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›Vorhersehung‹, knallte es Jenny daraufhin aus dem Geschichtsunterricht in das beschädigte Hirn. Adolf in ihrer Birne, dachte sie, sich an den Geschichtsunterricht erinnernd, dass das eines seiner Lieblingswörter gewesen war, und zog ihre dünne Bettdecke schützend über ihr Gesicht. Sie lachte innerlich hässlich und ihr fiel ein Lieblingslied ihrer Mutter ein, alt, Neue Deutsche Welle, aber sie hörte es oft, weil es ihr irgendwie ihre Mutter beschrieb: ›hässlich, ich bin so hässlich, so grässlich hässlich‹. So war nun Jenny wie ihr Vater. ›Ich bin der Hass, hassen, ganz hässlich hassen‹, genau das würde ihre Mutter empfinden, denn sie, Jenny, die Hoffnung für die ganze Familie, aus Marzahn wegzukommen, war nun genauso nutzlos wie ihr Vater! ›Und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt und bring’ die Liebe mit, von meinem Himmelsritt‹ würde nicht mehr gelingen, wenn sie stürbe. Sie brächte nur Elend mit. ›Denn die Liebe, Liebe, Liebe, Liebe, die macht viel Spaß, viel mehr Spaß, als irgendwas.‹ Hatte ihre Mutter den Spaß und die Liebe vermisst? Liebe war kein Spaß, sie war viel mehr, auch das fühlte Jenny, denn sie hatte ihren Vater geliebt. War sie, Jenny, deshalb hier, nicht wegen des Spaßes, aber wegen der Liebe? Ein unerwünschtes Resultat von Liebe? Ein genetischer Defekt? Sie war der Kollateralschaden ihrer Familie. Das war sie.
Jenny schloss die Augen und zog sich zurück in ihr inneres Gehäuse; an sich nützlich, aber nun war sie ansteckend krank und dem Tod geweiht und damit umso mehr unanfassbar eklig wie eine schleimige Schnecke, die sich in ihr Haus zurückzog.
»Wenn Sie Ängste empfinden, vielleicht Fragen haben, die Sie noch beantwortet wissen wollen, wenn Sie sich nach empathischer Begleitung sehnen«, hob die Psychologin nach wie vor unruhig hin und her tretend an, »können Sie mich jederzeit dienstags bis donnerstags in der Zeit zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr hier über das Haustelefon anrufen. Ich habe die Einhundertzwölf!« Jenny wünschte sich einen der Eimer ihrer Mutter neben ihrem Bett, wünschte sich, die Psychologin zu sich hinabzuziehen, den Eimer zu nehmen und ihr das Wasser über dem Kopf auszuschütten. Jenny sagte nichts, aber sie sah die Psychologin mit einem durchdringend vernichtenden Blick an. Was für eine Farce. Die Ärztin, die Psychologin, das Sterben. Alles war nur noch lächerlich. Sie wollte nach Hause.
Die Ärztin spürte die Spannung im Krankenzimmer. Sie hielt den sachlichen Vortrag für den besten Weg, mit Jenny umzugehen. Wehtun würde der Tumor nicht, fuhr sie fort, während Jenny sich verkroch. Sie wollte hören, wie es um sie stand, gleichwohl wissend, dass ihr dieses Wissen zu viel sein würde. Denn palliativ würden sie die Schmerzen in den Griff kriegen. Keine Frage. Es war eine besonders aggressive Variante. Er würde sie nur sterben lassen. Jenny wusste nicht, was mit ›palliativ‹ gemeint war. Sie kannte das Wort nur in Zusammenhang mit alten Leuten. Und sie hörte gar nicht mehr richtig hin.
›Psycho-Kanaken‹, erfand Jenny für sich einen Begriff für die fähige Ärztin, die ihr so sachlich das Todesurteil verkündet hatte, und die Psychologin, die größtenteils geschwiegen und sich dann in Allgemeinplätzen ergangen hatte. Schwarzverfärbter Zynismus, wusste sie, war eine Leidenschaft im Verborgenen in ihr.
Die Psychologin war eine ›HP‹, wie ihr Namensschild verriet, eine Heilpraktikerin. Also nichts, was ernstzunehmen war. Sie tat ja nichts, um ihr, Jenny, wirklich zu helfen, außer ihr Ende kommunikativ vorweg zu nehmen, zu dem Jenny noch gar nicht bereit war. Die Psychologin war bezahltes Beiwerk, wie Jenny lakonisch feststellte.
Vielleicht zehn Wochen hatte sie noch, wenn sie die Covid-19-Erkrankung in den Griff bekämen, sagte die Ärztin. Sie riet zu einer Wohngruppe in einem Hospiz – noch so ein Wort, das Jenny nur von alten Menschen her kannte, die bald stürben. War sie nun wie solche Menschen?
Sie schlug die Bettdecke zurück. »Ich möchte nach Hause.«
Doch sie kam nie wieder nach Hause. Die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit klang binnen zwei Wochen ab. Jenny war eine starke junge Frau, zumindest stärker als das Virus. Doch der Tumor übernahm danach die Kontrolle über sie. Sie durfte nicht mehr heim, wurde gepflegt in einer Einrichtung. Sie blieb allein dort. Allein mit ihrer Angst. Denn dieser Tumor ängstigte sie, die Aussicht, die Kontrolle über sich zu verlieren. Nie verlor sie die Kontrolle – nie! Wer aus Marzahn raus wollte, konnte dies nur planvoll kontrolliert schaffen. Doch nachdem sie von Covid-19 genesen war und danach noch wegen der Quarantäne im Krankenhaus, fand sie ihr Gleichgewicht nicht mehr wieder, wenn sie aufstand, obwohl sie in diesen Momenten tief in ihrem Inneren zweifelte, je ihr Gleichgewicht gehabt zu haben. Das aber konnte gar nicht sein: die Kontrolle verloren zu haben! Früher hatte ihr Körper stets gerade Gewehr bei Fuß gestanden. Jetzt wankte Jenny, kaum dass sie aufgestanden war, und stützte sich mit der Hand an der Wand ab. Sie straffte ihr Kreuz und selbst das half nicht.
Wenn das Tablett mit dem Mittagessen im Krankenhaus gegen zwölf Uhr zu ihr kam, sah sie das Tablett doppelt und griff häufig ins Leere. Wenn sie aufstand, schlingerte sie dem Bad entgegen wie eine Betrunkene und prallte schmerzhaft auf die Wand einen halben Meter neben der Tür. Sie rieb sich die Stirn, die ihr wieder normal warm vorkam, aber was nützte ihr das gegenüber einem übermächtigen tödlichen Feind, der in ihrem wichtigsten Körperteil, ihrem Gehirn, einen Mord – ihre Ermordung vorbereitete?
Sie schob die öde dünne Bettdecke ganz langsam beiseite, sie hatte Zeit, die ganzen Tage hier in der Klinik dehnten die Stunden und Minuten, hatte sie vielleicht unendlich Zeit? Sie betrachtete ihren Körper. Ein schöner Körper, schlank, damit war alles okay – alles bestens – eigentlich. Ging es ihr zeitweise sehr viel besser, erschienen vor ihrem inneren Auge junge Männer, die sie kannte. Aber sie hatte keine Lust auf sie. Wobei, eigentlich hatte sie schon Lust auf sie, wären die Umstände ihres Lebens andere. Doch so würde sie Sex mit einem Jungen wohl nicht mehr erleben. Schmählich, so empfand sie es, würde sie als Jungfrau sterben. In Berlin gab es so eine doofe Formulierung dazu: ›ungeöffnet zurück‹. Aber so würde es kommen. Sie wusste ganz genau, dass ihre Ablehnung der Jungs nur symptomatisch dafür war, wie sehr sie ihr Leben auf ein einziges Ziel hinsteuerte. Raus aus Marzahn! Aber Marzahn war nur ein Symbol für den Dreck und das Elend. Während der Quarantäne und der Behandlung in der Klinik hatte sie die Zeit, über sich selbst nachzudenken. Ihren nahenden Tod blendete sie einfach aus, so wie sie das Elend in Marzahn zeitlebens hatte ausblenden können. Vielleicht würde sie eine Naturwissenschaftlerin werden, aber eine schöne Naturwissenschaftlerin, nicht so ein brilletragender Nerd. Charmant und doch straight. Das traute sie sich zu. Und in ihrer Vorstellung lebte sie nicht mehr dort, nein, lebte sie nicht mehr bei ihrer Familie, sondern irgendwo außerhalb von Berlin in einer hübschen Wohnung, würde zur Arbeit pendeln und Geld verdienen. Und dann brach ihre Vorstellungskraft bei den immer wiederkehrenden Gedanken zusammen. Sie konnte ihre Familie nicht verlassen – es ging einfach nicht!
Hatte sie zwei Wochen lang nach dem Abklingen des Virus über Tage nur geschwiegen, nahm Jenny das Angebot, das Hospiz zu beziehen, mit einem einzigen klar artikulierten Ja an. Eine einzige Unterschrift auf der letzten Seite des Vertrags mit dem Hospiz, so einfach war das!
Ihre Mutter hatte sie noch abgehetzt einige Zeit lang nach ihrem Einzug ins Hospiz täglich besucht. Jeweils für fast eine halbe Stunde. Sie hatte ihr über ihr Haar gestrichen. Liebe als Herrschaft. Doch sie wusste nichts zu sagen, gar nichts. Sie schwieg, sie war sprachlos und ihre Nähe brachte keinen Trost. Sie würde auch weiterhin schweigen, wenn ihr Kind tot war. Was sollte man schon mit einem Fleck anfangen, der nicht zu beseitigen war und sich ohnehin bald von selbst auslöschte? Da ahnte Jenny den Betrug ihrer Mutter an ihrem Vater und den wahren Grund, warum ihr Papa so krank war. Sie nahm die Hand ihrer Mutter und schüttelte sie, als sie ging und danach nicht mehr wiederkam – bis zum Schluss. Sie verabschiedete sich von ihr wie von einer Fremden. Ihre Mutter hatte sie angenommen als Fleck, der nun bald gereinigt sein würde. Jenny hatte die berechtigte Hoffnung, dass ihre kleine Schwester überleben würde. Da war sie sich sicher, sie würde überleben. Ihr Vater war ein Anderer, sie würde verschont bleiben von diesem unzuverlässigen Gehirn. Das beruhigte Jenny sehr.
Jenny blieb allein die letzten Tage, nur begleitet von mitfühlenden Krankenschwestern und Pflegern. Ihren Vater sah sie nicht mehr und ihre kleine Schwester auch nicht. Sie hatte sich schon lange von ihnen beiden verabschiedet.
Jenny war wie immer zuverlässig und pünktlich. Sie starb auf den Tag genau sieben Wochen nach ihrer Diagnose, war fünf Wochen im Hospiz, wie die Ärzte es ihr vorhergesagt hatten.
Das war es also gewesen. Jenny war tot und dennoch lebte sie – jetzt, wieder. Ihr Ende passte zu dieser Stadt. Immer etwas lakonisch, sogar der Dialekt war so. Die Seele etwas zu sehr versteckt.
»Allah yakun maeak«, hatte Rocco gesagt, als er aufgestanden war und sie an sich hochzog, sie auf die Wange küsste.
Jenny war erleichtert, jetzt ein Engel zu sein. Sie hatte abgeschlossen, und sie war aus Marzahn verschwunden, geflohen, aber sie war kein Flüchtling mehr zwischen Herkunft und Ziel, denn an ihre Herkunft erinnerte sie sich. Nur das Ziel ihrer Reise blieb ihr verborgen. Denn das Ziel war fast wichtiger als die Zeit, in der sie sich befand. Warum war sie hier? Warum war Rocco hier? Was sollte sie hier? Eines schien ihr ziemlich sicher: Ihr Vater würde nicht mehr leben, also sollte sie ihm nicht helfen oder so etwas. War er jetzt auch ein Engel oder einfach nur ein modernder, säkularer Toter oder hatte er vor Gott gestanden, dem einen Gott, der alles geschaffen hatte, Himmel und Erde und wohl auch eine sichtbare und eine unsichtbare Welt, ihre Welt der Engel, und war nicht zurückgeschickt worden? Und sie? Hatte sie vor ihm gestanden? Sie erinnerte sich daran nicht. Aber was war aus ihrem Vater geworden? Warum war er nicht mit ihr hier?
Diese Vorstellung eines wirklich existierenden Gottes entsprach nicht dem, was sie in ihrer Familie der unreligiösen Werktätigen gelernt hatte. Die Vorstellung war irgendwie trotzdem nicht zu verbannen.
Ihre Mutter war schon tot gewesen, als sie noch lebte, sie würde kein Engel werden. Sie würde sich vielmehr eines Tages selbst als Fleck erkennen und aufsaugen und, wenn das nicht gelang, wegwischen. ›Oops, I did it again?‹ Jenny grinste innerlich, fand sich dann aber sehr gemein ihrer Mutter gegenüber, die tatsächlich so viel ausgehalten haben musste.
Aber ihre Schwester: Ihre Schwester würde vielleicht noch leben, wenn Jenny endlich herausbekommen würde, in welchem Jahr sie sich befand. Sie würde eine wunderschöne, intelligente Frau sein. Sie war stolz auf sie, schon immer gewesen. Denn ihre Schwester liebte sie so wie ihren Vater. Ihr schlechtes Gewissen ihrer Mutter gegenüber machte sich in ihr breit. Aber schlechtes Gewissen zahlte nicht auf Liebe ein. Denn auch Liebe war offensichtlich niemals gerecht.
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