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»Ach, in Frankreich«, wiederholte Doktor Petersen. Er dehnte die Worte, als wollte er Christian auf den Arm nehmen. »Da lässt er sich’s wohl gut gehen.«
In diesem Satz schwang eine Unterstellung mit, die sie alle schon oft gehört hatten. Wer in Frankreich stationiert war, so hieß es, dem ging es prima, da gab es gutes Essen und Wein, die Frauen trugen aufreizende Kleider und waren leicht zu haben, und in seiner Freizeit konnte man durch Paris spazieren oder sich am Strand in die Sonne legen.
Neben Jette streckte Elisabeth ihren Arm in die Höhe. Es gehörte Mut dazu, Doktor Petersen zu unterbrechen, wenn er in Rage war. Er sah sie nicht gleich und hob seinen Stock noch ein kleines Stück höher. Die Drohung wurde verschärft.
»So, Christian aus Altona, jetzt gibst du mir deine Antworten noch einmal, aber diesmal so, wie es sich für einen deutschen Jungen gehört. Klar und deutlich.«
Elisabeth räusperte sich. »Entschuldigung.«
Sie war ein Liebling der Lehrer, weil sie strebsam war und immerzu alles konnte und wusste. Ob Bockspringen oder Kopfrechnen, sie war fast überall eine der Besten. In der letzten Zeit hatte sie sich verändert. Sie trug keine Zöpfe mehr, sondern eine richtige Frisur, bei der ihre Haare auf eine Seite fielen. Auch war sie etwas runder geworden, nicht mehr nur Haut und Knochen wie früher, sondern sie hatte einen Busen bekommen. Jette musste zugeben, dass sie nicht schlecht aussah. Jetzt hatte sie einen roten Kopf.
»Elisabeth, was gibt’s?« Doktor Petersen drehte sich zur ihr, während er mit beiden Händen seinen Stock umfasste.
»Mein Vater ist auch in Frankreich stationiert. Er hat uns vorgestern geschrieben. Sie bauen Befestigungsanlagen. Er arbeitet jeden Tag mit dem Spaten.«
Jette hielt den Atem an. Bei manchen Lehrern, gerade bei den älteren, die sie aus dem Ruhestand geholt hatten, nachdem viele der jüngeren eingezogen worden waren, konnte man gefahrlos widersprechen, die begriffen kaum noch, was los war. Bei Doktor Petersen war das anders. Er hatte sein Parteiabzeichen am Revers und wollte seine Schüler, wie er oft sagte, zu anständigen Deutschen erziehen, zu Jungen und Mädchen mit Gehorsam und Disziplin.
Die Sekunden verstrichen. Elisabeth war immer noch rot im Gesicht. Mit halb geöffnetem Mund wartete sie auf eine Antwort.
»Es ehrt dich«, sagte Doktor Petersen schließlich, »dass du deinen Vater in Schutz nimmst. Und du hast recht, im vergangenen Jahr hat das ganze Reich bewundert, wie schnell die Wehrmacht Frankreich unterworfen hat. Der Führer selbst war in Paris.«
Doktor Petersen kehrte zu seinem Pult zurück, ohne Christian eines weiteren Blickes zu würdigen. Jette glaubte nicht, dass die Sache für den Neuen damit ausgestanden war, zumal in den nächsten Stunden andere Lehrer ähnlich auf Christian reagierten wie Doktor Petersen. Umso mehr wurde er zum Gesprächsstoff. Es war irgendein Geheimnis um ihn. Wenn Jette und Gregor nach der Schule gemeinsam nach Hause gingen, redeten sie über ihn und zählten auf, was an diesem Christian so besonders war: Kleidung, Frisur, Auftreten, Mut, Lässigkeit. Vor allem, so glaubte Gregor, schien er keine Angst zu haben.
Am Donnerstag berichtete er, Christian sei nicht beim HJ-Nachmittag gewesen.
»Vielleicht war er krank«, vermutete Jette.
»Jette, ich bitte dich. War er gestern in der Schule?«
»Ja klar.«
»Also – was soll das für eine Krankheit sein? Eine, die nur nachmittags auftritt? Oder eine Mittwochskrankheit? Eine Mittwochnachmittagskrankheit? Die will ich auch!«
»Und wo war er?«, fragte sie.
»Das wüsste ich genauso gerne wie du.«
Niemand aus der Klasse schwänzte Hitlerjugend oder Mädchenbund. Jette ging jeden Mittwoch und Sonnabend, zusammen mit Elisabeth und den anderen Klassenkameradinnen. Ihre Mutter entschuldigte sie nur, wenn sie Fieber hatte, einen anderen Grund akzeptierte sie nicht, und wenn Jette jammerte, erklärte sie mit einem Achselzucken, sie müsse auch zum Frauenbund, das gehöre dazu, so sei das neue Deutschland, da gelte es, sich zu fügen.
Allerdings zeigte Jette nicht viel Eifer. Das ewige Medizinballwerfen fand sie langweilig und machte es so langsam wie möglich, erst recht verabscheute sie die Märsche, zehn, manchmal 15 Kilometer, oft im Gleichschritt, mit Stiefeln und schwerem Rucksack, egal bei welchem Wetter, und Pausen wurden nur selten eingelegt, denn: Wer rastet, der rostet. Die Lieder, die sie dabei singen mussten, kamen ihr zu den Ohren heraus: Unsre Fahne flattert uns voran.
Bei den Heimabenden hörte sie nur halbherzig zu. Ihre Mädchenführerin hieß Lina und sprach am liebsten darüber, dass die höchste Bestimmung der deutschen Frau im Kinderkriegen lag. Lina war 18, zwei Jahre älter als sie, trug dicke Zöpfe und hatte stämmige Beine, ihre Füße steckten meistens in klobigen Stiefeln. Es war schwer vorstellbar, dass sich ein Junge für sie interessierte. Kinderkriegen stand bei Lina vorläufig wohl nicht auf dem Programm.
Gregor war schließlich derjenige, der Kontakt zu dem Neuen aufnahm. Es war nach dem Zeichenunterricht bei Herrn Jessen, einem älteren Herrn mit buschigem Schnauzbart, der an ein Walross erinnerte. Jessen trug stets eine schief sitzende Fliege, das war sein Markenzeichen. Die meisten Schüler gingen davon aus, dass er in Wahrheit kein Lehrer war, sondern ein Künstler, der mit anderen Malern und Schriftstellern in finsteren Spelunken auf Sankt Pauli verkehrte, wo sie die Damen mit Vornamen ansprachen. Lehrer war Jessen nach dieser Legende nur geworden, um nicht als Asozialer ins Lager gesperrt zu werden.
Einige aus der Klasse, wie Elisabeth, die eine gute Zeichnerin war, liebten seinen Unterricht. Jessen war immer in gleicher Stimmung, freundlich, aber distanziert. Er gab sich keine Mühe, sich die Namen der Schüler zu merken, sondern sprach einfach jeden mit Du an. Und er war der einzige Lehrer, der die Stunde nicht mit »Heil Hitler« begann und beendete. Er sagte »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen«. Meistens dauerte es dann nur ein paar Sekunden, bis einer der uniformierten Schüler ihm sein »Heil Hitler« entgegenrief, dann grüßte Jessen entsprechend zurück. Gleichwohl registrierte Jette, dass er die beiden Wörter nicht von sich aus gebrauchte.
So wie sie im Physikunterricht Geschossgeschwindigkeiten auszurechnen hatten, zeichneten sie bei Jessen Flugzeuge im Luftkampf, brennende Fabriken in England oder den aufopferungsvollen Einsatz von Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes. Der Unterschied zum Physikunterricht war, dass sich Jessen, während sie mit ihren Bildern beschäftigt waren, auf einen freien Platz neben einen der Schüler setzte und ihnen von der europäischen Kunstgeschichte erzählte. Er liebte die Renaissance und die niederländischen Maler wie Rembrandt oder Vermeer. Was er schilderte, war unbedenklich, die Italiener waren Verbündete, die Holländer sogar Germanen. Gelegentlich hatte Jessen einen Bildband dabei, den er herumreichte, sodass sie sehen konnten, wovon er sprach. Die Zeichnungen der Schüler dagegen korrigierte er nur, wenn man ihn ausdrücklich darum bat. Auch darin unterschied er sich von den anderen Lehrern: Jessen machte den Eindruck, als überließe er es ihnen, wie viel von seinem Wissen und Können sie abhaben wollten.
Neben der Kunstgeschichte sprach er über alte Literatur und über Musik. Er wusste unendlich viel. Jette vermutete, dass er bei den Schülern die Lücken auszugleichen versuchte, die durch den Krieg und den Ausfall von so viel Unterricht entstanden. Manchmal summte er ihnen sogar Melodien vor, kleine Stücke von Mozart, Beethoven und Wagner, aber selbstverständlich keine verbotenen Komponisten.
An diesem Tag fragte er die Klasse nach Musik aus anderen Ländern. Ein paar Namen wurden genannt – Verdi, Tschaikowski, Berlioz, Grieg. Jessen ergänzte jeweils die Länder.
Schließlich fragte er: »Wie ist es mit Amerika?«
Jette, die bis dahin nichts beigetragen hatte, hätte gerne geantwortet. Sie kannte aber keine amerikanischen Komponisten.
»Cole Porter«, sagte Christian.
»Sehr gut«, erwiderte Jessen. »Keine klassische Musik wie in Europa, sondern Jazz.«
»Das ist verboten«, rief Björn, ein hellblonder Junge mit streichholzkurzem Haar. Er trug eine HJ-Uniform. Seine Stimme war scharf, geradezu schneidend.
»Verboten nicht direkt, aber undeutsch. Doch wenn du aufgepasst hast, Junge, dann weißt du, dass Christian nicht gesagt hat, dass er diese Musik hört. Und ich habe euch nicht dazu aufgefordert. Die Frage war, ob ihr den Namen eines Komponisten kennt, um den ihr besser einen Bogen macht.«
Björn staunte. Jessen hatte ihn reingelegt.
Christian unterdrückte ein Schmunzeln, während Jessens Gesicht keinerlei Regung zeigte, der dunkle Schnauzbart hing herunter wie immer. Am Ende der Stunde tat er etwas Ungewöhnliches, er trat an Christians Bank, schaute auf seine Zeichnung, lobte sie, tippte mit dem Finger auf einige Stellen und machte Verbesserungsvorschläge. Und er nannte ihn ein zweites Mal beim Vornamen. Offenbar mochte er den Jungen, trotz seiner langen Haare. Vielleicht sogar deswegen.
Obwohl sie alle diesem Vorfall zugeschaut hatten, änderte sich nach der Stunde nichts, zumindest nicht sofort. Christian stand allein auf dem Hof, der vor dem Schulhaus, einem eher kleinen Backsteingebäude aus der Kaiserzeit, lag. Das Haus bot Platz für nur eine Klasse pro Jahrgang. Für Rissen war das genug, mehr Schüler gab es nicht, deshalb war hier auch die Anordnung der Behörden nicht umsetzbar, Jungen und Mädchen möglichst getrennt zu unterrichten.
Christians Platz war unter der Eiche, an deren Stamm er lehnte und die ihm Schutz bot. Er tat nichts, redete mit niemandem, schaute die anderen nicht an, sondern war in Gedanken. Jette kam er wie eine Insel vor, ein Stück Erde irgendwo im weiten Ozean. Sie war davon überzeugt, dass er sich nicht für die Klassenkameraden interessierte, weil er sie für hinterwäldlerisch hielt. Sie registrierte auch das Verhalten von Elisabeth, die sich, wann immer es ging, in Christians Nähe stellte. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie darauf hoffte, von ihm angesprochen zu werden. Aber das passierte nicht.
Gregor stand mit den anderen Jungs zusammen. Während seine Freunde die üblichen Reden schwangen, wirkte er unruhig. Er knetete seine Finger, trat von einem Bein aufs andere, machte ein paar Schritte aus ihrem Kreis, kehrte zurück.
Schließlich ging er von den anderen fort und schritt mit gesenktem Kopf quer über den Hof auf Christian zu. Jette folgte ihm. Sie wollte mitbekommen, was der Neue sagte.
»Sag mal«, fragte Gregor, »wer ist Cole Porter?«
»Ein amerikanischer Komponist. Hast du doch gehört.«
»Was ist das für Musik?«
»Jazz. Swing, genauer gesagt.« Christian legte den Kopf auf die Seite und grinste. »Verboten.«
»Unerwünscht«, korrigierte Gregor.
»Von mir aus«, meinte Christian achselzuckend.
Gregor nickte schwerfällig. Zwischen den beiden Jungen gab es in diesem Moment ein ziemliches Gefälle, einen Unterschied in dem, was sie kannten und wussten, der nur deshalb nicht noch größer wurde, weil sich Christian zurückhielt. Hätte er weiter über Jazz und Swing gesprochen, hätte er sich Ansehen erworben. Von den linientreuen Schülern war keiner in der Nähe, da waren nur Jette und Elisabeth, die gebannt gelauscht hatten. Aber das kurze Gespräch war schon wieder vorbei. Christian lächelte. Dabei drehte er sich um und wandte ihnen den Rücken zu.
Drei
Nach Ende des Krieges, als er zu Fuß aus Flandern nach Altona zurückkehrte, wog Hannes Krell weniger als 50 Kilo. Er war einen Meter 90 groß, ein Mann, der die Leute in seiner Umgebung stets überragte. Die 50 Kilo brachte er wohlgemerkt in Uniformhose und Hemd auf die Waage, im Lazarett hatte man sich nicht die Mühe gemacht, vor dem Wiegen die Kleidung abzulegen. Am Hintern fehlte jedwedes Fleisch, an der Brust stachen die Rippen heraus, und wenn er unterwegs in ein spiegelndes Fenster blickte, sah er einen hohlwangigen 19-Jährigen mit wirr flackernden Augen. Kurz vor Weihnachten traf er zu Hause ein und fand die Wohnung so, wie er sie zwei Jahre zuvor verlassen hatte. Die Mutter war gestorben, das hatten sie ihm ins Feld geschrieben, aber davon abgesehen hatte sich nichts verändert. Seine ältere Schwester Hilde führte dem Vater den Haushalt, die zweite Schwester Erika unterstützte sie dabei. Sie warteten beide darauf, dass jemand ihnen den Hof machte, doch Männer waren knapp in dieser Zeit, Abertausende waren gefallen, ihre toten Körper verwesten auf den Schlachtfeldern oder waren in endlos langen Reihen auf den Soldatenfriedhöfen in Belgien und Nordfrankreich verscharrt. Es kam niemand, weder für Hilde noch für Erika.
Auf sein Klopfen hin hatte damals der Vater die Tür geöffnet und einen Moment gezögert, während er sich wohl gefragt hatte, was der abgemagerte Kerl wollte, der da vor seiner Tür stand.
Dann hatte er die Hand ausgestreckt. »Ich freue mich, Hannes, dass du heil zurück bist. Auch wenn es um unser Deutschland nicht gut steht.«
Krell war es schwergefallen, sich wieder einzugewöhnen. Beinahe alles in seinem Elternhaus ging ihm auf die Nerven, obwohl er es von früher kannte: die knappen Anweisungen des Vaters, der unbedingte Gehorsam der Schwestern, das viele Schweigen, selbst das Ticken der Standuhr im Wohnzimmer. Den Befehlston des Alten hielt er nur mit größter Selbstbeherrschung aus, und es gab Momente, da formten sich wilde Schreie in ihm und wollten heraus. Es kostete ihn viel Kraft, sie zu unterdrücken. Er schaute sich dabei zu, wie er die Zähne zusammenbiss und die Kiefer anspannte.
Auch das Tischgebet konnte er kaum ertragen:
Alle guten Gaben,
alles was wir haben
kommt, o Gott, von dir,
Dank sei dir dafür.
Gott war nicht in Flandern gewesen, und wenn er dort nicht war, war er auch nirgendwo sonst. War sein Vater blind, dass er das nicht sah? Oder schauten er und die Schwestern nur auf sich und auf niemanden sonst? Der Hungerwinter hatte die Familie nicht weiter beeinträchtigt, ein preußischer Finanzbeamter war auch während des Krieges versorgt worden, und auch jetzt gab es ausreichend zu essen. Aber Krell schmeckte es nicht, weder die sämige dunkelbraune Soße, in der die Kartoffeln schwammen, noch die Linsen und auch nicht das Fleisch am Sonntag. Er kaute auf seinen Bissen herum und nahm nicht zu. Er schlief schlecht, kürzer als je im Feld, schreckte nachts auf und konnte nicht wieder zur Ruhe finden, weil sein Herz so laut pochte. Nicht ein einziges Mal erkundigte sich der Vater nach seinen Erlebnissen, und nach seinem Vorbild taten es die Schwestern auch nicht. Den Krieg – genau genommen die Niederlage – gab es nicht, durfte es nicht geben. Seine einzige Frage stellte der Alte am Abend des zweiten Weihnachtstages. Er saß in seinem Sessel, ein Glas Weinbrand in der Hand und seine Tonpfeife im Mund, ein Rauchutensil aus dem letzten Jahrhundert, während er sich mit zwei Fingern den Backenbart kratzte:
»Was wirst du tun, Sohn?«
»Ich suche mir eine Arbeit«, erwiderte Hannes. Beinahe von selbst kam der zweite Teil des Satzes hinterher: »Und eine Unterkunft.«
Der Vater verzog keine Miene und gab keinen Kommentar ab, neuerliches Schweigen legte sich über das weihnachtliche Zimmer. Man glaubte, das Brennen der Kerzen am Tannenbaum zu hören. Die Standuhr tickte. Hannes schloss die Augen und stellte sich vor, zur See zu fahren, er wollte weg, nur weg, alles hinter sich lassen, Familie und Krieg und Erinnerungen, er träumte vom Blau der Ozeane und sah sich fremde Länder entdecken. In seiner Fantasie tauchte stets der Süden auf, mit bunten Farben und herzlichen, lebensfrohen Menschen. Aber im Hungerjahr 1919 gab es keine deutsche Handelsschifffahrt. Die britische Blockade an der Nordsee dauerte an, nicht weniger total als während des Krieges, die Reedereien im Reich hatten den größten Teil ihrer zivilen Flotte verloren, und den anderen Nationen ging es ebenso. Deutschland durfte nicht einmal Küstenschifffahrt oder Hochseefischerei betreiben. Handel gab es fast nicht, zumal die heimische Industrie daniederlag und die Bevölkerung kein Geld hatte, um eingeführte Waren zu kaufen. Krell fand ein Zimmer auf Sankt Pauli, in der Seilerstraße, mitten im Vergnügungsviertel, eine Dachkammer mit Bett, Kleiderschrank, einem Stuhl und einem gusseisernen Ofen. Er verdingte sich auf dem Bau, manchmal auch am Hafen, wenn doch einmal ein ausländisches Schiff entladen werden musste, und im Spätsommer als Erntehelfer auf den Obstfeldern im Alten Land. Sankt Pauli wurde sein neues Zuhause. An seinen Vater und die Schwestern dachte er am Anfang hin und wieder, dann immer weniger. Zu einem Besuch konnte er sich nicht aufraffen.
Obwohl Hannes Krell seit mehr als 15 Jahren nicht mehr auf dem Kiez wohnte, akzeptierten ihn die Anwohner. Im Normalfall mieden die Sankt Paulianer die Obrigkeit und sprachen nur mit der Polizei, wenn es nicht anders ging, wenn Beugehaft oder Knüppelschläge drohten, und selbst dann behaupteten sie meistens, sie hätten nichts gesehen und wüssten nichts, ehrlich nicht. Bei Krell war das anders. Mit ihm redeten sie.
Er schritt über die Reeperbahn Richtung Große Freiheit und grüßte, wenn er einen Bekannten sah, zweimal deutete er sogar ein Hutheben an. Vor drei Jahren hatte dieser Teil von Sankt Pauli noch zur Stadt Altona gehört, doch das war nun Vergangenheit. Ohne jegliche Ankündigung hatte die NS-Regierung Altona in einem Verwaltungsakt der Stadt Hamburg zugeschlagen. Die Stellung als selbstständige dänische und später preußische Stadt war mit einem Schlag vorbei gewesen. Viele Leute, auch Krell, hatten sich darüber mokiert, allerdings war er Beamter, es stand ihm nicht zu, Kritik zu äußern, und wenn man ehrlich war, musste man einräumen, dass sich durch den Zusammenschluss nicht viel verändert hatte. Auch der Altonaer Teil von Sankt Pauli und die Reeperbahn blieben nach dem Zusammenschluss, was sie vorher gewesen waren. Die Einbußen, unter denen der Kiez litt, waren dem Krieg geschuldet, der eingestellten Handelsschifffahrt. Seit U-Boote den Atlantik beherrschten, kamen kaum noch Matrosen, gleichwohl ging das Leben hier weiter, die Amüsierlokale öffneten Abend für Abend, halbnackte Mädchen tanzten oder warteten auf Kundschaft, es wurde gesoffen, gehurt und um Geld gespielt wie früher, und wie damals fand sich mancher am nächsten Morgen nicht nur verkatert, sondern auch pleite.
Auch das Bild, das die Reeperbahn am Vormittag abgab, hatte sich nicht verändert. Wie früher hatte man den Eindruck, man dürfe nicht zu laut sein, weil die Anwohner noch schliefen. Muffiger Geruch kam aus den Fenstern der Lokale und aus den Hauseingängen, auf dem Bürgersteig lagen Scherben von mancher Bierpulle, an den Wänden gab es gelbliche Pfützen und Flecken. Die Nazis machten den Betrieb in ihren Reden und Zeitungsartikeln verächtlich, weil er unsittlich war. Aber sie duldeten ihn. Offenbar blieb ihnen nichts anderes übrig.
In der Großen Freiheit öffnete Krell eine Tür. Eine Glocke klingelte. Er stieg drei Stufen hinab in ein Souterraingeschäft. Der Mann hinter dem Tresen sah von seiner Lektüre auf. Der Raum war länglich, dabei ziemlich eng. Auf dem Tresen lagen Zeitungen, an der Rückwand waren Zigarettenschachteln in ein Regal sortiert. Schnaps lagerte unter dem Tisch und wahrscheinlich auch in der Kammer, deren Türumrisse in die Tapete geschnitten waren.
»Oh, der Herr Kommissar.« Der Mann hatte eine von Tabak und Alkohol kratzige Stimme. »Da sage ich doch gleich mal brav: Heil Hitler.«
»Heil Hitler, Jan.«
»Moin.«
Jan Weller hatte ein kräftiges Gesicht mit vollem Bart. Die grauen Haare waren nach hinten gekämmt, aber so ganz ließen sie sich nicht zähmen. Er mochte zehn Jahre älter sein als Krell, dann wäre er Anfang 50. In seiner Hand hielt er eine Zigarre.
»Ich habe den Völkischen Beobachter. Druckfrisch von heute Morgen.«
»Schön.«
»Nehmen Sie einen?«
»Nein danke.«
»Seltsam – warum habe ich mir das gedacht? Vielleicht ’ne Zigarre?« Er öffnete ein Holzkistchen und hielt es Krell hin. »Geht aufs Haus.«
Krell griff zu. »Danke«, sagte er, als Jan ihm seine Streichhölzer hinüber schob. Er entzündete den Tabak, beide begannen zu paffen, heller Rauch erfüllte den Laden. Unter dem Fenster gab es einen zweiten Stuhl. Das Polster der Sitzfläche war abgeschabt, man konnte das Muster kaum noch erkennen. Krell zog ihn zu sich heran und setzte sich.
»Büsschen über die alten Zeiten plaudern?«, fragte Jan.
»Jo. Und büsschen über heute.«
»Was gibt’s da zu erzählen? Heldengeschichten aus unserem Krieg? Da kenne ich keine. Für so was habe ich Landserhefte.« Er zeigte auf die Seite des Tresens. »Wenn Sie solche Sachen lesen, Kommissar …«
Anstelle einer Antwort zog Krell an seiner Zigarre und pustete den Rauch aus. Sie brannte nicht gut. Er drehte die Spitze zu sich und blies gegen sie, woraufhin sie aufglühte. Auf Sankt Pauli gehörten die mokanten Töne dazu. Mancher Kollege hätte sie gemeldet, sie erfüllten gleich mehrere Tatbestände, Defätismus, bürgerliche Kritisiererei, vielleicht sogar Wehrkraftzersetzung. Krell aber achtete darauf, sich seine Kontakte auf der Reeperbahn zu bewahren. Sie waren nützlich bei der Verbrechensbekämpfung, und er hatte sich vor Längerem dazu entschieden, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, erst recht nicht bei einem Mann wie Jan.
Die Glocke schlug an, die Tür ging auf, eine junge Frau trat ein. Sie hatte Sommersprossen im Gesicht, war in einen weiten hellen Mantel gehüllt, die roten Haare hatte sie notdürftig zusammengebunden. Ihre Schuhe hatten hohe Absätze, doch ihr Gang darauf schien nicht ganz sicher zu sein. Ohne ein Wort von ihr griff Jan hinter sich und nahm ein Päckchen Juno aus dem Regal.
»Moin«, sagte sie mit leiser Stimme und nickte auch Krell zu. »Herr Kommissar.«
»Morgen, Bella«, entgegnete Krell.
»Wie geht’s dir?«, fragte Jan.
»Wunderbar«, sagte sie gegen den Augenschein. Sie sah blass und übernächtigt aus und wirkte wie jemand, der die Zeit vor dem Mittag verabscheut.
»Das ist schön«, sagte Jan trotzdem.
»Finde ich auch.« Ihre Münzen hatte sie bereits abgezählt, sie legte sie auf den Tresen, nahm die Zigaretten, warf Krell einen Blick zu, nickte und verschwand.
»Sie kennen Bella, Herr Kommissar?«
Krell gab nicht gleich eine Antwort, er war in Gedanken. »Ja«, sagte er schließlich.
»Na, ist ja auch egal. Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte Jan. »Beim Krieg, stimmt’s? Ich bin zu alt, um eingezogen zu werden. Ich kann nicht mal mehr richtig laufen. Sie wissen ja, Herr Kommissar, in unserem stolzen Vaterland bin ich nicht der Einzige, der untauglich ist. Unser Flugzeugminister würde mit seiner Wampe in kein Cockpit passen, und der Radiominister hat ’nen Hinkefuß, der schafft es sicher nicht bis Afrika.«
»Jan!«, mahnte Krell.
»Jo. Ich spar mir den Rest. Weiß ja sowieso jeder, dass wir besser nicht nach der Abstammung des obersten Führers fragen. Der hat ja selber keine Ahnung, wer sein Vadda war.«
»Mensch, Jan, nu’ is’ gut. Du sabbelst dich noch um Kopf und Kragen.«
Jan setzte ein unschuldiges Gesicht auf, zog die Schultern hoch und breitete die Hände aus. »Sie haben doch das Thema aufgebracht, Herr Kommissar.«
Krell schüttelte den Kopf. »Ich wollte über einen anderen reden.«
Schubert und er hatten, nachdem sie die Fingerabdrücke des Toten bekommen hatten, mehrere Stunden beim Schein ihrer Schreibtischlampen im abgedunkelten Büro über der Kartei gesessen. Der Abgleich hatte schließlich einen Namen preisgegeben. Der Mann war zu Lebzeiten zweimal wegen Diebstahls aktenkundig geworden. 1931 hatte er sieben Monate in Fuhlsbüttel gesessen.
»Nun bin ich aber gespannt«, meinte Jan.
»Gustav Limba.«
»Ach, Limba. Kein großes Licht.«
»Kein großes Licht gewesen«, sagte Krell.
»Hat jemand ausgepustet«, entgegnete Jan ohne sichtbare Gefühlsregung. »Schon gehört.«
»Ach«, machte Krell.
»Die Reeperbahn ist ganz wie früher.« Jan klopfte auf den Zeitungsstapel vor ihm auf dem Tresen. »Eigentlich brauchst du hier keine Zeitungen, so viel wie hier geschnackt wird.«
»Hast du auch gehört, wem Limba im Weg war?«
Jan lachte. Es klang künstlich, trotzdem lachte er weiter, bis es in ein Husten überging. »Bin ich der Kommissar, oder was?«