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Womöglich spielte die Geografie mit den vielen durch Bergketten voneinander abgetrennten Tälern eine Rolle dabei, dass Griechenland nicht auch unter einer solchen imperialen Herrschaft geeint wurde. Allerdings sind andere Teile der Welt mindestens genauso gebirgig; einige, wie das präkolumbische Peru, waren trotzdem unter einer ebenso hierarchischen und absoluten Zentralmacht geeint wie fast alle Reiche in der Alten Welt. Andere Regionen wie Tahiti blieben in eine Vielzahl von Häuptlingstümern zersplittert. Und wenn Völker in ausgedehnten Ebenen lebten wie die australischen Aborigines oder die nordamerikanischen Ureinwohner, führte das nicht unbedingt von sich aus zur Entstehung von Imperien. Der Jahrtausende dauernde Widerstand der Mongolen gegen die chinesische Herrschaft zeigt schließlich, dass große offene Räume genauso gut dazu genutzt werden konnten, einer Zentralmacht zu entkommen wie sie einzurichten. Kurz, die Topografie und die dazugehörige Biosphäre kann viel erklären; doch sie allein begründet nicht, warum einige Gesellschaften sich in eine gewisse Richtung entwickelten und andere nicht.
Städte, also permanente Siedlungen mit einem erheblichen Bevölkerungsanteil, der nicht von der Landwirtschaft lebt, sondern von Industrie und Handel, entwickelten sich an verschiedenen Orten der Erde. Doch abgesehen von den phönizischen Städten, über die wir nur sehr wenig wissen, und denen in Italien, auf die wir später zu sprechen kommen, herrschten dort nur unbedeutende Könige. Ihre soziale und politische Struktur war mindestens so ungleich wie die der Häuptlingstümer. Viele von ihnen waren keineswegs unabhängig, sondern standen im Zentrum eines hoch entwickelten Häuptlingstums. In der griechischen Welt gab es zumindest eine solche und sehr bedeutende Stadt, nämlich Pella, Hauptstadt der makedonischen Könige, die am Ende in ganz Griechenland einfielen.7 Die Aussage eines Historikers: »der [griechische] Stadtstaat entstand aus Spannungen innerhalb einer landwirtschaftlich geprägten Welt heraus« und sein Aufkommen »wurde wohl erheblich durch die andauernde Schlichtheit ökonomischer Muster und durch immer noch primitive Sozialstrukturen der Epoche ermöglicht«, hilft da auch nicht wirklich weiter.8
Es wurde versucht, die Entstehung der klassischen Polis im Laufe des 7. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Kriegsführung mit Hopliten in Verbindung zu bringen.9 Diese Kriegsführung in eng geschlossenen Formationen erforderte eine sehr gute Zusammenarbeit unter ähnlich bewaffneten, ähnlich geschulten Infanteristen in schwerer Rüstung, die im Gleichschritt manövrierten. Nicht einmal die Anführer traten mehr in gesonderten Duellen gegeneinander an wie noch in der Ilias, sondern kämpften häufig wie alle anderen.10 Damit vergrößerte sich die Macht der Gemeinschaft, während die der Anführer abnahm. Problematisch an dieser Interpretation ist die Tatsache, dass Phalanx-ähnliche Kampfformationen, die von den Monarchen oder ihren Vertretern organisiert, bezahlt und vermutlich auch kommandiert wurden, sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien zumindest seit dem 3. Jahrtausend vor Christus verbreitet waren. Schließlich erfordert es keine allzu große intellektuelle Anstrengung zu erkennen, dass im geeigneten Gelände vereinte, disziplinierte Truppen bestimmte Aktionen durchführen können, die bloßen Einzelkämpfern unmöglich sind. Bis hin zu ihren Symbolen wirkten solche Truppen als Instrumente der königlichen Macht. Dabei waren sie weit davon entfernt, den Weg zu Gleichheit oder Demokratie zu ebnen.
Andere versuchten, das Aufkommen der griechischen Demokratie in einen Zusammenhang mit der Monogamie zu stellen.11 Dass griechische Männer nur eine Frau haben durften, so ihre Argumentation, bedeutete, dass mehr von ihnen heiraten konnten. Das wiederum bewirkte weniger ungleichmäßige Reproduktionsraten und größere Gleichheit unter den Bürgern. Wie bereits erwähnt, ignoriert diese Erklärung jedoch, dass in der Praxis Anführer wie Agamemnon und Odysseus so viele Frauen haben konnten (und hatten) wie sie wollten. Die Römer waren nicht weniger monogam als die Griechen, und in der Republik nicht strenger als im Kaiserreich. Trotzdem konnte das nicht verhindern, dass das Modell, das am Tiberufer als Stadtstaat begonnen hatte, sich allmählich zu dem am stärksten hierarchisch organisierten Imperium der gesamten Geschichte entwickelte. Überdies bildete der Untergang Roms die Grundlage für den europäischen, also christlichen Feudalismus. Dabei verlangte das Christentum immer, dass jeder Mann und jede Frau zu einem Zeitpunkt nur einen legitimen Ehepartner hat. Und doch ähnelte der christliche Feudalismus dem römischen Kaiserreich insofern, als es absolut kompatibel war mit den krassesten Formen der Ungleichheit, ja sich sogar auf diese gründete.
Eine dritte, in der Literatur nur selten genannte Erklärung ist ein Wandel in der religiösen Organisation. Wir haben bereits festgestellt, dass die Religion, also eine Art Anspruch auf Nähe zu den Göttern, möglicherweise die früheste Grundlage für Ungleichheit und daraus folgernd für Herrschaft gewesen ist. Das aber gilt nicht für die Welt, wie sie sich in den homerischen Epen darstellt. Vielmehr präsentiert uns die Ilias zwei Priester, Chryses (der Vater der Chryseis) und Kalchas. Beide dienen den Göttern, beten zu ihnen und erhalten gelegentlich Antwort auf ihre Gebete. Keiner von beiden ist freilich göttlicher Abkunft, und keiner von ihnen herrscht über irgendwen oder irgendetwas. Mit seinem Flehen, Agamemnon möge ihm seine Tochter zurückgeben, gibt insbesondere Chryses eine geradezu klägliche Figur ab. Die homerischen Heerführer dagegen, und das gilt auch für die, die angeblich von Göttern abstammen oder göttergleich sind, begründen ihren Herrschaftsanspruch keineswegs explizit mit dieser Tatsache. Genauso wenig verhalten sie sich als ihre eigenen Hohepriester. Ihre Autorität ist weltlich, nicht religiös.
Wann, warum und wie die homerischen Anführer ihre besonderen Bindungen an die Götter aufgaben und ihre weltliche Herrschaft nicht länger mit göttlichem Rückhalt rechtfertigten, ist völlig unbekannt. Eindeutig aber war es ein Schritt, und zwar ein sehr wesentlicher Schritt, hin zum klassischen Stadtstaat und der Art von Gleichheit, die dort manchmal vorherrschte. Die Amtsträger, die die Stadtstaaten regierten, verdankten ihre Stellung in der Regel nicht den Göttern. Und griechische Priester wiederum waren meist Amtsträger wie alle anderen.12 Die Liste der Erklärungsversuche für die Entstehung der Polis ist damit noch lange nicht vollständig, doch keiner ist so überzeugend, dass er jedem Widerspruch standhalten würde. So sollten wir denn die Polis, den selbstverwalteten Stadtstaat, als gegeben nehmen und daran die Natur und die Entwicklung unseres Themas Gleichheit nachzeichnen.
In der Praxis konzentrieren wir uns dabei auf zwei von mehreren hundert Stadtstaaten: Sparta und Athen. Sparta, weil dort in gewissem Sinn die Gleichheit weiter vorangetrieben wurde als irgendwo sonst – eine Leistung, für die es neben der viel gefeierten militärischen Stärke in ganz Griechenland berühmt war; und Athen, weil relativ umfassende Zeugnisse zugänglich sind und weil es in seinen eigenen und in den Augen anderer häufig als »Schule von Hellas« galt. Außerdem verstand man schon in der Antike die beiden Städte als radikal unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Systeme und Lebensformen. Eine Untersuchung beider Städte ist das beste Mittel, sie auch beide zu verstehen.
Sowohl in Athen als auch in Sparta bestand der große Schritt in Richtung Polis vor allem im plötzlichen oder auch nur schrittweisen Abbau früherer, auf Abstammung beruhender Organisationsformen. An ihre Stelle trat eine einzige Regelung auf Grundlage von geografischer Lage und Bürgerschaft. In Sparta wurden diese Reformen angeblich von Lykurg durchgeführt. Ob er wirklich existiert hat und wenn ja, wann, ist völlig unklar. Obwohl aristokratischer Abstammung, war er kein Herrscher; Plutarch, der etwa 800 Jahre nach den Ereignissen wirkte, erklärt: »in ihm aber erkannten sie die echte Führernatur und die Fähigkeit, die Menschen zu leiten.«13 Über das Leben in Sparta vor Lykurg wissen wir ebenfalls sehr wenig. Herodot und Thukydides deuten beide an, um die Mitte des 7. Jahrhunderts habe es eine Zeit der Unruhe und des Bürgerzwists gegeben; Herodot zufolge war Sparta vor der Reform»die am schlechtesten regierte Stadt ganz Griechenlands«.14
Was die Gründe dafür angeht, verfügen wir über das Zeugnis des Thukydides, eines gut informierten Realisten ersten Ranges. Er erklärt: »von je war ja in Sparta der Sinn fast aller Maßnahmen die Sicherheit vor den Heloten«, also jener halb versklavten Volksgruppe, die wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts vor Christus in der Folge der Kriege gegen eine andere peloponnesische Stadt, Messenia, entstanden war. Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert, die geknechteten, misshandelten Heloten in Sparta »lauern gewissermaßen ständig auf deren Unglücksfälle«.15 Um sie an dem Versuch einer Selbstbefreiung zu hindern, machten die Spartaner ihre Stadt zu einem einzigen Wehrlager. Sie müssen sich ganz zurecht gefühlt haben, als säßen sie auf einem Pulverfass.
Immer noch nach Plutarch, dessen Bericht bei Weitem am detailliertesten ist, bestand der kritischste Punkt zur Gleichstellung der homoioi (»die sich gleichen«) oder Spartiaten darin, allen privaten Landbesitz zu enteignen und dem Staat zu übergeben. »Denn da eine furchtbare Ungleichheit bestand, viele besitz- und erwerbslose Menschen dem Staat zur Last fielen und der Reichtum in ganz wenige Hände zusammengeflossen war, so ging er daran, Übermut, Neid, Verbrechen, Schwelgerei und die noch bedeutsameren und größeren Gebrechen eines Staates, Reichtum und Armut, auszutreiben. Er überredete die Bürger, den gesamten Grund und Boden zur Verfügung zu stellen und ganz neu aufzuteilen, um danach alle gleich unter gleichen Lebensbedingungen zu leben und einen Vorrang nur durch Tüchtigkeit zu erstreben, da kein Unterschied und keine Ungleichheit unter ihnen bestehen sollte außer derjenigen, welche der Tadel schlechter und das Lob guter Taten bewirkt.«16 Jedes Flurstück war groß genug, um einen Mann und seine Frau zu ernähren, aber mehr auch nicht.
Zu jedem Flurstück kam eine Anzahl von Heloten, die für ihren spartiatischen Herrn das Land bebauten. Damit konnten die Spartiaten ihr Leben vollständig dem militärischen Training widmen. Sie lernten das Vorrücken, den Rückzug und den besten Einsatz ihrer Waffen und wurden damit »die größten, bewährtesten Meister in allen Künsten des Krieges«.17 Da Lykurg sich nicht mit halben Sachen zufriedengab, ließ er auch beweglichen Besitz sammeln und umverteilen. Um die Rückkehr der Ungleichheit durch Handel und Vorratshaltung zu verhindern, wurden Gold und Silber verbannt. Fortan mussten die Spartaner eine eiserne Währung verwenden, die unhandlich und nur für die kleinsten Käufe verwendbar war. Außerhalb Spartas war sie wertlos und wurde dort auch bald mit Hohn und Spott bedacht. Mit der Abschaffung des Grundeigentums, so Plutarch, verschwand auch jede Art von Laster. Nicht nur Genusssucht, sondern auch Wegelagerei, Hurerei, Täuschung durch Wahrsager und andere Gesellschaftslaster waren im Nu Vergangenheit.
Lykurgs Gleichheitsstreben führte zudem direkt zu einer weiteren, »erlesenen« Reform: nämlich der Einrichtung von Tischgemeinschaften (syssitia) oder, um einen Begriff aus der modernen Anthropologie zu verwenden, von Männerhäusern. Hier nahmen die Spartiaten ihre Mahlzeiten ein und verbrachten die Nächte. Diese Gewohnheit mussten sie sogar nach ihrer Hochzeit noch eine Zeitlang beibehalten und ihre Frauen also heimlich besuchen. Voraussetzung für die Aufnahme in die Syssitien und allgemein für die Anerkennung als Vollbürger war die Absolvierung eines langjährigen Erziehungssystems, der so genannten agoge. Sie begann im Alter von sieben Jahren und dauerte bis etwa zwanzig. Dort ging es so rau und beschwerlich zu, dass Aristoteles befand, diese Zucht eigne sich eher für Tiere als für Menschen. Um die eigene Tischgemeinschaft zu unterstützen, musste jedes Mitglied seinen Nahrungsbeitrag leisten. Männer, die aus dem einen oder anderen Grund ihr Flurstück verloren hatten und nichts mehr beitragen konnten, fielen aus dem System heraus. Das wiederum hatte zur Folge, dass sie ihren Status als Spartiat verloren.
Lykurg erachtete die Gleichheit für so wichtig, dass er sie sogar auf den Tod anwendete. Er verbot nicht nur die Bestattung jeglicher Gegenstände bei ihrem Eigentümer, sondern auch die namentliche Kennzeichnung der Gräber. Einzige Ausnahmen von dieser Regel waren Männer, die in der Schlacht getötet worden waren, und Frauen, die den Tod im Wochenbett gefunden hatten. Seine sozio-ökonomischen Reformen ergänzte Lykurg auch durch politische. Sparta, so Plutarch, war lange von zwei basileis beherrscht worden. Doch »die Könige, so meinten [die Spartaner], hatten ja vor der Menge nur den Namen und die Ehre, sonst nichts voraus« und erlagen derselben menschlichen Schwäche.18 Daher neigte die Stadt bald zu den Exzessen der Tyrannei, bald zur Instabilität der Demokratie. Um dieses Problem zu beheben, richtete Lykurg einen Ältestenrat ein, dem achtundzwanzig Männer über sechzig Jahren auf Lebenszeit angehörten. Wenn einer von ihnen verstarb, bestimmte die Volksversammlung, also alle männlichen spartanischen Vollbürger, per Akklamation einen neuen. Sie sollte stabilisierend auf das Staatsschiff wirken, es in ruhiger Fahrt halten.
Schließlich setzte Lykurg oder einer seiner Nachfolger – in dieser Hinsicht sind die Quellen uneins – die Ephonten oder Aufsichtsbeamten ein. Die fünf Männer wurden jährlich gewählt und hatten zur Aufgabe, die Könige zu kontrollieren. Ältestenrat und Könige besaßen das alleinige Recht, die Volksversammlung einzuberufen und dort Anträge einzubringen. Versuchten sie freilich, Themen zu behandeln, die die Ephoren nicht billigten, so konnten diese die Volksversammlung vertagen. Die größten Abweichungen von der Gleichheit bestanden insgesamt darin, dass Privatpersonen nicht individuell vor der Volksversammlung sprechen konnten, dass nur alte Männer in den Rat gewählt werden konnten und dass die Königswürde weiterhin erblich war und lediglich den Mitgliedern zweier Geschlechter offenstand, den Agiaden und den Eurypontiden. Als Lykurg einmal hierzu befragt wurde, kanzelte er den Frager in typischer »lakonischer« Kürze und Prägnanz ab: »Führ du erst mal in deinem Hause die Demokratie ein!«.19 Wichtig ist hier festzuhalten, dass laut Platon die tatsächliche Macht bei den Ephoren lag. Sie wurden zwar jährlich demokratisch gewählt, doch ihre Herrschergewalt hatte ein »erstaunlich tyrannisches Gepräge«. Die Könige, so Platon, waren eher Generäle.
Viele moderne Historiker sind der Ansicht, dass die Reformen nicht von einer Einzelperson, sondern schrittweise über einen viel längeren Zeitraum hinweg durchgeführt und erst im Nachhinein Lykurg zugeschrieben wurden. Selbst falls dieser tatsächlich gelebt hat, musste er mit Sicherheit beträchtlichen Widerstand überwinden und konnte nicht alles auf einmal durchsetzen. Für unsere Belange ist aber viel wichtiger, dass die Gleichheit unter den Spartiaten nur auf Kosten der Heloten erreicht werden konnte. Diese waren nicht nur versklavt, sondern überdies erklärten ihnen die Beamten noch Jahr für Jahr formal den Krieg. Daraufhin lauerte die spartiatische Jugend ihnen mit Dolchen bewaffnet auf und tötete, wen sie wollte. Auch auf vielfache andere Weise wurden sie gedemütigt, wobei alles von fest verankerten Gesetzen gedeckt war, die beinahe als heilig galten. Die Heloten waren einer so schlimmen Behandlung ausgesetzt, dass Plutarch einmal bezweifelte, ob die betreffenden Gesetze wirklich von Lykurg selbst eingerichtet worden sein konnten; er meinte, sie müssten später hinzugefügt worden sein.
Ebenfalls nicht gleichgestellt waren die perioikoi oder Periöken, wörtlich »die um das Haus herum wohnen«. Sie waren frei, aber nicht gleichberechtigt; zwar dienten sie im Heer und später auch zu Schiff, aber sie durften weder Vollbürger heiraten noch besaßen sie politische Rechte.20 Doch damit noch nicht genug: In mehreren Kriegen errang Sparta im Lauf des 6. Jahrhunderts schrittweise die Herrschaft über die gesamte Peloponnes. Wahrscheinlich über ein System unterschiedlicher Abkommen, wie es später auch die Römer nutzten, um zunächst Latium und dann Italien insgesamt zu beherrschen, wurde es zum Zentrum des Peloponnesischen Bundes. In unseren Quellen, die überwiegend aus dem mit Sparta verfeindeten Athen stammen, werden die Spartaner gemeinhin als Lakedämonier bezeichnet. Offenbar bezog sich dieser Begriff unterschiedslos auf Vollbürger, Periöken und abhängige Bundesgenossen. Gelegentlich umfasste er sogar einige der Heloten, die als Träger und sonstige Zivilisten im Heer dienten.
Die Peloponnesische Gesellschaft war also als Pyramide mit sehr steilen Seiten und flacher Spitze organisiert. Von allen Mitgliedern der Hierarchie waren nur die Spartiaten, die diese Spitze stellten, in gewissem Sinne »gleich«. Und selbst bei ihnen implizierte Gleichheit, wie Lykurg selbst betonte, keine wirkliche Demokratie, also das Recht zur gleichen Mitwirkung an der Regierung. Wiederum nach Plutarch gab es ursprünglich 9000 Spartiaten und 30 000 perioikoi. Zählt man noch die abhängigen Bundesgenossen und die Heloten hinzu – ganz abgesehen von Frauen und Kindern –, so zeigt sich, dass die »Gleichen« nur einen sehr kleinen Anteil an der Gesamtzahl stellten, nämlich gerade einmal drei bis vier Prozent. Außerdem war das der Anfang der Geschichte und nicht ihr Ende. Herodot zufolge war zu Beginn der Perserkriege 490 bis 480 vor Christus die Anzahl der Spartiaten auf 8000 gefallen.21 Plutarch berichtet, dass Lykurg vorsah, jedes neugeborene männliche Kind von den »Ältesten der Gemeindegenossen«, zu denen sein Vater gehörte, untersuchen zu lassen. Wurde es für gesund befunden, durfte es weiterleben und bekam eines der 9000 Flurstücke zugewiesen.22 Um die Anzahl der Spartiaten stabil zu halten, hätte durchschnittlich jeder Vater genau einen Sohn hinterlassen müssen. Ob das tatsächlich Lykurgs Absicht war und wie diese gegebenenfalls in die Praxis umgesetzt wurde, wissen wir nicht einmal im Ansatz.
Um die Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus beschleunigte sich das Tempo, in dem die Zahl der Spartiaten abnahm. Zitieren wir wieder den unverzichtbaren Plutarch: »Aber unter der Regierung des Agis [König Agis, gestorben 401 v. Chr.] strömte zuerst wieder das Geld nach Sparta hinein, und mit dem Gelde kam Habsucht und Streben nach Reichtum ins Land durch die Schuld des Lysandros [des spartanischen Feldherrn, der die Athener besiegte und den Peloponnesischen Krieg beendete], der zwar selbst unbestechlich war, aber das Vaterland mit der Gier nach Reichtum und Üppigkeit versuchte dadurch, dass er Gold und Silber aus dem Kriege heimbrachte.«23 Neben der Kriegsbeute kam zusätzliches Geld aus Persien. Damals subventionierte das persische Reich Sparta, und das machte es möglich, dass Gelder vom Staatshaushalt in private Taschen wanderten. Wer auf diese Weise reich wurde, konnte seinen Mitbürgern deren kleroi (Flurstücke) abkaufen und machten damit die einstigen Besitzer zu einem Proletariat ohne Landbesitz, womit ihnen auch die Bürgerrechte entzogen wurden. Die andauernden Kriege mit ihren vielen Todesopfern machten die Dinge noch schlimmer. Aristoteles zufolge konzentrierte sich in Sparta der Landbesitz zunehmend in der Hand reicher Witwen.
Zur Zeit von Aristoteles (384–322 v. Chr.) waren weniger als 1000 Spartiaten übrig. Laut Plutarch bestand das Heer der Lakedämonier in der Schlacht bei Leuktra 371 vor Christus aus 11000 Soldaten. Stimmt das, dann bildeten die Spartiaten selbst innerhalb des Heeres nur mehr eine kleine Minderheit. Bei Regierungsantritt von König Agis IV. im Jahr 244 vor Christus war die Zahl auf nur 700 gesunken. Im Verlauf des 3. Jahrhunderts wurden mehrere Versuche unternommen, diesen Niedergang aufzuhalten. Zu diesem Zweck wurden Periöken und Heloten emanzipiert, das Land beschlagnahmt und unter den Vollbürgern neu aufgeteilt. Doch wie unschwer zu erahnen, fanden diese Reformen nicht überall Zustimmung; einer von Agis’ Nachfolgern, Nabis (der von 207 bis 192 v. Chr. regierte), ließ sogar die letzten verbliebenen Mitglieder der beiden traditionellen Königsgeschlechter hinrichten. Zudem zwang er die Frauen in Sparta, die neu emanzipierten Männer zu heiraten.24 Doch das war zu wenig und zu spät.
Setzen wir den Zeitpunkt der wichtigsten Reformen etwa um 650 vor Christus an, so währte die Gleichheit in Sparta, soweit davon eben die Rede sein kann, bis gegen Ende des Peloponnesischen Krieges, also etwa 250 Jahre. Von da an begann ihr Niedergang. Einerseits kam neue Ungleichheit auf; andererseits hatte die Beibehaltung der Gleichheit, ohne die Zahl der homoioi zu erhöhen, fatale Auswirkungen auf die Macht des Staates. Am Ende war von der berühmten spartanischen Tapferkeit nichts übrig als eine Handvoll Jugendlicher. In einer eigenen, von Touristen besuchten Zeremonie ließen sie sich zu Tode peitschen.
Blicken wir jetzt von Sparta nach Athen. Hier stellen wir fest, dass die Gleichheit, die so genannte isonomia (wörtlich »Gleichheit vor dem Gesetz«), erst gegen Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus zu greifen begann. Wir assoziieren sie vor allem mit den Namen zweier berühmter Reformer, Solon (etwa 638 bis 558 v. Chr.) und Kleisthenes, der kurz vor Ende des 6. Jahrhunderts aktiv gewesen sein muss. Wie bei Lykurg betrafen Solons Reformen sowohl die Wirtschaft als auch die Politik – in unserem Kontext beides hochinteressant.
Die Reform, die damals wie später am meisten von sich reden machte, war die seisachtheia, wörtlich die »Lastenabschüttelung«.25 Was die Phrase bedeutet, ist nicht zur Gänze geklärt, doch scheint sie sich auf Landbesitz zu beziehen. Zuvor war Grund und Boden dem Athener Gesetz zufolge unveräußerlich, musste also im Besitz der Männer jedes Stammes bleiben. Ein ähnliches Arrangement wird im alttestamentarischen Buch Numeri beschrieben.26 Das Ergebnis war, dass Schuldner, die ihre Ländereien weder verkaufen noch verpfänden konnten, mit ihren Gläubigern eine Art proto-feudales Verhältnis eingehen oder gar sich und ihre Familien als Sklaven verkaufen mussten. Genau diese Praxis wurde wahrscheinlich durch die seisachtheia verboten. Ausstehende Schulden wurden erlassen, und wer bereits eine der genannten Beziehungen eingegangen war, wurde rückwirkend davon entbunden. Freilich wurde damit nicht etwa die Sklaverei abgeschafft. Sowohl die Athener als Einzelne als auch der Staat konnten weiterhin Sklaven besitzen und taten das auch. Neu war lediglich, dass diese Sklaven keine Athener Bürger mehr sein konnten. Von diesem Zeitpunkt an waren also alle Athener per Definition frei.
Damit extreme wirtschaftliche Ungleichheit gar nicht wieder aufkommen konnte, erließ Solon eine Reihe von Luxusgesetzen, nach denen die Reichen ihr Vermögen nicht offen zur Schau stellen konnten. Noch bedeutender war die Maßnahme, die Landfläche zu begrenzen, die ein Einzelner besitzen durfte. Dennoch bestand weiterhin die Gefahr einer urbanen »Lumpenproletarisierung« derer, die zwar jetzt frei waren, aber doch ihr Land verloren hatten. Offenbar aus diesem Gedanken heraus bemühte sich Solon, die Wirtschaft neu aufzustellen, und förderte Industrie, Handel, Schiffsverkehr und den Umlauf von Geld. Einige Althistoriker schreiben ihm auch die erste Einführung von Münzgeld zu. Das ist so wahrscheinlich falsch; doch um mit Aristoteles zu sprechen, es besteht kein Zweifel, dass ohne ungefähre wirtschaftliche Gleichheit und ohne eine starke Mittelklasse weder die griechische Demokratie noch die Polis selbst möglich gewesen wären.27
Die genauen Details sind umstritten, für uns aber nicht sonderlich relevant. Vor Solon war die wichtigste Institution der Areopag, ein Adelsrat, der wie der römische Senat alle ehemaligen Beamten vereinte. Die tägliche Regierungsarbeit oblag neun Archonten oder Herrschern. Sie dienten ein Jahr lang und wurden nach dem Stand ihrer Geburt und/oder ihres Reichtums ausgewählt. Wer freilich die Auswahl vornahm und die Prüfung durchführte, der die Archonten sich bei Beendigung ihrer Amtszeit zu stellen hatten, ist unklar. Offenbar war aber alles darauf ausgelegt, dass die wahre Macht beim Areopag und den »wohlgeborenen« Adligen blieb. Solon aber entzog dem Areopag die Kontrolle über die Archonten und übertrug sie der Volksversammlung. Möglicherweise verlieh er sogar den untersten Klassen das Stimmrecht, ganz gesichert ist das aber nicht. Außerdem richtete er ein neues Organ ein, den so genannten Rat der 400, der die Debatten und Abstimmungen der Volksversammlung vorzubereiten hatte. Auch ob hier die Angehörigen der niedrigsten Klassen vertreten waren, ist unklar.