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Krell schüttelte Eulers leicht verschwitzte Hand. Euler hatte ein rundes Gesicht und einen Bauch, sein Atmen war, vor allem, wenn er sich anstrengte, eher ein Schnaufen. Innerlich pflegte Krell ihn seinen »dicken Freund« zu nennen. Euler gehörte zu der Sorte Mann, die sich mit dem Älterwerden nicht veränderten, sein Gesicht blieb rund und faltenlos, die Haare behielten ihre blonde Farbe, die Augen strahlten.
Sie kannten einander, seit sie im Jahr 1927 gemeinsam an einer Serie von Raubmorden in Blankenese und Nienstedten gearbeitet hatten. Nach den ersten beiden Einbrüchen, einer davon mit einem Todesopfer, war eine Ermittlungseinheit eingerichtet worden, der Kollegen vom Raub und vom Mord gleichermaßen angehörten. Zu Euler hatte er vom ersten Moment an einen Draht gehabt. In der Ermittlung allerdings waren sie nicht vorangekommen. Die Täter waren kaltblütig und machten keine Fehler, die Angst wuchs, angefeuert durch die Hamburger Zeitungen, die von einem »Phantomräuber« sprachen, von Geistern, die nie jemand zu sehen bekam. Selbstverständlich stimmte das nicht, irgendwann gab es immer einen Zeugen, in diesem Fall einen Nachbarn mit Schlafstörungen, der aus dem Fenster schaute, die Einbrecher sah und den Notruf wählte. Vier Tote hatte es bis dahin gegeben, darunter zwei Frauen, und eine Serie von elf Einbrüchen. Von den Tätern starb einer auf der Flucht, als ihr Auto frontal mit einem Peterwagen zusammenstieß. Die anderen beiden wanderten ins Zuchthaus.
Es war die Zeit, als Krells zweite Tochter, Mareike, auf die Welt kam. Abends beim Bier fragte er Euler, ob er ihr Taufpate werden wolle. Euler fühlte sich geehrt und sagte zu, und ihre Verbindung erhielt auf diese Weise ihre Stetigkeit.
Sankt Pauli spielte gegen Kiel – kein Renner, aber doch eine Begegnung, die einige Spannung versprach. Euler und er suchten sich stets einen Stehplatz an der Gegengeraden. Der Weg dorthin war zwar etwas weiter, aber er lohnte sich, denn man hatte einen guten Blick aufs Spielfeld. Es war wichtig, rechtzeitig zu kommen, damit nicht zu viele Zuschauer vor einem standen. Den langen Krell störte das nicht, aber Euler war deutlich kleiner, und er hasste es, sich recken zu müssen, um etwas zu erkennen.
Rund um sie füllten sich die Plätze. Ein Westwind wehte, er kam direkt von der See, nicht stark, aber doch so, dass die Luft frisch und sauber schien. Es war immer noch sonnig, nur morgens und abends spürte man die Frische des nahenden Herbstes. Im Radio kamen Erfolgsmeldungen der Wehrmacht aus Russland. Der Vormarsch ging zügig voran. Doch der Winter nahte.
Während sie auf den Anpfiff warteten, erzählte Euler von einer neuen Masche der Einbrecher, die kamen, wenn es Alarm gegeben hatte und die Bewohner im Luftschutzkeller waren. Eine dieser Schlaumeierbanden hatten sie hochgenommen, die drei Beteiligten hatten sie bereits in ihr Hehlerlager geführt. Nun saßen sie in U-Haft, aber es gab andere mit der gleichen Methode.
»Keine schönen Aussichten«, bemerkte Krell. »Entweder fällt eine Bombe und deine Sachen sind verbrannt, wenn du zurückkommst, oder jemand hat die Wohnung ausgeraubt.«
»Wir tun, was wir können.«
»Ich weiß. So war das nicht gemeint.«
Es wurde enger um sie, die Fußballer von Sankt Pauli hatten treue Anhänger. Die beiden Polizisten unterhielten sich leiser miteinander, sie wollten nicht, dass Umstehende sie verstanden, allein schon wegen möglicher Nachahmereffekte. Außerdem war die Polizei in dieser Gegend nicht besonders gut gelitten.
»Und bei dir?«, fragte Euler.
Das war die Frage, mit der Krell gerechnet und die er auch gefürchtet hatte. Er war nicht sicher, ob er Euler einweihen sollte oder nicht. Für beides gab es gute Gründe. Auf der einen Seite gefiel es ihm nicht, dem Freund zu verschweigen, was ihn seit gestern beschäftigte, auf der anderen mochte er ihn nicht belästigen. Jeden Tag gab es in ihrem Beruf Widrigkeiten, nicht nur durch den Krieg, sondern durch die gesamte Neuorientierung seit 1933. Krell wollte nicht, dass Euler, wie es seine Art war, eine Lösung suchte, die man womöglich gar nicht fand.
In der Hamburger Polizei gab es niemanden, der gegen die nationale Erhebung war, zumindest zeigte es keiner. Die gesamte Mordkommission war gleich nach der Machtergreifung per Sammelantrag in die NSDAP eingetreten, lange bevor das neue Beamtengesetz herausgekommen war. Sie alle hatten Stellung beziehen, hatten zeigen wollen, dass sie zum neuen Deutschland gehörten und die Veränderungen befürworteten. So, wie es vorher war, hatte es nicht bleiben können, auch nach Krells Ansicht nicht. Abertausende von Schauerleuten und Werftarbeitern waren arbeitslos gewesen, das Elend allerorten ließ sich mit Händen greifen. Mit der Hitler-Regierung wurde es bald besser, es gab neue Arbeit im Hafen. Als Beamte hatten sie damals ihre Ariernachweise zusammengestellt, für sich selbst, die Ehefrauen, Eltern und Großeltern. In der Mordkommission hatte es keine Juden gegeben, in anderen Dezernaten aber verloren sie ihre Stellung. Was die Kollegen befremdete, war, dass auch diejenigen entlassen wurden, die nur einen einzigen jüdischen Ahnen hatten. Wer mit einer Jüdin verheiratet war, wurde zur Scheidung aufgefordert oder verlor ebenfalls seine Arbeit. Diese Dinge rissen auf der einen Seite Lücken in den Dienstplan, und auf der anderen standen Schicksale, Familien hingen an all dem, die nun sehen mussten, wie sie über die Runden kamen.
»Gibt’s nichts Neues bei euch?«, wiederholte Euler. »Ermittelt ihr nicht?«
»Doch, sicher.«
Die Spieler und der Schiedsrichter liefen bereits ein. Das Publikum klatschte. Während der Partie konnte man schlecht reden, aber noch machten sich die Fußballer warm, deshalb hieß es für Krell, jetzt zu reden oder mindestens bis zur Halbzeit zu schweigen. Er entschied sich für Ersteres und erzählte in Kurzform vom Fall Limba und vor allem von dem seltsamen Satz, den Kriminalrat Tessow gesprochen hatte und der ihm seit gestern im Kopf umherschwirrte.
Euler legte die Stirn in Falten. »Die wichtigen Fälle – was soll das heißen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du nachgefragt?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Dazu war keine Gelegenheit. Er ist gleich wieder gegangen.«
Euler drehte den Kopf und schaute Richtung Spielfeld. Die Fußballer liefen immer noch übers Feld, dehnten die Muskeln oder spielten sich den Ball zu. Der Schiedsrichter ging Richtung Mittelkreis. Er würde gleich anpfeifen.
»Ein toter Zuhälter ist kein wichtiger Fall?«, fragte Euler.
»Er war kein Zuhälter. Davon abgesehen weiß ich es nicht. So deutlich hat Tessow das nicht gesagt.«
»Ab wie viel Einkommen bist du denn ein wichtiger Fall?«
»Hör auf«, wehrte sich Krell. »Du verwechselst etwas. Die Anweisung kam nicht von mir. Ich habe sie bekommen.«
»Verzeih«, erwiderte Euler. »Was treibt den Kriminalrat?«
»Ich denke, es geht darum, dass mittlerweile vier von unseren Leuten bei der Wehrmacht sind.«
»Mmmh«, machte Euler.
Während die Mannschaften Aufstellung nahmen, wurde es lauter im Stadionrund. Man hörte vereinzelte Rufe, die den Spielern galten: »Reißt euch am Riemen, Jungs!« oder »Lasst euch nicht wieder überlaufen, sonst stelle ich meinen Opa auf!« oder auch, ein wenig unpassend »Ein deutscher Junge weint nicht!«. Andere lachten oder stimmten zu. Krell nahm wahr, wie alle Augenpaare aufs Feld gerichtet waren. Einige Zuschauer hatten ihre Hüte abgenommen und hielten sie in der Hand, bereit, sie gleich beim ersten Tor in die Luft zu werfen. Die Kieler hatten Anstoß, der Schiedsrichter pfiff an. Im Gegenzug gab es gleich eine Chance für Sankt Pauli, ein mächtiger Schuss aufs Tor. Das Publikum ging mit und feuerte seine Mannschaft an. Nur Hannes Krell war nicht recht bei der Sache.
In den acht Jahren seit 1933 hatte sich viel verändert. Krell hatte zunehmend Zweifel und konnte nichts dagegen tun. Im Radio kamen immer nur Siegesmeldungen, Zeitungen las er schon lange nicht mehr, auch den Völkischen Beobachter nicht, den sie nur deshalb bezogen, weil es Nachfragen vom Blockwart oder von Nachbarn, die sich allzu gern einmischten, verhinderte. Sie nutzten das Papier, um Feuer im Herd anzuzünden. Unter der Hand hörte man von Grausamkeiten der SS in Polen, Griechenland und auf dem Balkan, und die vielen Juden, die abgeholt worden waren, wurden offenbar in riesigen Lagern festgehalten. Ihre Lebensbedingungen konnte man sich unschwer ausmalen. Trotzdem war Krell nicht bereit, den Gedanken zuzulassen, dass alles falsch gewesen war, was er vor wenigen Jahren noch richtig gefunden hatte. Und womöglich stimmte es ja auch nicht, vielleicht waren das nur böse Gerüchte, letztlich würde man es erst in der Zukunft entscheiden können. Inzwischen trieb er in einem Gewässer mit unterschiedlichen Strömungen und wusste nicht mehr, was er glauben sollte. In den Momenten, in denen er sich das eingestand, kam er sich verloren vor.
Wiebke war in dieser Hinsicht viel eindeutiger. Sie hielt es mit ihrem Vater, der schon kurz nach Kriegsbeginn, als er sich mit seinem Schwiegersohn nach einem sonntäglichen Kaffeetrinken eine Zigarre angezündet hatte, eine Weltkarte aus der Schublade gezogen und auf die Länder gezeigt hatte, mit denen Deutschland im Krieg war. Sein Fazit war klar – das konnte nicht gut gehen, die Nazis waren verrückt. Die Erinnerung war für Hannes Krell jederzeit abrufbar, als Vater Kraus die Nickelbrille abnahm, an seiner Zigarre zog und erklärte: »Wenn sich das Reich mit der Sowjetunion anlegt, oder es den Engländern gelingt, die USA in den Krieg zu ziehen, dann ist es mit dem Spuk bald vorbei.« Der alte Mann schloss die Augen. Der Rauch der Zigarre stieg zwischen seinen Fingern auf. »Bis dahin werden viele sterben.«
Wiebke teilte die Meinung ihres Vaters und fand, sie müssten sehen, dass sie selbst durchkämen, zumal sie die Sorge um ihre kränkliche Tochter Mareike hatten. Nicht auffallen, nicht anecken, genug zu essen im Haus haben, einfach überleben – das war ihre Devise. In Krell sträubte sich alles gegen diese Haltung. Ohne echte Überzeugungen war es doch kein Leben, und er war Deutscher, da musste man zu seinem Land stehen.
Als der Schiedsrichter zur Pause pfiff, hatte er kaum etwas vom Spiel mitbekommen. Immerhin wusste er, dass Kiel mit zwei zu eins führte, aber auch nur, weil es auf der Anzeigetafel stand.
»Ich verstehe noch nicht«, sagt Euler, »wie ihr unterscheiden sollt, was ein wichtiger Fall ist und was nicht. Vielleicht kommt das bald bei uns auch, wer weiß? Du wirst also zu einem Mord gerufen – und dann? Nimmst du den Tatort auf? Rufst du die Technik? Sichert ihr Spuren?«
»Das ist unsere Aufgabe.«
»Bis der Herr Kriminalrat sagt – unwichtig, mach was anderes? Oder wie?«
Krell zog die Schultern hoch. Für ihn war die entscheidende Frage, ob es sich bei Tessows Satz um eine Dienstanweisung gehandelt hatte oder ob es eher um das Ermessen der Kommissare ging, um ihren Arbeitsaufwand im Angesicht der reduzierten Personalstärke. Derzeit hatten Schubert und er keinen anderen Fall.
»Ich werde ganz normal weitermachen.«
»Das wird wohl am besten sein«, erwiderte Euler. »Man sollte nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, auch nicht, wenn es vom Kriminalrat kommt.«
Sie schauten der zweiten Halbzeit zu. Das Spiel endete zwei zu zwei, die Zuschauer waren zufrieden. Krell ging mit Euler am Millerntor in eine Kneipe voller Sankt Pauli-Anhänger, wo sie kaum einen Tisch fanden. Sie tranken jeder zwei Biere, dann fuhr er nach Hause, in sein »Dreimädelheim«, wie Euler zu sagen pflegte. Wiebke hatte Abendessen für ihn beiseitegestellt. Mareike, die eine böse Erkältung hatte, schlief bereits. Als er nach ihr sah, lag sie zusammengerollt in ihrem Bett. Er legte seine Finger auf ihre Stirn, Fieber hatte sie nicht mehr. Jette las in ihrem Zimmer. Er begrüßte sie, dann ging er zu seiner Frau zurück. Er erzählte vom Spiel und von Euler, sparte aber sein Rätselraten über Tessows Ausspruch aus. Das fiel nicht weiter auf, denn er redete zu Hause fast nie über seine Fälle. Es galt eine gewisse Pflicht zur Verschwiegenheit, und er wollte auch nicht, dass sich Wiebke aufregte. Er fragte, wie es den Mädchen ging. Ob sein Eindruck stimmte, dass Mareike das Schlimmste hinter sich hatte.
Sieben
Irgendetwas lag in der Luft. Während Jette auf den Beginn des Unterrichts wartete, hatten die uniformierten Schüler mitten im Klassenraum einen Kreis um Björn gebildet, der wie ein Hauptmann auf seine Kompanie einredete, nicht besonders laut, aber eindringlich. Seine Hände waren zwei Fäuste, die auf und nieder fuhren, während er sprach. Das Gesicht war rot, und der Eindruck wurde durch den Kontrast zu seinem flachsblonden Haar noch verstärkt. Die Wangenknochen stachen hervor. Er wirkte wie jemand, der immer bereit war für eine Schlägerei.
Jette beobachtete die Gruppe von ihrer Bank aus, genauso wie die Klassenkameraden das taten. Wenn Björn etwas ausheckte, wurde es gefährlich, zwar nicht für sie persönlich, denn Mädchen behelligten sie nicht, das entsprach, wie sie meinten, nicht deutscher Art. Aber sie hatten jemanden im Visier.
Christians Platz war leer, was wiederum Gregor nervös zu machen schien. Er achtete nicht auf die HJ-ler, sein Blick pendelte zwischen der Tür und Christians Platz. Schließlich stand er auf, ging zu Karl hinüber und zeigte auf den Stuhl neben ihm, der noch an die Tischplatte gerückt war.
»Kommt er heute nicht?«
Karl zuckte mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen?«
Die HJ-ler schlugen die Hacken zusammen, als Björn seine Ansprache beendete. Sie hatten irgendetwas beschlossen, und das verhieß nichts Gutes. Wie sie da standen, wirkten sie wie ein Trupp halbwüchsiger Soldaten, die auf einen Angriff warteten. Jette glaubte zu wissen, wen sie sich zum Ziel auserkoren hatten. Christian, den Swingboy, den »Tanzbubi«, wie Doktor Petersen einmal zur Freude der Linientreuen gesagt hatte. Seitdem hatten sie ihren Spitznamen für ihn.
Und Gregor, weshalb war der so unruhig? Jette hielt es für möglich, dass er von ihrem Ausflug nach Altona erfahren hatte. Weil sie meistens zusammen nach Hause gingen, schien Gregor daraus eine Art Anspruch auf sie abzuleiten. Vielleicht war Jette in seiner Vorstellung bereits so was wie seine Verlobte, auch wenn sie über solche Dinge noch nie auch nur ein Wort verloren hatten. Aber warum sprach er sie dann nicht auf den Nachmittag in Altona an, sondern wartete auf Christian? Oder hob er sich die Vorwürfe gegen sie für den nächsten gemeinsamen Heimweg auf? Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, sie überlegte bereits, wie sie ihm nach der Schule entkommen konnte, zumal sie auch eine Bemerkung über ihre Kleidung fürchtete. Sie trug nicht ihre üblichen groben Wollstrümpfe zum Rock, sondern die feinen aus Seide, ihre Schuhe waren blank geputzt und die Haare gewaschen. »Junge Dame«, hatte ihre Mutter beim Frühstück gesagt.
In der Klasse hing eine dumpfe, abgestandene Wärme, obwohl es draußen merklich kühler geworden war. Jette öffnete eines der Fenster. Die uniformierten Schüler standen immer noch beieinander, nun aber in jener Haltung, die man »rührt euch« nannte. Jette war erleichtert, als Doktor Petersen eintrat, sein übliches »Heil Hitler« auf den Lippen. Die Schüler brüllten ihren Gruß und setzten sich, Björn und seine Freunde genauso wie Gregor. Doktor Petersen schloss die Tür, die im nächsten Augenblick wieder geöffnet wurde.
Christian. Zu spät.
Grußlos und ohne irgendjemanden anzusehen, ging er zu seinem Platz. Er hatte es auch diesmal nicht besonders eilig, sondern schritt seelenruhig durch den Klassenraum, sodass alle Welt sah, was er anhatte. Er trug nicht sein Jackett, sondern einen hellen Übergangsmantel, der leicht schäbig wirkte, und hielt dazu einen Regenschirm in der Hand, was nicht weniger britisch aussah als die Karos auf dem Sakko. In aller Ruhe lehnte er seinen Schirm gegen die Wand, zog seinen Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Doktor Petersen stand an seinem Pult, drehte seine Brille durch die Finger und fixierte Christian. Eine Ermahnung stand an, womöglich ein Wutanfall, vielleicht eine Strafe. Björn starrte Christian an, seine Freunde genauso.
Doch Doktor Petersen ignorierte ihn. »Wenn dann endlich alle so weit sind, fahren wir fort. Wo waren wir stehengeblieben?«
Mehrere Arme schnellten in die Höhe. Doktor Petersen rief Elisabeth auf.
»Die Völkerschlacht bei Leipzig.«
Weder lobte noch korrigierte Petersen sie. Die Antwort reichte ihm nicht. Er wartete ein paar Augenblicke, ob von ihr noch ein Zusatz kam. Als das nicht geschah, sagte er selber, was er hatte hören wollen: »Die Völkerschlacht bei Leipzig, ein historischer Sieg Preußens und Deutschlands und selbstverständlich des Ariertums. Welchen Feldherren haben wir sie zu verdanken?«
Die Namen Yorck und Blücher hatte er so oft genannt, dass die Schüler wie im Chor antworteten. Petersen nickte und erwähnte auch die anderen beteiligten Armeen, die Österreicher, Russen und Schweden. Ohne Preußen aber, erklärte er, wäre Napoleon nicht besiegt worden.
Jette hörte nur mit einem Ohr zu. Etwas ging im Klassenraum vor sich, das war deutlich zu spüren, und es hatte mit Christian zu tun. Gregor blickte immer wieder zu ihm, genauso wie Björn von seiner Ecke aus. Nur Christian schien davon nichts mitzubekommen. Er lehnte sich gegen die Stuhllehne, strich sein langes Haar zur Seite, säuberte die Brillengläser, schrieb auch hin und wieder etwas in sein Heft. Seine Bewegungen hatten etwas Provozierendes in ihrer Langsamkeit. Doktor Petersen schenkte ihm keine Beachtung. Wenn er sich meldete, was zweimal vorkam, ignorierte er ihn.
Kaum hatte es geläutet, machte sich Gregor auf den Weg zu Christian. »Ich will dich etwas fragen.« Er zeigte mit dem Daumen Richtung Tür. »Draußen.«
Christian zog die Schulter hoch, als interessiere ihn die Aufforderung nicht weiter. »Von mir aus.«
Nebeneinander gingen sie hinaus, was ein ungewohntes Bild war, weil Christian seine Pausen sonst immer alleine verbrachte. Auch Jette hatte es nicht geschafft, diese seltsame Mauer um ihn zu durchbrechen, über ihre gemeinsame Bahnfahrt und den Nachmittag in Altona hatten sie seitdem kein einziges Wort gesprochen. Sie hatte sich überhaupt nicht wieder mit ihm unterhalten, was sicherlich nicht nur an ihm lag. Wenn sie an ihren Ausflug zurückdachte, stellten sich Freude und Scham gleichzeitig ein, und die Scham kam deshalb, weil sie sich so leicht zu dieser Fahrt hatte überreden lassen, und sie war ein Teil der unsichtbaren Grenze zwischen ihnen. So oder so, sie konnte nicht mit Christian an das gemeinsame Erlebnis anschließen, und das lag nicht nur daran, dass es rund um sie so viele Augen und Ohren gab.
Sie ging den beiden Jungs nach, die auf der Rückseite von Christians Eiche zum Stehen kamen.
»Wir haben eine Jazzplatte zu Hause«, sagte Gregor ohne weitere Einleitung. »Ich habe sie gestern angestellt. Von Count Basie.«
Er sprach den Namen deutsch aus, er klang wie »Kont«. Christian korrigierte ihn und betonte den Namen englisch, »Kaunt«, nicht auftrumpfend, sondern in unaufgeregter Weise. Gregor verbesserte sich schnell. Fast hätte man denken können, er habe sich nur versprochen.
»Ich wollte dich fragen«, sagte er, »ob du Lust hast, sie zu hören.«
»Wo?«
»Bei mir zu Hause.«
Anstelle einer Antwort warf Christian Jette einen Blick zu, und sie verstand, was er wissen wollte. In der Bahn hatte er sie gefragt, ob man ihm trauen könne. Jetzt erbat er eine Bestätigung, vielleicht nur ein leises Kopfnicken. Sie kam nicht dazu, denn plötzlich stand Björn bei ihnen, umringt von seinen Freunden. Wie ein erwachsener Mann presste er seine beiden Daumen in den Koppelgürtel, eine Unteroffiziersgeste, in der eine Drohung lag.
»He, Tanzbubi, ich will von dir wissen, in welcher HJ-Gruppe du bist. Jetzt sofort.«
Christian sah ihn durch seine Brillengläser an, er wirkte erstaunt und machte den Eindruck, als müsse er die Aufforderung des anderen Jungen erst einmal verarbeiten. Seine Reaktion war, wie oft in der Klasse, unaufgeregt, eher nachdenklich. Björn war rot im Gesicht, sein Zorn wuchs mit jedem Moment, den Christian ihn warten ließ. Gewalt lag in der Luft. Fünf uniformierte Schüler standen Christian gegenüber, alle trainiert und bereit, ihre Kräfte einzusetzen. Ob sich Gregor auf Christians Seite schlagen würde, war nicht gewiss, erst recht nicht, ob andere Jungen dazukommen würden. Die meisten waren in einem anderen Abschnitt des Hofes.
Christian verzog den Mund. Nun lag die Andeutung eines Lächelns darauf. »Ich möchte auch vieles wissen und erfahre es nicht.«
Björn rückte näher an ihn heran. »Was zum Beispiel?«, zischte er.
»Zum Beispiel, was dir das Recht gibt, mir solche Fragen zu stellen.«
»Deutschland!«, rief Björn. »Also: welche Gruppe?«
Christian trat einen halben Schritt zurück, er versuchte, den Kreis des rotköpfigen Björn zu verlassen und in den Schutz der Eiche zu gelangen. Dabei pustete er Luft aus, als habe der andere Mundgeruch. Als er antwortete, tat er es in einem Ton, als mache er sich über Björn lustig. »Na, wenn’s um Deutschland geht – ich bin suspendiert.«
»Weshalb?«
Christian schüttelte den Kopf. »Darüber muss ich keine Auskunft geben.«
Björn rückte wieder an ihn heran. Seine Freunde folgten ihm und bildeten einen Halbkreis um ihn. »Oh doch. Das musst du.«
»Nein. Das weiß ich zufällig genau.«
Beide standen so nahe beieinander, dass sie auf den jeweils anderen hätten einschlagen können. Keiner von ihnen rührte sich, Christian wich nicht weiter zurück, Björn griff nicht an. Er hatte seine Daumen immer noch in dem breiten Gürtel eingehakt. Inzwischen hatten sich andere Schüler eingefunden, Mädchen genauso wie Jungen, die einen zweiten Kreis um die Streitenden bildeten. Es war nicht vorherzusagen, wer von ihnen im Falle einer Schlägerei wem helfen würde. Man verdarb es sich nach Möglichkeit nicht mit den HJ-lern, denn die vergaßen nie und konnten einen überfallen, besonders wenn man allein war. Zudem schützte sie ihre Uniform. Wenn ein Lehrer eingriff, bekamen sie nie die Schuld.
»Wenn er eine Krankheit hat«, mischte sich Gregor ein, »muss er einem Kameraden darüber nicht Auskunft geben, sondern nur einem Vorgesetzten.«
Es war nicht klar, ob er eine offizielle HJ-Vorschrift zitiert oder sich das gerade ausgedacht hatte.
»Das ist einfach so«, setzte er hinzu.
Björn schaute von Gregor zu Christian und wieder zu Gregor. Sein Mund stand halb offen, er zog die Daumen von seinem Gürtel und ballte die Fäuste. Nicht nur die Umstehenden, auch seine Freunde warteten auf seine Entscheidung. Kämpfen oder nicht kämpfen. Nichts bewegte sich. Es war ein Moment, in dem die Zeit eingefroren schien.
Schließlich sagte Björn: »Ich werde mich erkundigen. Diese Sache ist noch nicht zu Ende.« Mit einer energischen Kopfbewegung zur Seite zog er ab. Seine Freunde folgten augenblicklich. Auch der Kreis der anderen Schüler löste sich auf, wenn auch deutlich langsamer. Hier und da wurden Bemerkungen gemacht oder gelacht.
Jette blieb zurück, Elisabeth mit ihr. Christians Entscheidung stand noch aus, seine Antwort auf Gregors Frage. Gregor wartete sichtlich darauf, und als sich Christian nicht äußerte, sagte er: »Also, was ist?«
»Count Basie. Verlockend. Ja, warum nicht? Wo wohnst du?«
Gregor nannte ihm seine Adresse.
»Und wann?«
»Heute Abend?«
»Einverstanden. Vielleicht bringe ich auch zwei oder drei Platten mit.«
»Gute Idee«, sagte Gregor.
»Ich möchte auch kommen«, rief Elisabeth. »Darf ich?«
»Dann bin ich auch dabei«, sagte Jette.
Noch mehr als am Morgen beschäftigte Jette die Kleiderfrage. Es gab gute Gründe dafür, sich umzuziehen, und stichhaltige dagegen. Der graue Rock, den sie anhatte, war bequem, aber man sah ihm an, dass er abgetragen war, die Falten hielten nicht mehr richtig, die Farbe war ausgeblichen, der Bund ausgeleiert und deshalb zu weit. Sie besaß einen schickeren, er lag in ihrem Schrank. Bliebe sie in dem alten, würde sie sich darin wohlfühlen, käme sich aber ähnlich provinziell vor wie neulich bei Christians Freund in Altona. Wenn sie den neuen anzöge, würden es Elisabeth und Gregor und vielleicht auch Christian merken und sich ihren Teil denken, nämlich, dass sie auffallen wollte. Sie konnte sich nicht entscheiden. Erst als es schon dämmerte und sie sich auf den Weg machen musste, ging es schnell. Sie wusch sich gründlich mit dem Schwamm, kämmte sich, ließ die Seidenstrümpfe an, nahm den guten Rock und eine frische Bluse dazu. Ihr Vater war noch bei der Arbeit, ihre Mutter räumte die Küche auf.


