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Hellblau und verwaschen stand ihm besser als dunkelblau, stellte Jenny fest. Ein hellgraues Shirt in XL würde ihm passen. Rocco nickte dazu, es war ihm offensichtlich recht egal, was er trug.
In dem Gewusel im Laden fiel überhaupt nicht auf, dass Jeans unbemerkt die Stapel verließen und zurückkehrten, dafür andere Jeans ihren Weg auf die Straße vor dem Laden nahmen. Als Jenny ihre Wahl getroffen hatte, verpackte sie ihren Einkauf, die Jeans und das Shirt wie auch mehrere Slips und T-Shirts zum Wechseln, in einer Papiertüte, die sie von der Kasse gemopst hatte und auf Bodenhöhe an ihren Fingern baumeln ließ. Sie hielt die Tüte unten, fast über das Trottoir schleifend. Dort sah niemand hin und niemand interessierte sich dafür. Selbst wenn da ein Mensch von Krämpfen geschüttelt und mit Schaum vor dem Mund am Boden im Sterben läge, würde kaum jemand mit diesem Anblick etwas zu tun haben wollen. Denn dass die Menschen ebenso ignorant gegenüber Unterschichten waren wie zu ihrer Lebenszeit, nahm Jenny ganz selbstverständlich an. Diese seltsame Funktionskleidung schien ihr ein starker Hinweis darauf. Also war es am sichersten, die Beute weit unten zu tragen. Jenny atmete erleichtert aus, als sie ungesehen die Friedrichstraße verließen, wie sie gekommen waren. Von der merkwürdigen Funktionskleidung erzählte sie Rocco nichts. Er war bestimmt auch so schon genug verunsichert, sich unvermutet in Berlin wiedergefunden zu haben.
»Ich habe im Reichstag Hinweisschilder auf Waschräume für Mitarbeiter gesehen«, erklärte sie Rocco. »Da kannst du duschen und ich werde mich auch waschen, wird Zeit, ich fühle mich echt eklig.«
Der Reichstag war ein Gewerbebetrieb wie jeder andere und selbstverständlich gab es Waschräume für die Beschäftigten. Es war nur ein glücklicher Zufall, dass sie vorhin ihren Weg nach unten durch das Treppenhaus genommen hatten, denn die Waschräume lagen in Höhe der Zwischengeschosse – dort, wo die gesamte Logistik des Reichstages geschützt vor den Blicken der Besucher untergebracht war. Am späten Vormittag waren sie die Einzigen in den Duschen, worüber beide froh waren, denn so ganz waren sie sich ihrer Unsichtbarkeit noch nicht sicher. Was war, wenn sie halbsichtbar wurden, wenn sie die frischen Klamotten anhatten? Oder wenn ihre alte Kleidung herumlag und dadurch von den Lebenden gesehen wurde?
Rocco duschte und wurde den Gestank des Massengrabs los. Irgendjemand hatte ein Duschgel mit Moschusaroma stehen gelassen, mit dem er sich lustvoll einrieb, bevor der Wasserstrahl alles wieder abspülte, aber den Geruch des Moschus zurückließ. Er passte zu ihm und zu seiner Herkunft, fand er. Er atmete tief ein, seine Hände strichen über die Kleidungsstücke, ein Genuss, saubere Sachen auf seiner Haut zu fühlen. So tot konnte er gar nicht sein, wenn er das alles fühlte und roch.
Sie trafen sich wieder vor der Tür der Mitarbeiterwaschräume. »Ich habe Hunger«, sagte Jenny und schnüffelte mit einem Lächeln in seine Richtung. Er roch so wundervoll.
Rocco sah sie von der Seite fragend an und meinte: »Seit ich wieder lebe, kenne ich das Gefühl von Hunger und Durst gar nicht mehr. Glaube ich jedenfalls. Aber sicher bin ich mir nicht.«
»Ich möchte etwas schmecken. Ich habe Lust auf einen Geschmack auf meiner Zunge«, ihr Lächeln war zaghaft, das eines kleinen Mädchens, »aber, ob ich überhaupt essen kann, weiß ich nicht. Ausprobieren. Wäre schade, wenn ich nicht mehr essen könnte!« Aus ihrem Lächeln formte sich ein süßer Schmollmund. Er nickte beifällig. Ihr schien er ein wortkarger Mann zu sein, er erzählte wenig von sich. Das sollte sie irgendwann ändern!
Im Erdgeschoss des Reichstages war es laut, denn viele Menschen aus vielen Ländern waren hier, um das Gebäude zu besichtigen. Jenny sah sich ängstlich um und hielt sich die Ohren zu. Doch die Hände auf ihren Ohren halfen nicht, denn sie hörte nicht nur die Vielzahl an Stimmen, sondern auch die Gedanken der Menschen. Diese Menschen sprachen nicht nur, sondern dabei dachten sie auch noch! Und das, was sie sagten, passte zudem oft nicht zu ihren Gedanken. Es war eine schreckliche Kakophonie in ihrem Kopf.
Sie versuchte, sich auf einzelne Personen zu konzentrieren. Aber der Schwall aus Stimmen und Gedanken schien fast übermächtig. »Das ist ja wirklich ein beeindruckendes Beispiel deutscher Geschichte! Dass ich dieses Erlebnis in meinem Alter von hundertfünf Jahren überhaupt noch haben kann …«, fabulierte die grell geschminkte übergewichtige Dame vor sich hin, die ihrer Sprache nach aus den USA kam – wie auch immer verfügte Jenny über eine Fähigkeit, die verschiedenen Sprachen ausmachen und zugleich zu verstehen – und mit Rock und Bluse die Ausnahme bezüglich ihrer Bekleidung in ihrer Gruppe war. Ob das ihre Begleiter aus Texas hören wollten, schien ihr egal. So nahm Jenny auch die Gedanken ihrer Begleiterinnen und Begleiter der Reisegruppe auf: ›Soll sie endlich ihre Klappe halten, sie nervt, seit sie dabei ist‹, dabei lächelten die meisten die Dame jedoch freundlich an. Noch während die ältere Dame diesen Satz gesagt hatte, fing Jenny ihren wahren Gedanken auf: ›Ein Steak oder ein Burger und eine Riesencola, das wäre es jetzt! Dieser Reichstag ist doch einfach nur langweilig!‹
Jenny verstand die Stimmen aller im Foyer des Reichstages versammelten Menschen. Ihr schien der Kopf zu platzen, es trieb sie hier heraus – sofort!
Rocco bemerkte ihre Blässe und stieß sie fragend an. »Boah, ich höre die Stimmen dieser ganzen Menschen und gleichzeitig ihre Gedanken. Zumindest der Menschen um uns herum. Mein Kopf dröhnt. Ich halte das nicht aus!«, kodderte sie heraus, biss sich auf ihre schmalen Lippen. Sie mochte es gar nicht, wenn sie sich nicht im Griff hatte. Daraufhin sah sie ihn verwundert an: Hörte er das alles denn nicht?
Er verstand sofort, was sie meinte: »Ich höre nur das Stimmengewirr hier; ist nichts Außergewöhnliches. Aber klar, es nervt ziemlich, wir sollten hier heraus.« Er stockte kurz und schien über das nachzudenken, was sie erzählt hatte. »Wenn ich das alles hören könnte, was du hörst, würde mir der Kopf platzen!« Er lächelte sie an, ein weiches, mitfühlendes Lächeln.
Es stand außer Zweifel, dass Rocco ein Engel war wie sie. Aber es stand auch fest, dass er anders war. Er hörte keine Gedanken, die versehen mit den Stimmen der Menschen in seinen Ohren landeten. Sie lächelte ihn erleichtert an, als er sie durch Massen zum Ausgang des Reichstages nach draußen schob. Weil sie so lächelte, ergriff er ihre Hand und drückte sie zärtlich und zuversichtlich, um sie nach draußen zu führen. Er lenkte sie mit Bedacht, das gemeinsame Ziel im Blick. Sie sah nach oben in seine Augen und spürte etwas in ihrem Leben bislang nie Dagewesenes. Sie konnte gar nicht anders, als ihren Blick von unten nach oben gleiten zu lassen, wie zufällig, auch wenn es nicht zufällig war, ein Blick hilfesuchend nach Beistand wie ein streunender Hund. Aber in ihrem Blick lag noch viel mehr.
Kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatten, ließ eine dröhnende Lautsprecherstimme das babylonische Stimmengewirr versiegen. Ein Sprecher sagte mit durchdringender tiefer und etwas hallender Stimme: »Wir begehen heute den Globalen Trauertag. Dies ist eine Minute des Gedenkens.«
Die Ankündigung wiederholte sich in fünf Sprachen. Stille war im Reichstag eingekehrt. Das allein war der Grund, weshalb für einige Minuten die Kirchenglocken in der Stadt selbst noch im Reichstag zu hören waren. Tatsächlich schienen die meisten Besucher in ihrer Bewegung für einen Moment zu erstarren, so machtvoll wirkte der Klang der Vielzahl an Kirchenglocken. Aber in ihrer Macht merkwürdig hohl, wie Jenny fand. Sie hatte in diesem Moment nicht nur die Glocken, sondern die Stimmen von der Straße im Ohr. Kinderstimmen, Geschrei und Gepose von Jugendlichen, herausgerotzt in vielen Sprachen, hier in Berlin waren sie.
Die der Gedenkminute nachfolgende Sprecherin aus dem Lautsprecher klang wie Britney Spears in ›Oops, I did it again‹. ›I played with your heart, got lost in the game. Oh Baby, Baby‹, kam Jenny sofort in den Sinn. Die Stimme klang billig. Zunächst überrascht und etwas verwirrt von der Ansage sah sich Rocco immer wieder auf der Suche nach dem Lautsprecher um. Ein technikversessener großer Junge, der eindeutig noch nicht angekommen war in ihrer neuen Welt.
»Fünfundzwanzig Jahre«, flötete die Britney-Spears-Stimme seltsam fröhlich aus den Boxen, »nach dem Pariser Klimaabkommen ist es nicht gelungen, den Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur auf eins Komma fünf Grad zu begrenzen. Die rettenden Verfahren zur Entnahme von CO2 kamen zu spät. Wir trauern um die Toten, die durch Überflutung der Meere, Versteppung fruchtbarer Böden und Wälder und durch Staubstürme in Metropolen ihre Heimat verloren haben und ums Leben gekommen sind, und mit denen, die deswegen seit Jahren auf der Flucht sind. Wir bitten um Vergebung bei Völkern, die wir auf der Suche nach Rohstoffen ausgebeutet haben, wie vor noch gar nicht langer Zeit die Bevölkerung der Anden, deren Süßwasservorräte wir abpumpten, um an das Lithium in den Salzwasserseen zu kommen, damit unsere Autos mit Batterien elektrisch fahren können. Das ist umso bedauerlicher, als die Elektromobilität sich als ein fataler Irrtum herausgestellt hat.« Die Stimme machte eine kurze Betroffenheitspause und fuhr dann mit neuer Verve fort, die nicht zu dem Inhalt ihrer Worte passen wollte. Jenny verzog leicht angewidert das Gesicht. »Pandemien der letzten Jahre kosteten die Bevölkerung mehr Menschenleben als jeder Krieg, der jemals stattgefunden hat. Die Globalisierung hat die Welt zu einem Kontinent zusammenwachsen lassen. Die Viren sind stets mitgereist und damit zu einer globalen Bedrohung geworden. Wir verneigen uns vor den Opfern von AIDS, SARS, CORONA, XY-5, HOUSE und FIVE. Aber sie waren nur Ausdruck eines grundlegenden Fehlers, der nach wie vor ein Verbrechen an der Schöpfung ist.
Denn es fehlte uns an Respekt gegenüber anderen Völkern und Kulturen, als wir begannen, sie mit dem Beginn der Kolonialisierung auszubeuten. Heute erkennen wir in der Globalisierung das Erbe der Kolonialisierung als nicht wieder gutzumachenden Fehler. Wir können mit den Folgen dieser Fehler nur dann eine Zukunft haben, wenn wir Gerechtigkeit in der Welt schaffen. Denn der Virus sind wir selbst.«
Es waren deutliche und erstaunliche Worte, die zu einer kollektiven Betroffenheit aufriefen. Und doch war dieser Lautsprecherstimme die Trauer fremd. Sie verkaufte Katastrophen wie Sex an Touristen. Vielleicht war die Stimme sogar gut gewählt, wenn Sex in Wirklichkeit ein Trauerspiel war oder sich zu einem auswachsen konnte. Jenny wähnte eine Erinnerung, ohne sie greifen zu können. Mit ihr hatte die Erinnerung jedenfalls nichts zu tun. Da war sie sich sicher.
Danach unterbrach eine sehr traurig wirkende Lounge-Melodie Jennys Gedanken und beendete den Vortrag. Nach fünf Minuten war die angebliche Feierstunde abgeschlossen, die Glocken schwiegen bis zum nächsten Krippenfest und kein Imam war zu hören, der eine Sure vom Turm einer Moschee sang.
Rocco sah Jenny fragend an, immer noch auf der Suche, die Sprecherin mit dieser Stimme zu finden, aber Jenny grinste nur über ihn und über diese seltsame angeordnete Trauer.
Einige Menschen jedoch hatten die Ansprache ernst genommen. Sie standen da im Reichstag und weinten. Während andere Menschen aller möglichen Nationen einfach weitermachten und an ihnen vorbeigingen, um das Gebäude zu bestaunen.
Energisch zog Rocco Jenny durch den Ausgang. Wieso grinste sie so blöd bei einem so wichtigen Thema, das ihn selbst bislang zu wenig interessiert hatte? Wie weit es mit dem Planeten gekommen war. Im Sudan waren solche Themen nicht wichtig. Was in der Welt passierte, war so viel kleiner, so viel unwichtiger als das, was vor seiner Haustür an Unrecht geschah. Nie hätte er das ernst genommen ohne diese interessante Stimme! Und Jenny grinste!
»Das war so billig abgefuckt, diese Stimme allein!«, prustete sie los, sobald sie draußen standen, schob sich eine Strähne aus ihrem Gesicht ordentlich hinter ihr Ohr, räusperte sich und hatte sich einen Augenblick später wieder im Griff.
»Ich mag sexy Stimmen von Frauen und du hast auch so eine!«, erwiderte Rocco leicht angesäuert, aber ruhig.
Jenny fühlte die Hitze in ihr Gesicht steigen. »Lass den Quatsch Rocco, hab ich nicht!« Und wieder war ihr eine Strähne ins Gesicht gefallen.
Er lächelte bloß und sah sich um. Sie war jung und hatte entschiedene Ansichten. Es lohnte nicht, darüber zu streiten, dass sie diese Stimme unterschiedlich wahrgenommen hatten.
Draußen vor dem Reichstag war es heiß. Es würde nicht nur ein Sommertag werden, sondern ein besonders heißer Tag. Ein derart heißer Tag, wie sich Jenny an einen solchen nicht erinnerte. Doch sie bekam etwas Appetit trotz der Hitze. Hunger war es nicht. Eher das Verlangen nach etwas Wohlschmeckendem auf ihrer Zunge. Zuvor aber war ihr ein anderer Ort eingefallen, den es sich bei diesen Temperaturen aufzusuchen lohnte. Diesen Weg kannte sie schon immer, und ohne das Stimmengewirr in ihrem Ohr konnte sie sich auch darauf konzentrieren. Erleichtert lächelte sie in sich hinein. Es war schön, wieder allein in ihrem Kopf zu sein. Sie musste die Wilhelmstraße entlanglaufen und dann die Stresemannstraße nehmen. Sie schätzte, dass sie acht Kilometer unterwegs sein würden und das würde sie mehr als eine Stunde kosten. Aber was hieß für einen Engel schon Zeit? Sie hatten sicherlich genug davon.
Die Eindrücke der Straße lenkten sie ab. Auf dem Weg würde sie das eine oder andere ausprobieren. Irgendwo würde es einen Stand geben, einen Imbiss vielleicht und sie würde sich ein Würstchen vom Grill klauen. Darauf freute sie sich.
Engel konnten nicht zahlen. Engel hatten kein Geld. Engel mussten sich nehmen, was sie brauchten. aber Engel würden auch geben, war sich Jenny sicher. Ob Engel mal zum Klo mussten? An ihr war ja alles dran, was ein Mensch so hatte. Der einzige Unterschied war, dass sie nicht zu sehen war, genauso wie Rocco. Das hatten sie nach der Dusche wieder festgestellt. Die neuen Klamotten hatten nichts daran geändert, dass sie unsichtbar waren und durch alles hindurchliefen. Außer, es war massiv. Steine zum Beispiel konnten sie nicht durchqueren, wie war es mit Stahl? Zu was war ein Engel noch so fähig? Waren unsichtbar zu sein und die Gedanken der Menschen zu lesen das Einzige? Ohne es selbst zu bemerken, schüttelte sie ihren Kopf. Aber sie würde es erfahren. Spitzbübisch grinste sie in sich hinein. Es würde bestimmt mehr als genug lustige Dinge geben, die Engel so draufhatten. Aber würde sie sich trauen, all das auszuprobieren, über die Stränge zu schlagen, zu riskieren, entdeckt zu werden? Sie wusste von sich selbst: sie war kontrolliert und oft auch schüchtern. ›Wäre es jetzt nicht an der Zeit, das zu ändern?‹, fragte sie sich. ›Ob nun Engel oder nicht.‹
Sie schielte auf Rocco, der neben ihr lief, zufrieden mit sich selbst schien und darüber, am Leben zu sein. Er hatte wahrscheinlich nicht solche zaudernden Gedanken. Sie zuckte die Schulter, als ihr einfiel, dass sie glatt vergessen hatte, ihm zu erzählen, wohin sie unterwegs waren. »Wir gehen nach Kreuzberg«, sagte sie unvermittelt. »Dort in einem Park, dem Viktoriapark, gibt es einen sehr schönen Wasserfall. Da können wir uns abkühlen!« Denn Jenny war warm, sehr warm.
»Du findest es heiß? Na ja, wenn du eine Abkühlung brauchst. Ich finde es eigentlich ganz normal warm«, stellte er für sich fest. »Aber Wasser ist immer schön. Kann man da baden?«
»Der Wasserfall mündet in einen ganz kleinen See«, erklärte ihm Jenny, »zum Plantschen jedenfalls reicht er allemal!« Rocco nickte zufrieden. Er schien nicht so die Plaudertasche zu sein, stellte sie für sich fest.
Während ihres Weges fing sie wieder die Gedanken der Menschen auf, die ihnen entgegenkamen. Es waren Fetzen von Überlegungen wie: ›Schulden, wie Schulden bezahlen? Nicht mehr spielen.‹ Der junge Mann aus dem Nahen Osten, irgendwo dort drüben. Das kleine Mädchen mit den schwarzen Zöpfen lachte. ›Eine Eins in Deutsch, eine Eins in Deutsch!‹ Jenny lächelte sie an und dachte: ›Das hast du wirklich gut gemacht!‹ Sie sah sich nach dem kleinen Mädchen um, als es schon an ihnen vorübergegangen war. Ihre Botschaft war wohl angekommen. Das kleine Mädchen hüpfte vor Freude über den Asphalt, bis sie aus Jennys Reichweite war. Da war Jenny klar, dass sie Einfluss auf die Gedanken der Menschen nehmen konnte, auch wenn sie noch nicht wusste, wie weit dieser ging. Ihr neues Leben war ihr selbst so fremd. Fragend sah sie Rocco an. Offensichtlich hatte er nichts mitbekommen. Zweifelsohne war auch er ein Engel. Aber hatte er möglicherweise andere Aufgaben? Diesen jungfräulich gelebten Augenblick ihrer neuen Existenz fand Jenny zwar spannend, aber lieber wäre sie wieder ein Mensch gewesen. Ihr altes Leben schien so ungelebt. In diesem Moment sah sie Rocco in die Augen. Er fing ihren Blick auf und nickte nur, eine kaum merkliche Bewegung. Sie lächelte – ein wenig verlegen, und sah wieder weg.
Neugierig wie ein kleines Kind fokussierte Jenny wieder ihre gesamte Aufmerksamkeit auf das Trottoir und die Menschen, die dort waren. Viele Leute waren unterwegs. Schon am späten Vormittag gab es zwar auf dem Gehsteig kein Gedränge, aber es waren viel mehr Menschen als damals, als sie noch lebte. Wieder fiel ihr auf, wie viele Leute ganz offensichtlich aus anderen Ländern kamen. Sie konnte die Menschen nicht einzelnen Ländern zuordnen, wohl aber Kontinenten. Afrikaner wie Rocco waren klar zu erkennen wie auch Asiaten, Menschen vom indischen Subkontinent mit einem Turban auf dem Kopf oder mit einem Sari bekleidet und mit merkwürdigen Zeichen auf der Stirn, und andere Menschen, bei denen ihr eine Zuordnung überhaupt nicht gelang. Jenny sah sich erstaunt die Menschen an, die ihr entgegenkamen. Schon damals war Berlin multikulti gewesen. Aber heute? War Berlin der Mittelpunkt der Welt geworden? Waren diese Menschen Flüchtlinge, die geflohen waren, weil das Meer die Länder unwiederbringlich geflutet hatte? Oder wieso waren sie hier? Ihre Augen wollten sich an jeden Einzelnen von ihnen heften, ihre Geschichte hören, dabei kannte sie ja noch nicht einmal Roccos Geschichte.
Brave New World
Ein unkonzentrierter Blick zur Seite auf die Wilhelmstraße ließen ihre Augen groß werden. Sie hatte es nur am Rande ihres Bewusstseins bemerkt: der Straßenverkehr, diese Schlangen von Autos auf der Straße waren wie immer. Stau auf der Wilhelmstraße, Auto an Auto. Beruhigend, dass manche Dinge sich nicht geändert hatten. Diese Fahrzeuge jedoch waren kaum zu hören! Deswegen sah sie sich die Autos genauer an. Sie sahen aus wie Eier. Menschen saßen in ihnen, die auf Bildschirme starrten. In einigen Autos saß niemand vorn. Sie bremsten automatisch, wenn sie anfuhren und der Abstand doch zu kurz wurde, und dann fuhren sie wieder los. Das war im Stopp-and-Go-Verkehr gut zu beobachten. Selbst die Lastwagen waren geräuschlos.
An einem Auto blieb ihr Blick noch länger haften. Es war ein SUV, wenn man ihn so nennen konnte, denn auch er war recht eierig. Das aber war nicht das wirklich Erstaunliche. Der Mensch in diesem Auto, ob es eine Frau war oder ein Mann, konnte sie nicht erkennen, schien gerade wie nach einem kurzen Schläfchen aufzustehen. Dieser Mensch war erst nicht zu sehen, vermutlich weil er gelegen hatte, und dann hatte er sich, als der Wagen vor der roten Ampel stand, im Fahrzeug aufgerichtet. Die Ampel schaltete auf Grün und plötzlich saß er deutlich sichtbar auf einem Sessel mit hoher Lehne, wo doch noch eben sich das Etwas befunden haben musste, auf dem er gelegen hatte. So ein SUV war groß. Aber so groß? Oder hatte er sich im Inneren selbst umgebaut?
Was ging hier eigentlich ab? Nicht auf den ersten Blick war alles anders. Auf den ersten Blick war hier Berlin. Aber auf den zweiten? ›Mit dem Zweiten sieht man besser‹, fiel ihr ein, und weil das die so profane Werbung des ZDF war, sah sie nach oben zum Himmel und rollte die Augen über sich selbst und entdeckte die über der Straße gespannten Leitungen und Stromleitungen, an denen sie hinunter sah. Unter der Leitung fuhr ein Lastwagen, der mit einem Stromnehmer mit der Stromleitung über der Straße verbunden war wie früher die Züge. Jenny schnüffelte in Richtung der Straße. Sie roch keinerlei Abgase. Das war es also. Elektromobilität 2.0, die mittlerweile schon wieder gegen eine Wand gefahren war. Jenny musste grinsen.
Dann kam doch noch ein Auto die Wilhelmstraße entlanggefahren, das Geräusche produzierte. Sie kannte diesen Wagentyp. Ein aktueller Porsche, der gerade herausgekommen war. Sie hatte dieses Automagazin auf dem Nachttisch ihres Vaters gesehen.
Mit einem Mal, ganz unerwartet, hatte sie den Nachttisch vor Augen. Erst diesen Nachttisch, dann das Bett und ihren Vater darin, zunächst seinen Körper, umhüllt von der Bettdecke, und dann sein Gesicht. Jenny musste stehen bleiben, sie konnte nicht weitergehen, denn ihr Blick verschwamm und eine Träne lief über ihre Wange. Eine einzelne, einsame Träne. Rocco umarmte überraschend ihre Schultern, beugte sich zu ihr hinab und seine Augen fragten, was mit ihr los war. Er schien ein untrügliches Gespür für Menschen zu haben, denen es nicht gut ging oder die in Not waren. Doch sie reagierte nicht gleich auf ihn und seine Aufmerksamkeit. Sie brauchte Zeit, Zeit das Gesicht ihres Vaters vor ihrem inneren Auge zu zeichnen, erst die Umrisse, die Augen, den Mund, so lange, bis sich das Gesicht mit Farbe füllte und ihr Vater war. Ein aufgeschwemmtes Gesicht, grau und mit blutleeren, fahlen Lippen, die sie mit freundlicher Zugewandtheit schwach anlächelten.
Sie erinnerte sich an ihn und an diesen einen Gedanken, als sie diesen Porsche damals auf dem Titelblatt gesehen hatte, und ihre Scham darüber, was sie imstande gewesen war zu denken. Ihr Vater liebte Porsche, das war sein unerfüllter Traum! ›Keine Beine, kein Porsche‹, hatte sie damals gedacht, den Titel vor Augen. Jenny hasste bisweilen ihren Vater für seine Krankheit. Aber sie erinnerte sich daran, weil sie sich danach ihres Zynismus so sehr geschämt hatte. In diesem Moment ihrer Abwehr gegen das Schicksal ihrer Familie, dessen Grund nicht nur in papiernen medizinischen Expertisen, sondern zum Anfassen körperlich vor ihr lag, hatte sie gespürt, wie sich in ihrem Inneren ihr Herz zusammenzog. Dieses ewige Mitgefühl mit ihrem Vater war Napalm auf die Dynamik ihrer Familie, ähnlich einer Verstrahlung, die jedoch abgestellt worden war, wie man damals Atomkraftwerke abstellte. Doch ihn konnten sie nicht abstellen. Ein Abstellgleis vielleicht, hatte sie damals gedacht, für eine kaputte Lokomotive. Die Krankheit war Napalm, es entlaubte sie und machte ihre Seelen nackt, schutzlos angreifbar, angreifbar für das ganz normale Leben. Doch die tragische Schuld ihres Gedankens ließ damals ihr Herz verkrampfen.
Jenny fasste sich an ihre Brust. Sie spürte den gleichen Krampf ihres Herzens, als wäre er nie vorbei gewesen. Fast alle Gedanken von damals waren wieder da. So hatte sich Jenny das Leben vorgestellt, wenn man sich trennte. Wenn sich ihre Mutter vom Alkoholnebel des Schlafzimmers trennte. Für immer. Sie ihre Töchter mitnähme in eine andere Wohnung irgendwo in Marzahn. Sie wusste schlagartig wieder, wo sie gelebt hatten, nicht gelebt – gewohnt. Marzahn. Im öden Plattenbau nicht weit entfernt vom Industriegebiet, das ›Clean Tech Business Park‹ hieß, aber eigentlich fast nur aus einer riesigen leeren Steppe bestand.
Wenn sie ihn verstießen, irgendwo hinsteckten, ihn sich selbst überließen wie das Gnu, das dem Biss des Löwen entronnen war, aber am Blutverlust der Wunden stürbe, weil es nicht mehr auf die Beine käme. Wenn sie ihn ausstießen, stürben sie selbst einen emotionalen Tod, weil der Verrat an ihm ihr Inneres ausbrennen würde. Das war für Jenny der wahre Inhalt des Begriffs ›Tragik‹. War sie deshalb wieder hier, war sie genau genommen aus diesem Grund gestorben?
Jenny konnte sich nicht mehr auf ihren Beinen halten und war zugleich irritiert. Das konnte gar nicht sein: sie hatte sich immer unter Kontrolle! Ihr Wille ließ ihre Lippen schmal werden und trotzig steckte sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr. Doch der Krampf ihres Herzens wollte und wollte nicht aufhören. Sie gab nach und setzte sich auf den Asphalt. Rocco beugte sich zu ihr hinunter, fühlte ihren Puls, ihre Stirn, sah sie an, als würde er sie untersuchen. Er legte seinen Arm um sie, streichelte über ihr glänzendes Haar. Er sprach ganz automatisch davon, sie ins Krankenhaus zu bringen, was doch aber Unsinn war für Engel, und Jenny schüttelte heftig ihren Kopf. Rocco setzte sich neben sie. Er nahm ihren Arm, kontrollierte noch einmal ihren Puls, schüttelte den Kopf. Ihr Puls raste. »Kein Krankenhaus!«, sagte sie. Es war eine mechanisch geäußerte Bitte. »Versuch, meine Gedanken zu lesen, das würde mir helfen, wenn du mich verstehst, vielleicht kannst du das!«




