹ kannte sie noch nicht – aber es war klar, was sich dahinter verbarg. ›Guck an‹, dachte sie, als sie ›Vidtube‹ las, und: ›mal sehen, was ›Scribble‹ ist!‹ Scribble konnte passen. Eine Schmierskizze, etwas Dahingeschmiertes, schnell Eingegebenes, weil man etwas suchte, verband sie damit. ›Wobei‹, erinnerte sie sich, ›war das nicht ein Spiel, mit dem man irgendetwas zeichnete?‹ Sie versuchte es trotzdem und öffnete das Programm. Tatsächlich. Scribble gab ein Suchfeld frei und die Tastatur zeigte sich, so wie sie es von Google gewohnt war. Ob es Google nicht mehr gab? Oder, ob Scribble der Nachfolger war?
Jenny googelte ›Jeansladen‹, obwohl es nun vermutlich ›scribbeln‹ hieß. Ein Geschäft namens Weekday war nicht weit entfernt. Den Weg zur Friedrichstraße kannte sie. ›Scribble-Go-To‹ berechnete etwas mehr als zwei Kilometer. In etwa vierzehn Minuten zu erreichen. Scribble bot auch gleich die schnellste Route zu Fuß an, denn es schien erkannt zu haben, dass sie zu Fuß unterwegs waren. Bei ›Maps‹ wählte man, ob man sich mit dem Auto, dem Zug oder zu Fuß bewegte. Aber egal: die Route stand! Ein Klacks – und für einen Engel sowieso.
Sie merkte sich, die Paul-Löbe-Allee entlangzulaufen, und zwar in Richtung des Platzes der Republik, nach rechts abzubiegen, um zum Reichstagsufer zu kommen, um dann wieder nach rechts in die Friedrichstraße abzubiegen. Es war einfach. Scheinbar hatte sich hier nichts geändert. Die Straßennamen waren immer noch die, die sie kannte, auch wenn sich das Auftreten der Leute, die Technik und das Klima verändert zu haben schienen. Jenny fand das interessant. Und sie fragte sich, wie weit sie wohl in der Zukunft gelandet war.
Rocco stand an einer Sandsteinsäule gelehnt, dort, wo sie ihn abgestellt hatte. Hinter ihm klebte ein Plakat, das Jenny kaum beachtete. Ein weißer Untergrund und darauf nur vier Buchstaben in fetter roter Farbe: ›SPES.‹
Das war ja spannend, stellte sie für sich fest, als sie zu ihm trat. Obwohl sie Rocco nicht sahen, machten die meisten Menschen einen Bogen um ihn. Vielleicht ging etwas von ihm aus, das sie einen Abstand wahren ließen. Wahrscheinlich, so mutmaßte sie, war das sein durchdringender Geruch, den er verbreitete. Irgendetwas aus der Welt der Engel kam also doch bei den Menschen an. Jenny spürte eine kleine Hoffnung auf einen Weg zurück in die Welt der Lebenden.
Der junge Mann, dessen Smartphone sie geklaut hatte, hatte sich einige Meter entfernt. Doch er war sofort zu erkennen, denn die Hände des vermeintlichen Kopfgeldjägers aus Star-Wars gestikulierten wild einer Ordnungskraft gegenüber herum, seine Augen waren gerötet und er schien so abgrundtief verzweifelt, dass Jenny fast lachen musste, so lächerlich wirkte er, wäre er wirklich ein Kopfgeldjäger. Dabei war er doch gar nicht gestorben, nicht einmal verletzt, keine Gliedmaße war ihm im Reichstag abhandengekommen, obwohl er so am Boden zerstört wie nach einer Amputation wirkte. Seine linke Hand wies immer wieder auf seine rechte, die ja noch da war, aber die Verlängerung der rechten Hand fehlte. Dabei hatte er doch nur sein Smartphone verloren. – Na ja, sie hatte es ihm geklaut.
Sie sah Rocco an. Seine Augen waren in erstaunter Missbilligung weit offen und sein Blick klebte abschätzig auf dem jungen Mann. Als ob er sich festhalten musste, griff Rocco nach Jennys Arm.
»Was hat er für ein Problem? Sein Handy ist seit vielleicht zwei Minuten verschwunden! Er verhält sich, als ob er Mutter und Vater verloren hätte, nein schlimmer!« Rocco sah ihr in die Augen, doch sie war ebenso ratlos wie er und gab ihm keine Antwort. Stattdessen sandten ihre Augen ihm eine andere Botschaft, von der sie selbst nichts wusste. Da sah er Jenny ganz genau an, ohne selbst zu bemerken, wie er sie anstarrte. Er musterte sie: Schlank war sie und von mittlerer Größe, es war das erste Mal, dass ihm ihre braunen, wunderbar glänzenden langen Haare auffielen und ihre grünen Augen mit ein wenig Grau darin. Der Glanz ihrer Augen war ein weicher Glanz, ein empfindsamer Blick, ein feines Radar, um kleinste Impulse aufzunehmen. Ihre schmalen Lippen, die Entschiedenheit und Gewissheit ausstrahlten, ihre hohe Stirn, die ihm Intelligenz vermittelte, sie aber auch etwas kindlich wirken ließ. Wie alt sie wohl war – oder gewesen war?
»Ich muss es ihm wiedergeben. Er dreht sonst ganz durch!«, sagte Jenny schließlich, um dem Leiden des jungen Mannes ein Ende zu bereiten. Das aber war gar nicht so einfach. Er war nun in Tränen ausgebrochen und zappelte unkoordiniert suchend. ›Wo ist mein Handheld, wo ist mein Handheld?!‹, las Jenny aus seinen Gedanken.
Jenny stutzte. ›Warum heißt das Gerät Handheld?‹, fragte sie sich. Sie zögerte nun, ihm das Gerät zurückzugeben, und beschloss, noch schnell den Begriff ›Handheld‹ zu suchen. ›Europädia‹ las sie auf dem Startbildschirm, was wie ›Wikipedia‹ klang und etwas Ähnliches war, und sie gab ›Handheld‹ ein. Sie überflog den Text, fasste das Wichtigste zusammen und berichtete Rocco gleich, um was sich bei einem ›Handheld‹ handelte: Man sprach allgemein von ›Handhelds‹, weil sie mit einer Hand zu halten waren und alle Funktionen einhändig ausgeführt werden konnten. Doch das war nicht der wahre Grund. Der Begriff ›Smartphone‹ lag in seiner Bedeutung zu dicht bei ›Apple‹ und der angebissene Apfel war auch in der Technikwelt zum Sinnbild der Verführung geworden, nachdem Apple, saturiert, aber nicht mehr kreativ, vor zehn Jahren begonnen hatte, Minderjährigen Finanzierungsangebote für immer noch beneidenswertere Topmodelle eines Smartphones zu senden – was arme Familien mit mehreren Kindern in ernste Schwierigkeiten brachte, nachdem die Kinder das Angebot angenommen hatten und aus den Verträgen nicht mehr herauskamen. So hatte Apple ›Jobs‹ retten wollen, den Gründer und seinen Nimbus – nicht die Arbeitsplätze.
Rocco nickte nachdenklich, während sie referierte. Der arme junge Mann ohne Handheld saß zusammengekauert in der Hocke, er weinte hemmungslos. Die Ordnungskraft tippte Ziffern in ihr Handheld. Der Rettungsdienst, vermutete Rocco.
Jenny beschloss, ihn zu erlösen. ›Hier ist es‹, sagte sie ihm wortlos und hielt ihm das Handheld mit zwei Fingern entgegen, sodass es wieder in der Luft schwebte. Schlagartig richtete er sich auf und sah das Gerät ungläubig an. Gierig griff er danach und atmete erleichtert aus. Das so wichtige Körperteil war wieder angenäht.
›Wann waren zehn Jahre zuvor?‹, schoss Jenny plötzlich noch diese für sie wichtige Frage erschrocken durch ihren Kopf. Das Handheld zeigte ganz sicher das aktuelle Datum wie die Smartphones zu ihrer Zeit. Sie hatte einfach darüber hinweggesehen. Doch das Gerät war weg! Sie selbst hatte es zurückgegeben. Was für ein Mist! Jenny stampfte ihren Fuß, ihr Kreuz durchgedrückt, trotzig auf den Betonboden. Rocco legte seine Hand beruhigend auf ihre Schulter, auch wenn er nicht wusste, was sie aufregte.
Die Ordnungskraft steckte ihr eigenes Handheld ein und legte ihre Hand tröstend auf den Arm des jungen Mannes. »Sie haben es in einer Tasche gehabt, in Ihrer Thermo-Funktions-Scanner-Hose vielleicht«, versuchte sie den jungen Mann zu beruhigen, da sie offenbar nicht gesehen hatte, wie es zu ihm zurückgekommen war.
Doch er war geistesgegenwärtig. Schließlich hatte er sein Gehirn ja nun wieder. Er sah sich an, was zuletzt gescribbelt worden war. Das war ein Jeansladen, nicht weit weg. So etwas hatte er nicht gesucht. Hier ging etwas vor, das er sich nicht erklären konnte. Ratlos schüttelte er seinen Kopf. Er steckte das Handheld mit spitzen Fingern in seine Jackentasche, als ob es verseucht wäre. Jenny neigte ihn beobachtend ihren Kopf zur Seite. ›Vielleicht vermutet er fremde Krankheitserreger auf seinem Gerät?‹, dachte sie. So wie er das Gerät kaum berührt hatte, musste seine Angst vor Viren und Bakterien sehr ausgeprägt sein. Ob diese Angst auch zu dieser Zeit gehörte?
Jenny machte sich mit Rocco auf den Weg. Langsam wurde es unerträglich heiß in Berlin. Sie hatte also ihre Körperlichkeit nicht ganz verloren, denn sie spürte die Hitze und sie schwitzte. Ein beruhigendes Gefühl. Es musste ein besonderer Sommer sein.
»Du kannst da nicht rein!«, erklärte sie ihm, als sie vor dem Jeansladen angekommen waren. »Du stinkst zu sehr!«
»Das merkt doch keiner!«
»Eben doch«, sagte sie im Brustton der Überzeugung. Er fragte nicht nach. »Welche Größe hast du?«
»Keine Ahnung, hat immer Gianna gemacht.« Der Ton in seiner Stimme war verunsichert, nicht gerade verzweifelt, aber ein wenig beunruhigt.
»Deine Frau?«, fragte sie nach und Rocco nickte langsam. »Warst du also so einer, der sich nicht allein versorgen konnte, was, oder sogar ein Chauvi?«, neckte sie und stieß ihn an. Rocco sah auf sie hinab, doch es schien, als wüsste er nicht recht, was er dazu sagen sollte, und Jenny wandte sich ab.
Sie stand neben ihm vor dem Jeansladen, beiläufig erkannte sie im Vorübergehen einen A1-großen Aufkleber mit ›SPES‹ auf der Scheibe, weißer Grund und der in Rot fett gedruckte Eindruck, wahrscheinlich eine Werbung für irgendwas. Sie wollte gerade den Jeansladen betreten, da schoss eine junge Frau, eine Schwarze, sehr schlank, großgewachsen, in brauner Funktionskleidung, vermutlich aus Nordafrika, nach ihrem Äußeren zu urteilen, an ihr vorbei und riss das Plakat ab, um es in einen Rucksack zu stopfen, der ihr auf dem Rücken überzuquellen schien.
›XL oder XXL werden schon passen, bei der Jeans und beim Shirt‹, dachte Jenny, nachdem die Frau verschwunden war und sie den Laden betreten hatte und sich an den Schildern der Größen orientierte. Bei den Shirts war es simpel. Was die Jeans anging, war es komplizierter. Die Hosen hatten immer zwei Größenangaben, eine für die Bundweite und die andere für die Länge.
Jenny kannte Jeansläden gut. Für die eigene Attraktivität war es wichtig, einen Jeansladen des Vertrauens zu haben. Auch wenn sie mit ihrer Attraktivität augenblicklich nichts anzufangen wusste. Wichtig war es aber dennoch. Weil es früher wichtig gewesen war. Und weil nicht alles plötzlich eine ganz andere Bedeutung haben konnte! Oder doch?
Der Laden war um diese frühe Uhrzeit recht gut besucht. Hier gab es Jeans, aber es gab zudem etwas, das Jenny nie zuvor gesehen hatte. Die Hinweise darauf, alles auch online kaufen zu können, kannte sie schon. Das war old-school. Aber die Abteilung hinter den Jeans weckte ihr Interesse. Dort gab es diese Funktionskleidung. Hosen, Shirts und Jacken, Schuhe und Mäntel nach Farben sortiert.
Sie wandte sich um, um sich orientieren zu können. Die angebotene Bekleidung für Asien war hellbraun. ›Asian‹ besagte das Schild, das über dem ganzen Angebot thronte. ›Pacific‹ war blau, wie das Meer und das Angebot für ›South America‹ erschien in einem erdigen Braun. Diese Kleidung war ihr völlig neu und warum die Farben Kontinenten zugeordnet waren, verstand sie nicht. Aber sie hatte nicht genug Zeit, es herauszufinden. Draußen wartete Rocco auf sie. Wahrscheinlich gab es in der Tiefe des Raums noch mehr Funktionstextilien in weiteren Farben, die anderen Kontinenten oder einzelnen Ländern zugeordnet waren.
Jenny schnappte sich einen Stapel unterschiedlich geschnittener Jeans und ging damit zu Rocco zurück. Vor dem Laden hielt sie ihrem Mit-Engel eine Jeans nach der anderen an, bis sie die richtige Größe gefunden hatte. Der Fußweg vor dem Laden war gut frequentiert. Unsicheren Blicks prüfte sie aus den Augenwinkeln, ob die Leute sahen, wie sie die Jeans Rocco anhielt. Denn die Unaufmerksamkeit der Menschen war ihr nicht sicher, konnte einer oder eine unter ihnen doch bemerken, wie eine Jeans haltlos in der Luft hing. Sanft drückte sie Rocco zum Schaufenster. Er öffnete fragend seine Arme vor ihr. Was machte sie mit ihm? Sie justierte ihn in Höhe einer der männlichen Schaupuppen und hielt ihm die Jeans an. Sie hoffte darauf, die eilig an ihr vorbeihetzenden Menschen würden nicht bemerken, dass die Jeans vor dem Schaufenster hing und nicht im Schaufenster. Besorgt sah Rocco sich zum Schaufenster um. Doch dann grinste er, als er sich nach hinten umsah. Seine Jeans vor dem Schaufenster unterschied sich kaum von der Jeans im Schaufenster. Und die eilenden Menschen fielen auf das Trugbild herein. Sie gingen achtlos an den beiden vorbei. Nur eines fiel ihr auf: so viele Menschen verschiedener Hautfarben hatte sie in Berlin noch nie gesehen.




