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Rocco ließ ihr Handgelenk nicht los, das er sanft umfasst hielt, und versuchte tatsächlich, sich zu konzentrieren. Las er ihre Gedanken? Ging das? Doch er las nichts, keine Worte. Stattdessen sah er Bilder. Bilder, die sie in ihrem Kopf hatte.
Er richtete seinen Blick leer auf die Straße. Die Menschen gingen achtlos an ihnen vorbei. Afrika war anders, dachte er. Diese Achtlosigkeit gab es dort auch. Es war die Achtlosigkeit der Mächtigen gegenüber den Machtlosen. Aber auf der Straße zwischen gewöhnlichen Bürgern, war sich Rocco sicher, wäre er öfter gefragt worden: »Ey, was ist los, Mann? Was ist los mit der Kleinen da? Kann ich helfen?« Oder so etwas eben. Hier fragte keiner, was vermutlich daran lag, dass keiner sie sehen konnte, aber spürten sie denn das Leid nicht, das Jenny ausstrahlte? Er konnte ihre Verzweiflung und Trauer ganz deutlich wahrnehmen.
Jenny war nicht mehr im Hier und Jetzt. Ihr Puls hatte sich beruhigt und Rocco ließ ihr Handgelenk los. Sie saß zusammengekauert auf dem Boden, ihren Kopf auf ihren verschränkten Armen. Rocco blickte nach oben. Die Markise eines Shops spendete ein wenig Schatten. Aber sie würden etwas zu trinken brauchen.
Sie hatte hier gelebt, in dieser Stadt, in Berlin, da war sie sich sicher, Marzahn … es war in ihrem Kopf wie eine Erinnerung, das war deutlich. Denn oft war sie an diesem Gebäude vorbeigekommen, meist in einem Bus. Sie hatte Bilder vor Augen, wenn sie aus dem Bus auf den Reichstag sah. Aber es gab noch mehr Bilder, die mit diesem Gebäude zusammenhingen. Da gab es die Bilder von Partys, die vor diesem Gebäude stattgefunden hatten, und andere Partys, das Brandenburger Tor zu Silvester, als sie eine glückliche Familie waren, und dort standen sie mit tausenden von Leuten und ihre Eltern, die glücklich beschwipst von Bier und Sekt nach Hause stapften, ihre Kinder nie aus den Augen lassend.
Als ob das Brandenburger Tor eine Einfallsschleuse in ihre Erinnerung wäre, war plötzlich alles wieder da – ihre Geschichte, die ihre Vergangenheit war.
Rocco, der nicht wieder aufgestanden war, konnte ihre Gedanken nicht lesen wie ein Buch, so sehr er sich auch bemühte. Aber Rocco verfolgte ihre Gefühle in Bildern vor seinem geistigen Auge, Bilder ihrer Gedanken.
Er blieb stumm neben ihr auf dem Asphalt sitzen und ›sah‹ dieser Bilderflut zu, die er von ihr empfing. Wie durch eine unerwartete Eingabe wurde ihm angesichts dessen klar, was er für Jenny sein würde: der Fels in der Brandung und ihr Beschützer. Bei den Demonstrationen in Karthoum war er nur ungern in den Vordergrund getreten; er hielt sich gern in der zweiten Reihe auf. Er war der stille Beobachter, ein Mediator, der einschritt, um zu vermitteln oder auch zu motivieren. Er würde hinter ihr stehen, um sie zu unterstützen, anzuschieben, nach vorn zu bringen, und er würde vor ihr stehen, würde sie mit Dreck beworfen oder bedroht werden. Nicht nur deswegen, aber auch aus diesem Grund hatte ihn Gianna geliebt und Se ihn respektiert. Seine tiefe, bestätigende Stimme als Bestätigung und Schutz und sein Körper als stählerner Schild, das waren seine Stärken – die er auch als Engel einsetzen konnte.
Er folgte Jenny in ihre Erinnerungen und Gefühle: Sie hatten Silvester am Brandenburger Tor gefeiert, ihr Paps war erst dagegen gewesen und ihre Mutter war sofort begeistert dafür. Sie hatte ihn nie gefragt, warum er dagegen zu sein schien. Sie war Feuer und Flamme und er bemühte sich, kein Spielverderber zu sein – Jenny bemerkte es –, ein Umstand, der sich in letzter Zeit immer häufiger andeutete. Das ging so, bis er seiner Frau endlich seine Schmerzen in den Beinen offenbarte, die ihn schon nach wenigen Jahren an den Rollstuhl fesselten. Die Nervenkrankheit schlich von unten nach oben, bahnte sich immer mehr ihren Weg durch seinen Körper.
Paps’ Krankheit kostete viel Geld, die Krankenversicherung sträubte sich, wo sie nur ein Schlupfloch sah, weshalb die Familie in Marzahn blieb. Das war nicht der Plan ihrer Mutter gewesen. Sie wollte eigentlich nichts wie weg, raus aus Marzahn! Jenny verstand sie, ihr war wie ihrer Mutter nichts lieber, als Marzahn den Rücken zu kehren. Aber sie verstand, dass es nicht ging.
Schließlich war ihr Vater die meiste Zeit ans Bett gefesselt gewesen; er konnte sich kaum bewegen, wurde von einer Krankenschwester am Morgen notdürftig versorgt, sodass seine Frau sich nicht so sehr um ihn kümmern musste. Jenny kam nachmittags aus der Schule und Paps schlief. Er schlief, weil er mittags von den Schmerzen aufgewacht war. Dann nahm er die Schmerzmittel, die seinen Körper betäubten. Er nahm viel zu viel davon. Doch nur so wirkten sie, dass er seine Gliedmaßen nicht mehr spürte. Er hatte einen schmalen Zeitkorridor, in dem er sich ohne Pein rühren konnte, den er nutzte, um nach unten zu rollen bis ganz nach unten ins Erdgeschoss und dann fuhr er ein paar Meter bis zum Kiosk. Mit dem Fusel betäubte er nachmittags die Schmerzen in seinem Herzen und seinen Gliedmaßen. Eine große Flasche, selbst wenn der Beipackzettel der Medikamente vor Alkoholkonsum deutlich warnte. Dann rollte er wieder in die Wohnung, im Schlafzimmer ans Fenster, starrte hinaus und trank, bis er wieder ins Bett fiel und weiterschlief.
Selbst wenn der Alkohol bis zum nächsten Morgen in seinem Körper abgebaut war, würde er noch von den Schwaden, die sich im Schlafzimmer ausgebreitet hatten, betäubt bleiben. Jenny bewunderte ihre Mutter, die Nacht für Nacht das Schlafzimmer mit ihm teilte. Andererseits hatte sie jedoch kaum eine andere Wahl, war die Wohnung doch ziemlich klein und ihre beiden Kinder sollten ein eigenes Zimmer haben.
Jennys Mutter schien ihren Mann nicht zu verachten – ganz im Gegenteil. Wenn sie seine eigene Schlafmedikation missbilligte, verstand sie ihn. Denn oft bekam sie mit, wie er fühlen musste, sie spürte den Schmerz fast an ihrem eigenen Körper. Sie fühlte, welche Höllenqualen ihr Mann durchlitt, Stunde um Stunde und Tag für Tag. ›Ach, Jenny, die Schmerzen deines Vaters sind eine furchtbare Pein!‹, erinnerte Jenny sich an eine Aussage ihrer Mutter. Aber ihre Mutter blieb dennoch eine Realistin. Für die reinen Realisten jedoch war das Leben oft nur eine ›Truman-Show‹ – Jenny hatte den Film gesehen: Ihre Mutter führte dabei Regie, doch sie war eisig, es ging nur ums Überleben. Sie musste sachlich bleiben, sonst gab es kein Überleben. So einfach war das. Was die Krankenkasse nicht zahlte, finanzierte Jennys Mutter. Sie arbeitete für zwei und kam immer spät und ausgelaugt zurück, fünf Putzstellen waren schlicht zu viele.
Jenny tat ihre kleine Schwester leid, die erst zehn Jahre alt war. Sie hatte kaum etwas von ihrem Papa gehabt in ihrem Leben. Die beiden Schwestern lagen zwölf Jahre auseinander und Jenny wunderte sich gelegentlich, dass ihr Vater der Erzeuger ihrer kleineren Schwester sein sollte. Denn schon zur Zeit ihrer Zeugung hatte er im Rollstuhl gesessen und ab mittags geschlafen. Ihre Schwester war auch irgendwie ganz anders als sie. Sie hatte blonde Haare und blaue Augen und sie war schon jetzt fast so groß wie sie. Doch letztlich war das gleichgültig, solange die Liebe blieb. Denn er hatte die Kleine immer geliebt, auch wenn er dabei immer ausdrucksloser zu werden schien. Die Liebe musste angeschlagen worden sein, denn die Krankheit war wie ein Boxer, der unaufhörlich auf ihre Familie eindrosch. Dennoch blieb ihr Vater das Zentrum der Familie. Und war sein Lächeln auch noch so farblos geworden, es blieb sein Lächeln, das die Familie zusammenhielt, auch wenn er nicht mehr tun konnte, als den Versuch zu unternehmen, sie anzulächeln.
Noch tragischer wurde die Situation, als die Ärzte ihren Irrtum bemerkten. Sehr wohl litt ihr Vater an dieser Nervenkrankheit, die ihn zur Bewegungslosigkeit verdammte. Und sie hatten sich gewundert, warum die Medikation so schlecht anschlug, doch bei dieser Feststellung hatten sie es belassen. Bis ein junger Assistenzarzt, neu in der Klinik, weitere Tests veranlasste. Er war dem eigentlichen Grund der Krankheit auf der Spur und fand ihn schließlich auch. Ein Tumor im Gehirn war der Auslöser für die Fehlsteuerung der Nerven. Nur dass die Zeit inzwischen abgelaufen war, um ihn zu entfernen. Der junge Arzt war so freudestrahlend, als er das CT-Bild ansah, weil er den eigentlichen Bösewicht entlarvt hatte. Jenny, die wie der Rest der Familie hinter dem Arzt stand und auf den Bildschirm starrte, verstand ihn. Vom Hausarzt bis zu den spezialisierten Klinikärzten war niemand auf die eigentliche Ursache gekommen. Für ihn war das ein voller Erfolg. Aber für seinen Patienten nicht.
Und kurz nach dem überbordenden Gefühl seines Erfolgs merkte auch der junge Arzt, dass er der vollständig anwesenden Familie erklären musste, dass der Tumor nicht operabel sein würde. Er druckste ziemlich herum, als es um diesen Punkt ging, die Augen ihrer Mutter waren starr auf den jungen Arzt gerichtet, während ihr Vater auf den Boden sah und Jenny seinem Blick folgte und ihre kleine Schwester Playmobil spielte. Der Arzt war sichtlich überfordert mit der Situation und stammelte, er war rot im Gesicht und dennoch war seine Haut im Grundton merkwürdig grau, als er dann ergänzend die Tatsache formulierte, dass Tumore dieser Art erblich sein konnten.
Ihre Mutter hakte ein: »Wie viel Prozent, wie wahrscheinlich ist das?« Sie blickte ihre Töchter an.
Der junge Arzt begriff sofort. »Fünfzig, vielleicht dreißig, die Forschung ist noch nicht so weit bei dieser Art von Tumoren …« Jennys Hand suchte die ihrer Mutter, um ihr das Gefühl zu geben, bei ihr zu sein.
Doch da war ihre Mutter schon aufgestanden, griff nach dem Rollstuhl ihres Mannes, hatte Tränen in den Augen. Jenny folgte ihr nach draußen. Jennys Hand lag sanft auf seiner Schulter. Nur ihre kleine Schwester hing an den Playmobil-Figuren. Sie blieb sitzen, um weiterzuspielen.
»Nur mit dem Alkohol …, das sollte er …«, der junge Arzt sprach nun wieder sicherer weiter, »… lassen.«
Sie waren fast aus der Tür, hörten noch diesen letzten Satz und standen schließlich hilflos auf dem kalten Klinikflur. Sie warteten auf ihre kleine Schwester. Der junge Arzt hatte sich zu ihr gehockt, saß nun vor dem kleinen Mädchen, das gedankenverloren spielte, und wusste offenbar nicht so recht, was er tun sollte. Bis Jenny sie aus dem Behandlungszimmer holte, ihr über den Kopf streichend die kleinere Kinderhand in ihre nahm, sie anlächelte.
Auch wenn in der Familie Liebe und Rücksicht herrschten, war die Liebe dabei eine Regentschaft, die das Elend kaschierte wie das Präsentpapier das darin liegende unerwünschte Geschenk. Jenny wollte heraus aus diesem jahrelang anhaltenden Schlamassel, in dem sie aufwuchs. Sie strengte sich daher in der Uni an. Das war für sie der ›Stairway to Heaven‹. In den letzten beiden Jahren musste sie oft weinen, wenn sie sich zu sehr anstrengte. Die Tränen versiegten bald wieder und ihr Erfolg gab ihr Recht und war die Rechtfertigung dafür, die Tränen nicht zu ernst zu nehmen, obwohl die Tränen von einem stechenden Schmerz in ihrem Kopf rührten. Aber ihre Schmerzen verschwanden stets schnell wieder. Es war sogar recht hübsch anzusehen, wenn die glasklaren gläsernen Perlen sich mit dem rötlichen Lidschatten am unteren Wimpernkranz vermischten. Seit einiger Zeit verschönerte sie sich mit dem rötlichen Lidschatten. Sie sah darin vor dem Spiegel einen wunderbaren Kontrast zu ihrem dunkelbraunen Haar und einen noch schöneren Kontrast zu ihren graugrünen Augen.
Die Jungen mochten sie so. Jenny aber mochte die Jungen nicht. Jungen würden ihr bei keinem ihrer Probleme helfen können, ganz im Gegenteil. Sie würden ihr nur weitere Scherereien bringen, Liebesprobleme. Ihr Leben war an sich schon kompliziert genug. Ein ganzer Sack voller Schwierigkeiten bis zum Abwinken. Sie ahnte den Spaß und die Lust, die sie mit einem Jungen erleben könnte, sah das bei den anderen Mädchen ihres Alters. Aber es würde nicht funktionieren bei ihr, da war sie sich sicher. Niemals. Jedenfalls nicht, bis sie heraus war aus dem Ganzen und ihr eigenes Leben hatte. Das Harte ihres bisherigen Lebens hatte sie zu einer Realistin werden lassen. Die Realität erkennen, um zu überleben. Romantik war Quatsch aus dem Kino: Schön anzusehen, wenn sie mal Zeit hatte. Aber, wenn sie die Tür des Kinos nach draußen aufstieß, spürte sie den kalten Windzug ihrer Realität im Gesicht.
Und dann war da dieser Morgen, an dem Jenny verschlafen hatte. Sie hatte zu lange bis in die Nacht für die Matheklausur an der Uni gelernt. Sie wachte auf und wunderte sich nicht darüber, fast eine Stunde zu spät zu sein. Kopfschüttelnd und schlapp und verschlafen zum Bad schlurfend, missbilligte sie ihre Disziplinlosigkeit und zunächst den Spiegel vor ihr an der Wand. Sie hustete. Instinktiv schnellte ihre Hand zu ihrem Mund, doch sie bemerkte ihren Husten nicht einmal. Sie fühlte, dass ihre Stirn warm war, als ihre Hand darüber fuhr, während sie mit der anderen ihre Zähne putzte. Für einen gesunden Menschen war ihre Stirn befremdlich warm, aber eigentlich auch nicht wärmer als am Vortag. Sie wischte sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Sie hatte gestern bis in die Nacht gelernt. Sie zuckte die Schulter und spuckte aus. Erst jetzt spürte sie einen Druck auf ihrer Brust, keinen stechenden Schmerz beim Atmen. Nein, aber irgendjemand hatte ihr einen schweren Hammer auf die Brust gelegt. Das musste der Stress sein. Sie grinste sich verlegen im Spiegel an, sah eigentlich nur ihre Verlegenheit: das war die anstehende Matheklausur. Sie musste aufpassen. Bislang hielt sie sich eigentlich für resistent gegenüber irgendwelchen Psychomacken.
Sie hatte sich im Spiegel ansehend nur überflogen. Sie hatte ja keine Zeit für eingehende Betrachtungen ihrer selbst. Es kam darauf an, den Bus nicht zu verpassen, die Klausur nicht zu verpassen, das alles nicht zu verpassen, um Marzahn zu verlassen. Es stand für sie immer alles auf dem Spiel. Denn ihre Grundlage war ein schmaler Grat und kein breites Fundament. Das Fundament waren ihr geliebter kranker Vater und ihre Mutter – auch wenn es manches Mal schwer mit ihr war. Es war ihr Vater, den sie hinabgebeugt zu seinem Rollstuhl umarmte, wenn sie früh nach Hause kam, und der mit leerem Blick durch das Fenster auf die Straße sah. Das war sein Leben. Und die Gleichförmigkeit der Zehnliter-Putzeimer symbolisierten das Dasein ihrer Mutter. Jenny nahm auch sie in ihre Arme – aber seltener. Denn jedes Mal fühlte sie, wie der Körper ihrer Mutter stocksteif wurde. Trotz dieser Distanz zu ihrer Mutter gab es eine Liebe zu ihr, die tiefer unter ihrem Respekt für sie verborgen lag. Sie wusste, dass ihre Mutter all ihre Hoffnung in sie legte, dass Jenny für sie der Weg aus Marzahn heraus war, und das war okay für sie.
Von links nach rechts wischte ihr Blick über den Spiegel. Aber ungefähr in der Mitte des Spiegels sah sie sich für einen Moment ganz genau wie ein Standbild auf dem Bildschirm des Spiegels. Rote Ränder entdeckte sie um die Iris ihrer Augen. Rote Ränder, wie sie die von den Augen ihres Vaters am Vormittag kannte, sie kamen von der täglichen Alkoholmedikation gegen die unerträglichen Schmerzen am Vorabend. Sie betrachtete ihre Augen genauer und schließlich dieser prüfende Blick in den Spiegel ließ sie zusammenfahren. Sie erschrak so sehr, dass sie die Zahnbürste gedankenlos zu dem Gedanken an ihren Vater und an die Wischeimer zum Rand des Waschbeckens schob.
Während der letzten Tage hatten alle Sender nur noch und andauernd von einer beginnenden Epidemie berichtet, ausgelöst von irgendeinem neuen Virus – sie hatte nicht so genau hingehört, hatte aber eine Sprecherin im Kopf, die sagte, dass sich das Ganze zu einer Pandemie ausweiten könne. Jenny schüttelte verständnislos ihren Kopf und drückte ihr Kreuz vor dem Spiegel durch, eine Bewegung, die sie zufrieden im Spiegel betrachtete. ›Na also, geht doch! Ich lasse mich doch nicht von Fake News, Social Bots und Filterblasen in den Medien verrückt machen!‹, dachte sie. Sie hatte sich eine Grippe eingefangen, höchstens, eher eine Erkältung. Sie stand da, stramm wie ein Soldat. Ihr eigener Befehl sich selbst gegenüber war klar: antreten zur Klausur! Sie stand in der Dusche, das warme Wasser prasselte auf sie nieder, und sie fühlte sich auch gleich viel besser. Sie rekapitulierte die Formeln, die sie in der Nacht immer und immer wieder gelernt hatte.
Ihre kleine Schwester schlief noch, als sie das Bad verließ, und ihr Vater sowieso. Jeden Tag machte sie das Frühstück für ihre kleine Schwester, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, sie damit liebevoll weckend. Auch an diesem Morgen küsste sie ihre Stirn, das Frühstück für ihre Schwester fiel jedoch aus. Jenny selbst hatte kaum Zeit dafür, denn ihr Frühstück bestand aus kaltem Toastbrot vom Vortag mit darauf geklatschter Marmelade und einem Rest an kaltem Kaffee. Es war ihr nicht wichtig, wann dieser Kaffee durch einen Filter getröpfelt war, er sollte, musste nur wach machen. Sie schmeckte weder den Toast noch den Kaffee.
Wenig später eilte sie durch das schmutzige und an den Wänden bekritzelte Treppenhaus des Plattenbaus nach unten, immer wieder auf die Uhr sehend: würde sie den Bus noch kriegen? Die Türen des Busses schlossen gerade, als Jenny außer Atem wenige Meter von ihm entfernt war. Der mächtige Dieselmotor brummte tief und das Fahrzeug fuhr an. Jenny lief neben dem Bus her, ihre Fäuste trommelten gegen die vordere Tür. Sie sah die Busfahrerin, die grinste und den schwerfälligen Bus anhielt. Mit einem Zischen der Hydraulik öffnete sich die Tür.
»Grad noch so, wat?«, sagte sie freundlich. Jenny hatte es geschafft. Sie hustete und merkte es gar nicht, als sie ihren Mund in die Armbeuge schmiegte. Sie hatte es gepackt und würde gerade noch rechtzeitig in der Uni ankommen! Sie dachte an ihre Mutter. Sie war schon lange unterwegs zu ihrer ersten Putzstelle. Sie verbrachte wahrscheinlich mehr Zeit mit S- und U-Bahn als mit ihrer eigentlichen Tätigkeit. Berlin war zweifelsohne eine schöne Stadt. Aber Berlin war auch ein Verkehrschaos und machte es seinen Arbeitnehmern schwer.
Die Matheklausur war anspruchsvoll und das war Jenny und ihren Kommilitonen anzusehen. Ihr Gesicht war verspannt und blass. Sie kämpfte gegen die Anstrengung an und hustete immer wieder, weshalb ihre Kommilitonen sie strafend ansahen; die akustische Unterbrechung störte sie. Jennys Hand stützte ihren Kopf an der Stirn. Sie löste die leichteren Aufgaben. Dann wagte sie sich an die schwierigeren. Die Formeln fielen ihr nicht ein. Es konnte doch nicht sein, dass sie die Formeln vergessen hatte! Das konnte einfach gar nicht sein, nicht jetzt! Sie hatte sie doch alle in ihrem Kopf! Jenny fasste sich an ihre Stirn. Sie schien ihr kochend heiß. Erschrocken nahm sie die Hand herunter und legte sie ganz gerade neben ihr Aufgabenblatt.
Immer wieder sah sie auf ihre Uhr. Die Zeit schien langsam zu vergehen. Warum verging Zeit mal schneller und mal langsamer? Und würde sie nicht jetzt, zu diesem Zeitpunkt, zu dem sie hoffte, alles rechtzeitig zu schaffen, umso schneller vergehen? Jenny blinzelte ein paar Mal und legte den Gedanken zu dem anderen an den Rand des Waschbeckens.
Sie hatte schließlich drei Viertel der Aufgaben geschafft, doch gegen Ende der Klausur während der letzten Minuten verließ sie die Konzentration vollends. Sie wischte sich immer wieder Haarsträhnen aus ihrem Gesicht, die nicht da waren, weil sie sie bereits hinter ihre Ohren geklemmt hatte. Sie riss sich zusammen, drückte ihren Rücken durch, so wie sie es immer machte, spannte sich an wie ein Pferd vor der Kutsche. Ihr gefiel das Bild. Die Kutsche waren die Aufgaben und das Pferd würde die Kutsche aus dem Dreck ziehen. Doch das Pferd knickte erst vorn ein und dann hinten, denn der Sumpf, in dem die Kutsche steckte, war einfach zu tief. Jenny spürte, wie ihr Rücken zusammensackte, sie anfing zu zittern und ein Weinkrampf sie überkam. Hellrote Tränen fielen auf das weiß karierte Papier. Sie wischte die Tränen mit einem Taschentuch aus Papier weg. Nichts sollte ihre Leistung verunstalten. Doch ein roter Streifen blieb. Fast erleichtert blickte Jenny auf die roten Spuren. Sie freute sich, doch nicht ungeschminkt zur Uni gefahren zu sein, auch wenn sie sich nicht daran erinnerte, dafür Zeit gehabt zu haben. Sie war heute Morgen doch ziemlich verpeilt gewesen. Doch sie irrte, denn sie hatte sich nicht geschminkt. Und auch das Weinen, das sonst immer ihre Schmerzen linderte oder ganz verschwinden ließen, sorgte heute nicht für eine Besserung.
Als sie aufwachte, fand sie sich in einer Klinik wieder. Ihre Augen blickten hektisch nach links und rechts. Sie kannte den Raum nicht, in dem sie lag. Aber er sah eindeutig nach Krankenhaus aus. War ihr Vater eingeliefert worden? Aber nein, sie lag ja selbst im Bett. Doch was machte sie hier? Sie runzelte die Stirn und stützte ihre Arme ab, um aufzustehen. Da legte ihre Mutter ihre Hand auf ihren Arm und flüsterte ihr zu, dass sie liegen bleiben müsse. Jenny gehorchte und stierte an die weiße Wand gegenüber. Warum nochmal ging sie nicht nach Hause? Doch bevor sie erneut versuchen konnte aufzustehen, fielen ihr die Augen zu.
Als sie wieder erwachte, war ihre Mutter immer noch bei ihr, aber sie verließ Jenny bald, weil sie weiterarbeiten musste. Jenny schaffte es kaum, mit ihr zu sprechen, sie fühlte sich so müde und erschöpft. Sie drückte nur die Hand ihrer Mutter, als diese ging, und schlief dann wieder ein. Nur den Kuss auf ihre Stirn hatte sie noch bemerkt – eine seit Jahren völlig ungewohnte, fremde Geste.
Irgendwann später kam eine Ärztin in Schutzkleidung in Begleitung einer Psychologin zu Jenny und erläuterte ihr ihre Diagnose. Sie waren einfühlsam und erklärten es ihr so, dass sie es verstand. Jenny hatte dieses neuartige Coronavirus bekommen und es könnte sein, dass sie sterben würde. Genau könne man das nicht sagen, da man noch zu wenig über die Krankheit wisse, die das Virus auslöse, aber es gehe auf die Lunge und verursache hohes Fieber. Die Ärztin richtete ihr währenddessen den Sauerstoffschlauch, der in ihrem Gesicht hing und den sie erst jetzt bemerkte.
Jennys Hand fuhr zu ihrer Stirn und befühlte sie. Angenehm kühl fühlte sie sich an. Jenny lächelte. Ärzte logen wie gedruckt. Es ging ihr doch viel besser, als sie sagten. Wieso sollte sie ihnen glauben? Menschen ihres Alters überlebten Corona immer, das hatte sie aus den Nachrichten schon mitbekommen.
Sie schüttelte den Kopf und erklärte, dass es ihr gut ginge, sie viel zu jung sei, um daran zu sterben. Sie lachte fast, fühlte sie sich, umringt von diesen Leuten in futuristischen Katastrophenanzügen, doch wie in einem Film, in irgendeiner lächerlichen Szene gefangen. Aber ihr Lachen verwandelte sich bloß in Husten.
Die Ärztin, die Psychologin und die Krankenschwester, die nun zwischen ihnen herumwuselte und Jennys Tropf überprüfte, tippelten mit hilflosen Mienen von einem Fuß auf den anderen. Bis die Ärztin, brünett wie Jenny, an ihr Bett herantrat, um erneut mit ihr zu sprechen.
Allein liegend im Bett ein Gespräch zu führen, empfand Jenny als Niederlage. Ihr Inneres wehrte sich dagegen, im Liegen zu der Ärztin oder wem auch immer aufzusehen. Das war zu viel, eine Zumutung, wenn sie schon hier sein musste. Wegen der Augenhöhe grinste sie nicht ohne einen gewissen Sarkasmus in sich hinein, als sie sogleich ihre Position im Bett veränderte und ihren Oberkörper aufrichtete. Ihr wurde schwindelig dabei. Doch so sah sie die Ärztin ein wenig genauer. Die Frau hatte ein faltiges Gesicht. Das konnte Jenny trotz ihres Mundschutzes und des Schutzanzuges erkennen – diese Krähenfüße um die Augen. Da fühlte sie sich nicht mehr so unterlegen und Jenny lächelte zaghaft.
»Ihre Coronainfektion an sich ist tatsächlich nicht das entscheidende Problem«, erläuterte die Ärztin, als ob Jenny nicht schon wüsste, dass diese Fake-News-Krankheit aus dem Radio nicht schlimm wäre. Ihr Blick klebte in diesem Moment auf Jennys Augen wie Pattex. »Die Coronainfektion hat nur zutage gefördert, was in Kürze evident, also offensichtlich, geworden wäre. Ihre eigentliche Erkrankung.«
Sie räusperte sich, die Krankenschwester räusperte sich und die Psychologin dann auch, die verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Das musste ansteckend sein. Ein Räusper-Virus, der sich auf Stimmbänder legte und verlegen machte. ›Ein gesellschaftlicher Virus‹, dachte Jenny ironisch. ›Corona pack ich‹, war sie sich sicher nach dem, was sie im Radio gehört hatte. Das war das nur so ein Ausrutscher wie die höchstwahrscheinlich missglückte Matheklausur. Sie straffte ihren Rücken und lächelte die Mediziner siegesgewiss an.
Die Ärztin fasste sich mit Worten kurz, die bei Jenny wie ein Stakkato der Tatsachen ankam, als es um das Wesentliche ging: die Covid-19, also die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit, begünstigende Vorerkrankung. Es war ein Tumor hinter ihrem Auge. Der sei genetisch bedingt, erblich. Sie habe nichts falsch gemacht, könne gar nichts dafür, erklärte die Ärztin vorsorglich.




