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Ungleichheit kann entweder permanent sein oder periodisch (die Fachtermini dafür lauten simultane beziehungsweise sequentielle Hierarchie). Für letztere gibt das bereits erwähnte Buch der Richter ein gutes Beispiel. In einer Zeit, in der »kein König in Israel« war und »jeder tat, was ihn recht dünkte«, tauchte jedes Mal, wenn die Menschen von einem fremden Volk unterdrückt wurden, ein Richter auf.34 Er – einmal auch sie – beanspruchte für sich, ein Gesandter des Herrn zu sein, und wurde von den anderen als solcher akzeptiert; in der Folge sprach er ihnen Mut zu und führte sie aus ihren Sorgen heraus. Noch bis zu seinem Tod richtete er über sie, und danach kehrte wieder der Normalzustand ein. Einige Richter versuchten ihre Autorität an ihre Söhne weiterzureichen, doch in der Regel blieb das auf Dauer erfolglos.
Die wichtigsten Faktoren für die Verschiebung hin zu Häuptlingstümern waren wahrscheinlich folgende: eine wachsende Bevölkerung, die zu mehr Kontakt zwischen den Menschen führte und irgendeine Form der Regierung notwendig machte; die Herausbildung einer materiellen Kultur, in vielen Fällen etwa die Erfindung der Metallnutzung, was zu Spezialisierung, Tauschhandel und der Anlage von Vorräten führte;35 und der Krieg. Der letztgenannte Faktor, Krieg, lässt sich selbst zum Teil als Folge, zum Teil als Ursache der beiden anderen verstehen. Alle drei Faktoren traten in unendlich verschiedenen Kombinationen auf. So konnte zum Beispiel eine Überbevölkerung zu Krieg, Eroberung und der Einrichtung einer neuen sozialen Hierarchie führen, in der die Sieger die Verlierer unterdrückten und ausnutzten. Dazu muss es überall auf der Welt oftmals gekommen sein. Als dagegen James Cook als Erster auf Hawaii landete, erkannte er in der Situation vor Ort genau das Gegenteil. Die Inseln schienen weniger Menschen zu beherbergen, als die zur Verfügung stehenden Ressourcen hätten ernähren können; und diesen Umstand führte er auf andauernde gegenseitige Vernichtungskriege zurück.36
An der Spitze jedes Häuptlingstums stand ein oberster Anführer oder Häuptling – fast immer ein Mann, selten eine Frau. Seine Bedürfnisse, Forderungen und Befehle hatten Vorrang vor denen aller anderen. Umgeben war er von rangniedrigeren Anführern, von denen viele seine Verwandten waren, also Onkel, Brüder, Söhne und Neffen. Andere verbanden sich mit ihm durch Heirat mit seinen weiblichen Verwandten, wodurch sie ihre politischen Bündnisse mit ihm zementierten. Gemeinsam bildeten sie eine erheblich privilegierte Oberklasse, die vor allem auf Verwandtschaft beruhte. Der Häuptling hatte überproportional viele Frauen (häufig von sehr viel niedrigerem Status); das wiederum verschaffte ihm eine überproportional große Nachkommenschaft. Selbst in den wenigen offiziell monogamen Gesellschaften wie etwa im homerischen Griechenland bildeten die Anführer in der Regel große Harems aus versklavten Frauen.37 Die Polygynie war eine Ungleichheit in dem Sinn, dass einige so viele Frauen hatten, wie sie wollten oder sogar mehr, andere dagegen leer ausgingen. Viele Häuptlinge hatten auch Handlanger, also eine gewisse Anzahl von Männern, die von ihnen abhängig waren und direkt für sie oder unter ihnen arbeiteten; diese konnten sie unter anderem dafür nutzen, ihren Willen bei widerspenstigen Untergebenen auch unter Zwang durchzusetzen.
Der Häuptling verfügte zudem über einen größeren Anteil an den jeweils als am wertvollsten geltenden Gütern, etwa Rinder, Tierhäute, Federn, Kaurischnecken, Edelmetalle oder Einrichtungen, in denen diese Güter sowie Nahrungsvorräte aufbewahrt wurden. Noch bedeutender war, dass sein Zugriff auf diese Güter nicht von der Zustimmung anderer abhing. In seinem Einflussbereich beschränkte ihn im Wesentlichen nur der Zwang, exzessiver Unzufriedenheit und möglichen Revolten vorzubeugen. Der Häuptling schmückte seinen Körper mit allen möglichen wertvollen Objekten, die der Allgemeinheit nicht zur Verfügung standen. Viele Häuptlingstümer hatten auch Aufwandgesetze, die solche Gegenstände ausschließlich dem Häuptling und seinen unmittelbaren Untergebenen vorbehielten.
Die Wohngemächer des obersten Häuptlings waren viel besser als die aller anderen beschaffen und ausgestattet. Einige lebten in riesigen Festungen oder Palästen, die Tausenden Handlangern beiderlei Geschlechts Platz boten. Der oberste Häuptling besaß Autorität über alle anderen, häufig auch die Autorität, jene, die ihm missfielen oder die er für schuldig befand, zum Tode zu verurteilen. Seine eigene Person dagegen galt als sakrosankt. Auch Haare, Nägel oder gar Vorhäute nahmen teil an dieser Heiligkeit, selbst nachdem sie vom Körper abgeschnitten, abgetrennt waren. Ebenso waren Ehefrauen und Verwandten beiderlei Geschlechts, ja sogar viele seiner belebten oder unbelebten Besitztümer unantastbar. Besonders bedeutend in dieser Hinsicht waren die Insignien wie etwa Diademe, Zepter, Federn, Armbänder und bestimmte Typen von Kleidung und Mobiliar. Sie wurden sorgfältig bewacht und üblicherweise zu bestimmten Festlichkeiten getragen oder ausgestellt.
Die Häuptlinge verdankten ihre Position entweder ihrer eigenen – realen oder angeblichen – politisch-militärischen Leistung oder der Vererbung. In beiden Fällen fanden ihre Privilegien eine zusätzliche Stütze in der Religion. Häufig reichte ihre Abstammung zurück zum Stammesgott oder den Stammesgöttern. Entweder ihre Vorfahren oder sie selbst waren zu irdischen Vertretern der Gottheit(en) bestimmt worden. Im Alten Testament lautet der Begriff dafür »Erwählter Gottes«. Um die Rolle der Vererbung zu unterstreichen, werden etwa die Masken oder Mumien der Häuptlingsvorfahren oder irgendwelche symbolischen Gegenstände, die mit ihnen assoziiert werden, sorgsam verwahrt. Einige der mit der Anführerschaft verbundenen Objekte, zum Beispiel der berühmte Goldene Stuhl Asantes, waren angeblich direkt vom Himmel gefallen. Um die Verbindung zum Göttlichen noch weiter zu stärken, wurden die Hauptereignisse im Leben des Häuptlings, etwa Geburt und Tod, sowohl ausgiebig gefeiert, als auch mit Tabus belegt. So konnte etwa bei seiner Ernennung für die Untergebenen jeden Rangs ein Sexverbot gelten; bei seinem Tod konnte es verboten sein, metallene Gegenstände zu berühren oder bestimmte Trommeln zu schlagen und so weiter.
Für die Feierlichkeiten rund um den Häuptlingskult und zugleich als Schutz vor Störungen waren Palast und Tempel in der Regel so gebaut, dass sie einen gemeinsamen Komplex bildeten, der von einer Palisade oder einer Mauer umringt war. Innerhalb des Komplexes waren Palast und Tempel durch einen »heiligen Pfad« verbunden, auf dem ritualisierte Prozessionen abgehalten wurden. Alles das verschaffte dem Häuptling eine Stellung, in der er selbst sein eigener Hohepriester war. In dieser Funktion war es zugleich sein Recht und seine Pflicht, bestimmte Riten und Zeremonien zu vollziehen, von denen angeblich das Wohlergehen der Gemeinschaft abhing. Wenn dagegen aus dem einen oder anderen Grund kein Häuptling vorhanden war und die Zeremonien unterbleiben mussten, konnten daraus Naturkatastrophen wie Heuschreckenplagen, Waldbrände und Dürren oder aber Überschwemmungen folgen. Die Heimskringla oder Sagen der nordischen Könige berichtet wiederholt, dass zu Zeiten dieses oder jenes frühmittelalterlichen Häuptlings die Zeremonien vollführt wurden und das Land fruchtbar war (oder eben nicht). Der Kontinuitätszwang war ein starker Anreiz, dafür zu sorgen, dass es nicht zu herrscherlosen Übergangszeiten kam. Um dies doppelt abzusichern, fielen die Daten, an denen die verschiedenen Zeremonien abgehalten wurden, tendenziell mit Ereignissen des Bauernjahres zusammen.38
Unter der Aristokratie – von griechisch aristoi, »die Besten« – kam das gemeine Volk. Im archaischen Griechenland hießen diese Menschen Theten (thetes, »Lohnarbeiter«) und Kakoi (kakoi, »die Schlechten«). In Thessalien kannte man sie als Penesten (penestai), also »die Armen« oder »Dienstmänner«. Die Natchez in Oklahoma sprachen von »Stinkern«. Viele Häuptlingstümer hatten auch getrennte Populationen von Leibeigenen und/oder Sklaven, die in der Hierarchie ganz unten standen. Insgesamt konnte es also bis zu vier Klassen geben, etwa im angelsächsischen England oder im vorchristlichen Skandinavien; in Tahiti und Hawaii waren es sogar fünf. Um es noch komplizierter zu machen, unterschieden sich in einigen Häuptlingstümern – vor allem, wenn ihre Entstehung und Geschichte stark von Krieg und Eroberungen geprägt war – die Mitglieder der Oberklasse(n) auch ethnisch von denen der unteren Klassen. In diesem Fall achteten sie wahrscheinlich darauf, die Trennung beizubehalten, etwa durch Heiratsverbote sowie durch verschiedene Tätowierungen, Kleidung, persönlichen Schmuck und so weiter. »Tatsächliche« Ungleichheit wurde so noch künstlich hervorgehoben und verstärkt.
Das alttestamentarische Buch Josua nennt ein gutes Beispiel für eine solche auf Ethnien gegründete Gesellschaft. Nach der Eroberung Palästinas im 15. Jahrhundert v. Chr. machten zunächst die Israeliten die Gibeoniter zu »Holzhauern und Wasserschöpfern«.39 Später dann, in der herrschaftslosen Zeit der Richter, wurden sie selbst wiederholt von fremden Invasoren unterworfen und versklavt. Und 1990 bis 1994 führte in Ruanda und Burundi der Kontrast von Tutsi und Hutu zu einem furchtbaren Bürgerkrieg und Völkermord; und das, obwohl beide Völker dieselbe Sprache sprechen und von außen praktisch nicht zu unterscheiden sind.
Wichtig ist für uns zuvörderst, dass bei alledem nicht einmal ein Anspruch auf Gleichheit bestand. Während die Höhergestellten selbst ein endloses Postenkarussell vollführten, dessen Währung die Macht war, gerierten sie sich vom Häuptling abwärts als Herrscher und Ausbeuter. Angehörige des gemeinen Volks nahmen ihr Schicksal entweder hin oder wurden ausgemerzt. Häufig hatten sie zu ökonomischen Mitteln nur dann Zugang, wenn sie in irgendeiner Form Tribut an den Ranghöheren zahlten; entweder einen Pachtzins oder Zwangsarbeit oder die Pflicht, hochwertige Güter abzuliefern – womöglich sogar ihre Töchter. In diesem Brauch liegt der Ursprung der berühmten »Amazonen« von Dahomey (Benin). Sie waren keineswegs unabhängige Soldatinnen, sondern offiziell Konkubinen des Königs, die über eine jährliche Abgabepflicht rekrutiert wurden.40 Zwar ging er nicht unbedingt mit allen von ihnen ins Bett – dazu waren sie zu viele –, aber ein Recht darauf hatte er ganz sicher. Eine weitere Abhängigkeit von den Ranghöheren bestand für das gemeine Volk darin, dass es für seine Kommunikation mit den Gottheiten von ihnen abhängig war. Politische Rechte hingegen hatte es nicht.
In der Ilias erleben wir, wie Odysseus den Thersites schlägt, einen Mann, der sich keiner edlen Abstammung oder militärischer Leistungen brüsten konnte – nur weil er es gewagt hat, vor der Versammlung das Wort zu ergreifen. Die Versammlung selbst pflichtet Odysseus lautstark bei, ganz ungeachtet dessen, dass in den Worten des Thersites, eines eloquenten, wenn auch außerordentlich hässlichen Mannes, viel Wahres lag.41 In Ermangelung jeglicher formaler Institutionen, die der Gesellschaft als Korsett hätten dienen können, war die Ungleichheit vor dem Gesetz (oder vielleicht besser vor dem Brauch) genau das, was die Gemeinschaft zusammenhielt. Ein geordnetes Leben wurde nur dadurch möglich, dass einige Vorrang vor anderen hatten und mehr Rechte besaßen. Über das gesamte sozio-politische Spektrum hinweg hatte jedes Individuum seinen eigenen Platz sowie seine klar definierten Rechte und Pflichten. Solange diese Rechte und Pflichten beachtet wurden, herrschten vielleicht nicht unbedingt Freiheit und Gerechtigkeit, aber jedenfalls Frieden.
Natürlich funktionierte das alles in der Theorie besser als in der Praxis. Sowohl in den griechischen Epen als auch in der weiten Welt waren Gewalt und Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen häufig und ihr Verlauf brutal. Beteiligt sein konnten daran Menschen ein und derselben Klasse oder auch Angehörige unterschiedlicher Klassen. Allein schon wegen der Polygamie des Häuptlings und seiner Angehörigen war dessen Verwandtschaft sehr umfangreich, so dass Streit und Kampf um den Thron eher die Regel als die Ausnahme waren. Besonders der Tod eines Häuptlings löste mit großer Wahrscheinlichkeit einen Konflikt aus, und Dynastien hielten sich selten länger als über zwei oder drei Generationen. Zeitweise fühlten sich die Angehörigen der unteren Klassen derart geknechtet, dass sie sich mehr oder weniger spontan – und mehr oder weniger erfolgreich – gegen die Obrigkeit erhoben. Auch benachbarte Häuptlingstümer gerieten in Konflikt miteinander; Streitpunkte waren Wasser, Ackerland, Weiden, jede Form von Besitz und Frauen. Sofern nicht eine Seite die andere ganz auslöschte, führte ein siegreicher Krieg üblicherweise zu noch größerer Ungleichheit als zuvor.
Die Regel in der Tierwelt ist ganz eindeutig nicht Gleichheit, sondern Ungleichheit. Bei in Verbänden lebenden Säugetieren und insbesondere bei Primaten hatten nie zwei Individuen exakt denselben Status. Falls es doch dazu kam, blieb es nicht lange dabei. Das Leben an sich, so erklären Zoologen, ist ein einziger langer Kampf, um so bald wie möglich die höchste Position zu erlangen, sie so lange wie möglich zu besetzen und sich die Privilegien in Ernährung und Sexualität zunutze zu machen, die damit einhergehen.42 Ausgetragen wird dieser Kampf mit allen Mitteln, häufig auch mit Gewalt. Abgesehen von der angenehmen Seite dieser Privilegien werden die Sieger durch Reproduktionserfolg belohnt.43 Was den Menschen angeht, zeigt sich, dass sowohl die Philosophen des 18. Jahrhunderts mit ihrer Bewunderung für die »Wilden«, als auch die Ethnografen des 19. Jahrhunderts mit ihrer tiefen Verachtung falsch lagen. Alles ist relativ, doch selbst in den einfachsten bekannten Gesellschaften ist die Gleichheit durchaus nicht vollkommen. Kein Volk, nicht einmal die Andamaner, lebte offenbar in einer Gesellschaft, in der der Zugriff auf Ressourcen gleich war, in der alles allen gehörte und in der kein Individuum die Autorität besaß, Befehle zu erteilen, oder die Pflicht hatte, zu gehorchen. Jegliche je existierende Gesellschaft beruhte nicht nur auf Ungleichheit, sondern bestand geradezu daraus.
Zusammengefasst erkennen alle menschlichen Gesellschaften Unterschiede in Alter und Geschlecht an, die sich in unterschiedliche Fähigkeiten bei der Nahrungsproduktion sowie in unterschiedliche Rechte und Pflichten übersetzen. Abgesehen von diesen Faktoren scheint die Vermutung vernünftig, dass einige der ältesten Rechtfertigungen für Ungleichheit auf Magie, Geisterkult, Religion oder andere Auffassungen vom Übernatürlichen zurückgingen. Diese These vertraten Ende des 19. Jahrhunderts etwa Anthropologen wie James Frazer in Der goldene Zweig (1890). Ihrer Theorie nach konnten als erstes Propheten, Schamanen und vergleichbare Wundertäter ihr Wissen in Einfluss ummünzen. Indem dieser Einfluss stufenweise zu Autorität wurde, Autorität zu Macht und Macht zu Eigentum und Privilegien, bildeten sich Häuptlingstümer heraus. Freilich ist der Geschichte zu entnehmen, dass das nicht immer so einfach und geradlinig ablief. Ausgrabungen in Russland zeigen etwa, dass bereits vor 30 000 Jahren, also lange bevor die sogenannte Neolithische Revolution Sesshaftigkeit ermöglichte, einigen Menschen relativ großer Reichtum ins Grab gelegt wurde; andere dagegen wurden mit kaum irgendeiner Beigabe bestattet. Erstere waren wahrscheinlich Häuptlinge, Letztere aus dem gemeinen Volk.44 Wie es dazu kam, wissen wir nicht. Außerdem war sowohl bei Menschen, als auch bei vielen Tieren Ungleichheit in Begleitung von Unterwürfigkeit – das heißt also anerkannte Ungleichheit – genau der Faktor, der die Gemeinschaft oder Gruppe zusammenhielt. Anderenfalls hätten Individuen, die um materielle und sexuelle Ressourcen konkurrierten, einander wohl in Stücke gerissen. Und das nicht nur gelegentlich, sondern ständig.
Das erste Volk, das sich an die Gestaltung einer Gesellschaft machte, die in gewisser Hinsicht auf Gleichheit basierte, waren die Einwohner im archaischen Griechenland. Leider haben wir über diese Zeit insgesamt nur sehr spärliche Informationen; überwiegend beschränken sie sich auf archäologische Funde und auf die Dichtungen von Homer und Hesiod. Dazu kommen viele Mythen über Götter, Ungeheuer und übernatürliche Heldentaten. Wegen ihres mythologischen Charakters sowie der Tatsache, dass sie erst Jahrhunderte nach den angeblich beschriebenen Ereignissen niedergeschrieben wurden, sind sie freilich in ihrem dokumentarischen Wert problematisch. Schließlich gibt es noch einige zufällige Bruchstücke in den Schriften griechischer Historiker der klassischen Ära. Und dass im so genannten dunklen Frühmittelalter nicht geschrieben wurde, macht die Sache auch nicht gerade einfacher.
Diesen wenigen Quellen zufolge wohnten zwischen etwa 1100 und 700 v. Chr. in Griechenland Gruppen in einem Zwischenstadium zwischen Hordengesellschaften und Häuptlingstümern. In der Ilias heißt der oberste Anführer Agamemnon. Um noch einmal Thersites zu zitieren: »Reich mit Erz sind [Agamemnons] Zelte gefüllt, und Weiber in Menge Sitzen in deinen Gezelten«. Wann immer eine Stadt erobert wurde, beanspruchte er die beste Beute für sich selbst, wie es ihm kraft seines Ranges auch zustand. Er war umgeben von rangniederen Anführern, von denen Odysseus, gemessen an der Anzahl von Kriegern, die er mobilisieren konnte, zu den eher unbedeutenden gehörte. Sie werden als »großzügig« beschrieben; er erhielt »Geschenke« von ihnen, und er besaß eine gewisse Autorität über sie; so viel jedenfalls, dass die anderen Anführer um seinetwillen ihre Heimat verließen, sich ihm an einem vereinbarten Treffpunkt anschlossen und zehn Jahre lang mit ihm Krieg führten, obwohl keiner von ihnen persönlich von den Trojanern behelligt worden war – wirklich keine geringe Leistung.
Dabei war Agamemnon kein Despot. Besonders interessant ist seine Beziehung zu Achilles. Als individueller Krieger war Achilles dem Agamemnon haushoch überlegen, das wussten sie beide. Und doch konnte Agamemnon ihm drohen, er werde notfalls in Achilles Lager einfallen und sein Ehrengeschenk rauben, das Mädchen Briseis. Damit würde er Achilles beibringen, »wie viel höher ich sei als du, und ein anderer zage, gleich sich mir zu dünken und offen zu trotzen ins Antlitz!«1 Schließlich befehligte er mehr Krieger und besaß, um sie zu bezahlen, wahrscheinlich größere Schätze als jeder andere; doch als Achilles sich aus dem Krieg zurückzog, konnte Agamemnon ihn nicht daran hindern. Um ihn zurückzulocken, musste er ihm schmeicheln, Versprechungen machen und wertvolles Eigentum übertragen. Ihre Beziehung beruhte also weder auf Autorität noch auf Gleichheit, sondern auf einem gewissen Interessensausgleich. Zudem ging nach Ende des Krieges jeder Unter-Anführer zurück in seine asty, was sich am treffendsten mit »Zitadelle« übersetzen lässt. Nichts weist darauf hin, dass irgendeiner von ihnen weiterhin Agamemnons Autorität unterstand oder ihm gar Tribut zahlte. Da diese Heimatstädte von Pylos im Westen der Peloponnes und im Osten bis nach Kreta verteilt waren und zudem manche von ihnen nicht nur durch Land, sondern auch durch das Meer voneinander getrennt waren, wäre das auch höchst unwahrscheinlich gewesen.
Die Anführer werden bald als anax, bald als basileus bezeichnet. Über die gesamten Dichtungen hinweg werden die beiden Termini wahlweise verwendet, häufig für dieselbe Person. Allerdings fällt der Titel anax vor allem den mächtigeren Anführern wie Zeus und Agamemnon zu. Sie verdankten ihre Stellung drei Faktoren, nämlich ihrer politisch-militärischen Leistung, ihrem Reichtum und ihrer Abstammung. Dass man sich der Abstammung erinnern muss, erklärt, warum das 2. Buch der Ilias sie in einem so detaillierten Katalog vorführt. Aus diesem Grund werden auch all die Völker genannt, die von ihnen beherrscht wurden, sowie die vielen Schiffe, die jeder von ihnen für seine Kriegszüge aufbringen konnte. Und jedes Mal, wenn ein griechischer Anführer auf dem Schlachtfeld einem Trojaner gegenübersteht, brüsten sich als erstes beide ihrer Vorfahren. Manche von ihnen beanspruchen göttliche Abstammung, obwohl ihnen diese Tatsache an sich offenbar keinen besonderen Vorrang vor den anderen verleiht: Dass etwa Sarpedon Zeus’ eigener Sohn ist, schützt ihn nicht davor, von Patroklos getötet zu werden. Andere, die zwar nicht von Göttern abstammen, werden gleichwohl als »göttergleich« bezeichnet.2
Von Gleichheit, egal ob sozial, ökonomisch, politisch oder vor dem Gesetz, konnte ohnehin nicht die Rede sein. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass sowohl in der Ilias, als auch in der Odyssee abgesehen von Unterhaltungen mit göttlichen Wesen praktisch alle Begegnungen, seien sie friedlicher oder feindlicher Natur, zwischen Aristokraten stattfinden. Das gemeine Volk, das sie so zahlreich anführten, kommt äußerst selten ins Bild. Zwar spielt es eine größere Rolle in der Odyssee als in der Ilias. Das liegt jedoch nur daran, dass der Held, der über Jahre fern der Heimat und fern von anderen Anführern umherreist, stärker von ihm abhängt als das normalerweise der Fall wäre. Wir begegnen so Bauern, Hirten, Handwerkern, Ärzten und Wahrsagern, die das Epos allerdings nur selten beim Namen nennt. Das geschieht nur dann, wenn sie wie im Fall des unseligen Thersites gegen einen Anführer aufbegehren oder ihm helfen wie einige von Odysseus’ Bediensteten nach der Heimkehr von seiner Irrfahrt.
Will man die homerischen Epen als historische Quellen nutzen, so stößt man sich daran, dass sie wie die Sagen und Mythen ihre endgültige Form erst Jahrhunderte nach den beschriebenen Ereignissen erhielten. In diesen Jahrhunderten verschwand mit der Mykenischen Kultur eine ganze Zivilisation von der Erde. Das Land wurde wiederholt besetzt, und die sozio-politischen Organisationssysteme erfuhren radikale Veränderungen. Von Hesiod, der wahrscheinlich kurz nach Homer lebte, hören wir, dass einige Menschen reich und mächtig waren, andere arm und demütig. Häufig unterdrückten die Reichen die Armen, und in der Tat kann man sein Lehrgedicht Werke und Tage als Protestschrift gegen diese Unterdrückung lesen. Freilich fordert der Dichter nicht, Gleichheit durch- und die Anführer abzusetzen, allerdings verlangt er von letzteren Gerechtigkeit.3 Abgesehen davon liefert er wenige Details über das Funktionieren der Gesellschaft.
Dass es diese Häuptlingstümer einst wirklich gegeben hat, beweist am besten die Tatsache, dass selbst in der klassischen Ära viele Balkanstämme sich noch nicht per synoikismos zusammengeschlossen hatten, der »Zusammenlegung von Haushalten« zu einer einzigen Polis. Völker wie die Illyrer, die Thraker und die Ätolier lebten weiterhin in so genannten ethne, was sich als Volksstamm, Haufen oder Schar übersetzen lässt. Jedem »Volk« stand ein ethnarch vor, was ziemlich genau Stammesfürst, also Häuptling bedeutet. Die städtischen Griechen sahen auf sie herab und befanden sie für rückständig. So bezeichnet Thukydides die Ätolier als streitbares Volk, dem es freilich an befestigten Städten fehle: Sie lebten in offenen Dörfern und hätten nur eine leichte Bewaffnung.4 Und die New Cambridge Ancient History sagt von den Thrakern, sie bildeten ein Häuptlingstum von »quasi feudalem Charakter« samt »Vasallenherrschern«.5 Sie hinterließen allerdings kaum schriftliche Zeugnisse, so dass über sie nur wenig bekannt ist.
Ein weiterer Hinweis sind die Namen der untergeordneten Volksabteilungen (Phylen), die in vielfältiger Form in vielen klassischen Stadtstaaten, auch in Sparta und Athen, noch Jahrhunderte nach deren Herausbildung weiter existierten. Diese Gruppen hießen Stämme, Geschlechter, Abstammungsgruppen und Gattungen. Wie egalitär oder unegalitär diese Gemeinschaften und ihre Mitglieder waren, bevor sie sich zusammenschlossen und zu einer polis verschmolzen, lässt sich unmöglich feststellen. Ihre tatsächliche Rolle in der Polis verschob sich ständig und ist schwer nachzuvollziehen. Doch wie auch immer sie organisiert waren, ursprünglich bestanden sie jedenfalls offenbar aus Anführern und deren Gefolge. Ein moderner Forscher versuchte nachzuweisen, dass sie nicht ausschließlich aus Verwandten bestanden, und übersetzte das Wort phylon mit Führergruppe. Damit meinte er eine temporäre Vereinigung, die ein Anführer willkürlich formte, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.6
Wie schafften es die griechischen Häuptlingstümer vor diesem wenig vielversprechenden Hintergrund, sich nicht zu noch ungleicheren bürokratischen oder feudalen Staatswesen weiterzuentwickeln – dieser Prozess nämlich war, wie wir sehen werden, das übliche Schicksal zahlloser ähnlicher Gesellschaften weltweit. Sicher ist, dass die Idee der Gleichheit mit all ihren komplexen sozio-ökonomisch-politischen Implikationen jedenfalls nicht aus dem Orient nach Griechenland gelangte. Dabei war der Nahe Osten in dieser Zeit in sozialer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht sehr viel weiter fortgeschritten als das kleine und relativ arme Griechenland. Wir wissen auch, dass zumindest seit 1200 vor Christus Waren und Ideen in beide Richtungen ausgetauscht wurden. So importierten die Griechen etwa das Alphabet, das sie wohl im Lauf des 8. Jahrhunderts vor Christus erreicht haben dürfte. Aber was sich aus dieser Quelle lernen ließ, war doch begrenzt. Bereits seit dem 3. Jahrtausend waren sowohl Ägypten als auch Mesopotamien von einem der ungleichsten, hierarchischsten Despotismen unterjocht, die es auf der Welt je gab. Um sich das klarzumachen, braucht man nur die Pyramiden zu betrachten. Wenn die Macht der Pharaonen oder auch der assyrischen, babylonischen und persischen Könige irgendwelche Grenzen kannte, dann waren sie nur technischer und keinesfalls gesetzlicher Natur. Noch die Griechen selbst bezeichneten den persischen Herrscher als »Großkönig«. Zumindest bis zu Alexander dem Großen und seinen Nachfolgern hatten sie selbst nichts Vergleichbares vorzuweisen.