Drei Meister: Balzac, Dickens, Dostojewski

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Gerade dieser mörderische und selbstmörderische Kampf der Energien ist es, der Balzac reizt. Die an ein Ziel gewandte Energie als Ausdruck des bewußten Lebenswillens nicht in ihrer Wirkung, sondern in ihrem Wesen zu schildern, ist seine Leidenschaft. Ob sie gut oder böse, wirkungskräftig oder verschwendet bleibt, ist ihm gleichgültig, sobald sie nur intensiv wird. Intensität, Wille ist alles, weil dies dem Menschen gehört, Erfolg und Ruhm nichts, denn ihn bestimmt der Zufall. Der kleine Dieb, der ängstliche, der ein Brot vom Bäckerladentisch in den Ärmel verschwinden läßt, ist langweilig, der große Dieb, der professionelle, der nicht nur um des Nutzens, sondern um der Leidenschaft willen raubt, dessen ganze Existenz sich auflöst in den Begriff des Ansichreißens, ist grandios. Die Effekte, die Tatsachen zu messen, bleibt Aufgabe der Geschichtschreibung, die Ursachen, die Intensitäten freizulegen, scheint für Balzac die des Dichters. Denn tragisch ist nur die Kraft, die nicht zum Ziel gelangt. Balzac schildert die héros oubliés, für ihn gibt es in jeder Epoche nicht nur einen Napoleon, nicht nur den der Historiker, der die Welt erobert hat von 1796 bis 1815, sondern er kennt vier oder fünf. Der eine ist vielleicht bei Marengo gefallen und hat Desaix geheißen, der zweite mag vom wirklichen Napoleon nach Ägypten gesandt worden sein, fernab von den großen Ereignissen, der dritte hat vielleicht die ungeheuerste Tragödie erlitten: er war Napoleon und ist nie an ein Schlachtfeld gelangt, hat in irgendeinem Provinznest einsickern müssen, statt Wildbach zu werden, aber er hat nicht minder Energie verausgabt, wenn auch an kleinere Dinge. So nennt er Frauen, die durch ihre Hingebung und ihre Schönheit berühmt geworden wären unter den Sonnenköniginnen, deren Namen geklungen hätten wie der der Pompadour oder der Diane de Poitiers, er spricht von den Dichtern, die an der Ungunst des Augenblicks zugrunde gehen, an deren Namen der Ruhm vorbeigeglitten ist und denen der Dichter erst den Ruhm wieder schenken muß. Er weiß, daß jede Sekunde des Lebens eine ungeheure Fülle von Energie unwirksam verschwendet. Ihm ist bewußt, daß die Eugenie Grandet, das sentimentale Provinzmädel, in dem Augenblicke, wo sie, erzitternd vor dem geizigen Vater, ihrem Vetter die Geldbörse schenkt, nicht minder tapfer ist als die Jeanne d'Arc, deren Marmorbild auf jedem Marktplatze Frankreichs leuchtet. Erfolge können den Biographen unzähliger Karrieren nicht blenden, den nicht täuschen, der alle Schminken und Mixturen des sozialen Auftriebs chemisch zersetzt hat. Balzacs unbestechliches Auge, einzig nach Energie ausspähend, sieht aus dem Gewühl der Tatsachen immer nur die lebendige Anspannung, greift in jenem Gedränge an der Beresina, wo das zersprengte Heer Napoleons über die Brücke strebt, wo Verzweiflung und Niedertracht und Heldentum hundertfach geschilderter Szenen zu einer Sekunde zusammengedrängt sind, die wahren, die größten Helden heraus: die vierzig Pioniere, deren Namen niemand kennt, die drei Tage bis zur Brust im eiskalten, schollentreibenden Wasser gestanden hatten, um jene schwanke Brücke zu bauen, auf der die Hälfte der Armee entkam. Er weiß, daß hinter den verhängten Scheiben von Paris in jeder Sekunde Tragödien geschehen, die nicht geringer sind als der Tod der Julia, das Ende Wallensteins und die Verzweiflung Lears, und immer wieder hat er das eine Wort stolz wiederholt: „Meine bürgerlichen Romane sind tragischer als eure tragischen Trauerspiele.“ Denn seine Romantik greift nach innen. Sein Vautrin, der Bürgerkleidung trägt, ist nicht minder grandios als der schellenumhangene Glöckner von Notre-Dame, der Quasimodo des Viktor Hugo, die starren felsigen Landschaften der Seele, das Gestrüpp von Leidenschaft und Gier in der Brust seiner großen Streber ist nicht minder schreckhaft, als die schaurige Felsenhöhle des Han d'Islande. Balzac sucht das Grandiose nicht in der Draperie, nicht im Fernblick auf das Historische oder Exotische, sondern im Überdimensionalen, in der gesteigerten Intensität eines in seiner Geschlossenheit einzig werdenden Gefühls. Er weiß, daß jedes Gefühl erst bedeutsam wird, wenn es in seiner Kraft ungebrochen bleibt, jeder Mensch nur groß, wenn er sich konzentriert in ein Ziel, sich nicht verschleudert, in einzelne Begierden zersplittert, wenn seine Leidenschaft die allen anderen Gefühlen zugedachten Säfte in sich auftrinkt, durch Raub und Unnatur stark wird, so wie ein Ast mit doppelter Wucht erst aufblüht, wenn der Gärtner die Zwillingsäste gefällt oder gedrosselt hat. Solche Monomanen der Leidenschaft hat er geschildert, die in einem einzigen Symbol die Welt begreifen, einen Sinn sich statuierend in dem unentwirrbaren Reigen. Eine Art Mechanik der Leidenschaften ist das Grundaxiom seiner Energetik: der Glaube, daß jedes Leben eine gleiche Summe von Kraft verausgabe, gleichviel, an welche Illusionen es diese Willensbegehrungen verschwende, gleichviel, ob es sie langsam verzettle in tausend Erregungen, oder sparsam aufbewahre für die jähen heftigen Ekstasen, ob in Verbrennung oder Explosion das Lebensfeuer sich verzehre. Wer rascher lebt, lebt nicht kürzer, wer einheitlich lebt, nicht minder vielfältig. Für ein Werk, das nur Typen schildern will, die reinen Elemente auflösen, sind solche Monomanen allein wichtig. Flaue Menschen interessieren Balzac nicht, nur solche, die etwas ganz sind, die mit allen Nerven, mit allen Muskeln, mit allen Gedanken an einer Illusion des Lebens hängen, sei es, an was immer auch, an der Liebe, der Kunst, dem Geiz, der Hingebung, der Tapferkeit, der Trägheit, der Politik, der Freundschaft. An irgendeinem beliebigen Symbol, aber an diesem ganz. Diese hommes à passion, diese Fanatiker einer selbstgeschaffenen Religion, sehen nicht nach rechts, nicht nach links. Sie sprechen verschiedene Sprachen untereinander und verstehen sich nicht. Biete dem Sammler eine Frau, die schönste der Welt – er wird sie nicht bemerken; dem Liebenden eine Karriere – er wird sie mißachten; dem Geizigen ein anderes als Geld – er wird nicht aufschauen von seiner Truhe. Läßt er sich aber verlocken, verläßt er die eine geliebte Leidenschaft um der anderen willen, so ist er verloren. Denn Muskeln, die man nicht gebraucht, zerfallen, Sehnen, die man jahrelang nicht gespannt, verknöchern, und wer zeitlebens Virtuose einer einzigen Leidenschaft war, Athlet eines einzigen Gefühls, ist Stümper und Schwächling auf jedem anderen Gebiet. Jedes zur Monomanie aufgepeitschte Gefühl vergewaltigt die anderen, gräbt ihnen das Wasser ab und läßt sie vertrocknen: aber ihre Reizwerte saugt es in sich. Alle Graduationen und Peripetien der Liebe, Eifersucht und Trauer, Erschöpfung und Ekstase, sind bei dem Geizigen in der Sparsucht, beim Sammler in der Sammelwut gespiegelt, denn jede absolute Vollkommenheit vereinigt die Summe der Gefühlsmöglichkeiten. Die Intensität der Einseitigkeit hat in ihren Emotionen die ganze Vielfalt der vernachlässigten Begehrungen. Hier setzen die großen Tragödien Balzacs ein. Der Geldmensch Nucingen, der Millionen gesammelt hat, an Klugheit überlegen allen Bankiers des Kaiserreichs, wird ein läppisches Kind in den Händen einer Dirne, der Dichter, der sich dem Journalismus hinwirft, wird zerrieben wie ein Korn unter dem Mühlstein. Ein Traumbild der Welt, ein jedes Symbol ist eifersüchtig wie Jehova und duldet keine anderen Leidenschaften neben sich. Und von diesen Leidenschaften ist keine größer und keine geringer, sie haben ebensowenig eine Rangordnung wie Landschaften oder Träume. Keine ist zu gering. „Warum sollte man nicht die Tragödie der Dummheit schreiben?“ sagt Balzac, „die der Verschämtheit, die der Ängstlichkeit, die der Langeweile?“ Auch sie sind bewegende, treibende Kräfte, auch sie bedeutsam, insofern sie nur genugsam intensiv sind, selbst die ärmlichste Lebenslinie hat Schwung und Schönheitsgewalt, sobald sie ungebrochen gerade fortstrebt oder ihr Schicksal ganz umkreist. Und diese Urkräfte – oder besser, diese tausend Proteusformen der wirklichen Urkraft – aus der Brust der Menschen zu reißen, sie zu heizen durch den Druck der Atmosphäre, sie peitschen zu lassen durch das Gefühl, sie zu berauschen an den Elixieren des Hasses und der Liebe, sie rasen zu lassen im Rausche, am Prellstein des Zufalls die einen zu zerschmettern, sie zusammenzupressen und auseinanderzureißen, Verbindungen herzustellen, Brücken zu schlagen zwischen den Träumen, zwischen dem Geizigen und dem Sammler, dem Ehrsüchtigen und dem Erotiker, rastlos das Parallelogramm der Kräfte zu verschieben, in jedem Schicksal den drohenden Abgrund von Wellenberg und Wellental aufzureißen, sie zu schleudern von unten nach oben und von oben nach unten und dabei in dieses flackernde Spiel mit erhitzten Augen zu starren, wie Gobsec, der Wucherer, auf die Diamanten der Gräfin Restaud, das erlöschende Feuer mit dem Balg immer wieder aufflammen zu lassen, die Menschen wie Sklaven zu hetzen, nie sie ruhen zu lassen, sie zu schleppen wie Napoleon seine Soldaten durch alle Länder von Österreich wieder in die Vendée, über das Meer wieder nach Ägypten und nach Rom, durch das Brandenburger Tor und wieder vor den Abhang der Alhambra, über Sieg und Niederlage nach Moskau schließlich – die Hälfte unterwegs liegen zu lassen, zerschmettert von den Granaten oder unter dem Schnee der Steppen – die ganze Welt zuerst zu schnitzen wie Figuren, zu malen wie eine Landschaft und dann das Puppenspiel mit erregten Fingern zu beherrschen – das war seine, das war Balzacs Monomanie.
Denn er, Balzac, war selbst einer der großen Monomanen, wie er sie in seinem Werke verewigt hat. Enttäuscht, in allen seinen Träumen zurückgestoßen von einer rücksichtslosen Welt, die den Anfänger nicht mag und den Armen, grub er sich ein in seine Stille und schuf sich selbst ein Symbol der Welt. Eine Welt, die ihm gehörte, die er beherrschte und die mit ihm zugrunde ging. Wirkliches stürzte an ihm vorbei, und er griff nicht danach, er lebte eingeschlossen in seinem Zimmer, festgenagelt an den Schreibtisch, lebte in dem Wald seiner Gestalten, wie Elie Magus, der Sammler, zwischen seinen Bildern. Von seinem fünfundzwanzigsten Jahre an hat ihn die Wirklichkeit kaum – nur in Ausnahmen, die dann immer zu Tragödien wurden – anders interessiert als ein Material, als Brennstoff, um das Schwungrad seiner eigenen Welt zu treiben. Fast bewußt lebte er am Lebendigen vorbei, wie im ängstlichen Gefühle, daß eine Berührung dieser beiden Welten, der seinen und der der anderen, immer eine schmerzhafte werden müßte. Abends um acht Uhr ging er ermattet zu Bette, schlief vier Stunden und ließ sich um Mitternacht wecken; wenn Paris, die laute Umwelt, ihr glühendes Auge schloß, wenn Dunkel über das Rauschen der Gassen fiel, die Welt entschwand, begann die seine zu erstehen, und er baute sie auf, neben der anderen, aus ihren eigenen zerstückten Elementen, lebte durch Stunden einer fiebernden Ekstase, unablässig die ermattenden Sinne mit schwarzem Kaffee wieder aufpeitschend. So arbeitete er zehn, zwölf, manchmal auch achtzehn Stunden, bis ihn irgend etwas aufriß aus dieser Welt, zurück in die eigene Wirklichkeit. In diesen Sekunden des Erwachens muß er jenen Blick gehabt haben, den Rodin ihm gab auf seiner Statue, dieses Aufgeschrecktsein aus tausend Himmeln und dieses Rückstürzen in eine vergessene Wirklichkeit, diesen entsetzlich grandiosen, fast schreienden Blick, diese um die fröstelnde Schulter das Kleid anstraffende Hand, die Gebärde eines vom Schlaf Gerüttelten, eines Somnambulen, dem jemand roh seinen Namen zugeschrien. Bei keinem Dichter ist die Intensität des Sichverlierens in sein Werk, der Glaube an die eigenen Träume stärker gewesen, die Halluzination so nahe der Grenze der Selbsttäuschung. Nicht immer wußte er die Erregung zu stoppen wie eine Maschine, das ungeheure kreisende Schwungrad jäh aufzuhalten, Spiegelschein und Wirklichkeit zu unterscheiden, eine scharfe Linie zu ziehen zwischen dieser und jener Welt. Ein ganzes Buch hat man gefüllt mit Anekdoten, wie sehr er im Rausch der Arbeit an die Existenz seiner Gestalten glaubte, ein Buch mit oft drolligen und meist ein wenig grausigen Anekdoten. Ein Freund tritt ins Zimmer. Balzac stürzt ihm entsetzt entgegen: „Denk dir, die Unglückliche hat sich ermordet!“ und merkt erst an dem entsetzten Zurückprallen seines Freundes, daß die Gestalt, von der er sprach, die Eugenie Grandet, nur in seinen Sternenkreisen je gelebt. Und was diese so andauernde, so intensive, so vollständige Halluzination von dem pathologischen Wahn eines Tollhäuslers unterscheidet, ist vielleicht nur die Identität der in dem äußeren Leben und in dieser neuen Wirklichkeit bestehenden Gesetze, die gleichen Kausalbedingungen des Seins, nicht die Lebensform so sehr als die Lebensmöglichkeit seiner Menschen, die, als hätten sie nur die Tür seines Arbeitszimmers überschritten, von außen in sein Werk traten. Aber an Dauerhaftigkeit, an Zähigkeit und Abgeschlossenheit des Wahnes war diese Versenkung die eines perfekten Monomanen, seine Arbeit war nicht Fleiß mehr, sondern Fieber, Rausch, Traum und Ekstase. Ein Palliativmittel der Bezauberung war sie, ein Schlafmittel, das ihn seinen Lebenshunger vergessen lassen sollte. Er selbst, zum Genießer, zum Verschwender befähigt wie keiner, hat zugestanden, daß diese fieberhafte Arbeit ihm nichts war als ein Mittel zum Genuß. Denn ein so zügellos Begehrender konnte, wie die Monomanen seiner Bücher, auf jede andere Leidenschaft nur verzichten, weil er sie ersetzte. All die Aufpeitschungen des Lebensgefühls, Liebe, Ehrsucht, Spiel, Reichtum, Reisen, Ruhm und Siege konnte er missen, weil er siebenfaches Surrogat in seinem Schaffen fand. Die Sinne sind töricht wie Kinder. Sie können das Echte vom Falschen, Trug von der Wirklichkeit nicht unterscheiden. Sie wollen nur gefüttert sein, gleichviel mit Erlebnis oder Traum. Und Balzac hat seine Sinne ein Leben lang betrogen, indem er ihnen Genüsse vorlog, statt sie ihnen hinzuwerfen, er sättigte ihren Hunger mit dem Duft der Gerichte, die er ihnen versagen mußte. Sein Erlebnis war das leidenschaftliche Beteiligtsein an den Genüssen seiner Kreaturen. Denn er war es ja, der jetzt die zehn Louis hinwarf auf den Spieltisch, zitternd stand, während die Roulette sich drehte, der jetzt die klingende Flut der Gewinste mit heißen Fingern einstrich, er war es, der jetzt im Theater den großen Sieg erfocht, der jetzt mit Brigaden die Höhen stürmte, mit Pulverminen die Börse in ihren Grundfesten erbeben ließ; alle die Lüste seiner Kreaturen gehörten ja ihm, sie waren die Ekstasen, in denen sein äußerlich so armes Leben sich verzehrte. Er spielte mit diesen Menschen so wie Gobsec, der Wucherer, mit den Gequälten, die hoffnungslos zu ihm kamen, um sich Geld auszuborgen, die er aufschnellen ließ an seiner Angel, deren Schmerz, Lust und Qual er nur prüfend mitansah als das mehr oder minder talentvolle Sichgebärden von Schauspielern. Und sein Herz spricht unter dem schmutzigen Kittel Gobsecs: „Glauben Sie, daß es nichts bedeutet, wenn man so in die verborgensten Falten des menschlichen Herzens eindringt, wenn man so tief darin eindringt und es in seiner Nacktheit vor sich hat?“ Denn er, der Zauberer des Willens, schmolz Fremdes zu Eigenem um, Traum zu Leben. Man erzählt von ihm, daß er in seiner Jugend, als er in seiner Mansarde trockenes Brot, seine ärmliche Mahlzeit, verzehrte, sich auf den Tisch mit Kreide die Randspur von Tellern gezeichnet habe und in ihre Mitte die Namen der erlesensten Lieblingsgerichte geschrieben, um so im trockenen Brot nur durch die Suggestion des Willens den Geschmack der verschwenderischesten Speisen zu spüren. Und so wie er hier den Geschmack zu schmecken meinte, wie er ihn wirklich schmeckte, so hat er sicherlich alle Reize des Lebens in den Elixieren seiner Bücher unbändig in sich getrunken, so eigene Armut betrogen mit dem Reichtum und der Verschwendung seiner Knechte. Er, der ewig von Schulden Gehetzte, von Gläubigern Gequälte, empfand sicherlich einen geradezu sinnlichen Reiz, wenn er hinschrieb: Hunderttausend Francs Rente. Er war es, der in den Bildern von Elie Magus wühlte, der diese beiden Gräfinnen liebte als ihr Vater Goriot, der gipfelhoch mit Seraphitus über die niegesehenen Fjorde Norwegens aufstieg, der mit Rubempré die bewundernden Blicke der Frauen genoß, er, er selbst war es, für den er aus all diesen Menschen die Lust wie Lava aufschießen ließ, denen er Glück und Schmerz aus den hellen und dunklen Kräutern der Erde braute. Kein Dichter war je mehr Mitgenießer seiner Gestalten. Gerade an jenen Stellen, wo er den Zauber des so sehr ersehnten Reichtums schildert, spürt man stärker als in den erotischen Abenteuern den Rausch des Selbstbezauberten, die Haschischträume des Einsamen. Das ist seine innerste Leidenschaft, dieses Auf- und Abströmen von Zahlen, dieses gierige Gewinnen und Zerrinnen von Summen, dieses Schleudern von Kapitalien von Hand zu Hand, das Schwellen der Bilanzen, der Wettersturz der Werte, diese Stürze und Aufstiege ins Grenzenlose. Millionen läßt er wie Ungewitter über Bettler hereinbrechen, Kapitale wieder in weichen Händen wie Quecksilber zerrinnen, mit Wollust malt er die Paläste der Faubourgs, die Magie des Geldes. Die Worte Millionen, Milliarden, das ist immer hingestammelt mit jenem ohnmächtigen Nicht-mehr-sprechen-können, dem Röcheln letzten sinnlichen Begehrens. Voluptuös wie die Frauen eines Serails sind die Prunkstücke der Gemächer gereiht, wie wertvolle Kronjuwelen die Insignien der Macht ausgebreitet. Bis in seine Manuskripte hat sich dieses Fieber eingebrannt. Man kann sehen, wie die anfangs ruhigen und zierlichen Zeilen aufschwellen gleich den Adern eines Zornigen, wie sie taumeln, rascher werden, wie sie rasend sich überhetzen, befleckt von den Spuren des Kaffees, mit dem er die ermatteten Nerven vorwärtspeitschte, hört fast das rastlose, ratternde Keuchen der überhitzten Maschine, den fanatischen, maniakalischen Krampf ihres Schöpfers, diese Gier des Don Juan du verbe, des Menschen, der alles besitzen will und alles haben. Und sieht den nochmaligen impetuosen Ausbruch des ewig Ungenügsamen in den Korrekturbogen, deren starres Gefüge er immer wieder aufriß wie der Fiebernde seine Wunde, um noch einmal das rote pochende Blut der Zeilen durch den schon starren, erkalteten Körper zu jagen.
Solche titanische Arbeit bliebe unverständlich, wäre sie nicht Wollust gewesen und noch mehr: der einzige Lebenswille eines asketisch allen anderen Machtformen entsagenden Menschen, eines Leidenschaftlichen, dem die Kunst die einzige Möglichkeit der Entäußerung war. Einmal, zweimal hatte er ja flüchtig in anderem Material geträumt. Er hatte sich im praktischen Leben versucht, zum erstenmal, als er, verzweifelnd am Schaffen, die wirkliche Geldgewalt wollte, Spekulant wurde, eine Druckerei gründete und eine Zeitung; aber mit jener Ironie, die das Schicksal immer für Abtrünnige bereit hat, hat er, der in seinen Büchern alles kannte, die Coups der Börsenleute, die Raffinements der kleinen und der großen Geschäfte, die Schliche der Wucherer, der jedem Ding seinen Wert wußte, der Hunderten von Menschen in seinen Werken die Existenz errichtet, ein Vermögen mit richtigem, logischem Aufbau gewonnen hatte, er selbst, der Grandet, Popinot, Crevel, Goriot, Bridau, Nucingen, Wehrbrust und Gobsec reich gemacht hat, er selbst hat sein Kapital verloren, ist schmählich zugrunde gegangen, und nichts blieb ihm als jenes furchtbare Bleigewicht von Schulden, die er dann stöhnend auf seinen breiten Lastträgerschultern das halbe Jahrhundert seines Lebens weiterschleppte, Helote der unerhörtesten Arbeit, unter der er eines Tages mit zersprengten Adern lautlos zusammenbrach. Die Eifersucht der verlassenen Leidenschaft, der einzigen, der er sich hingegeben hatte, der Kunst, hat sich furchtbar an ihm gerächt. Selbst die Liebe, den andern ein wunderbarer Traum über ein Erlebtes und Wirkliches, wurde bei ihm erst Erlebnis aus einem Traum. Frau von Hanska, seine spätere Gattin, die étrangère, der jene berühmten Briefe galten, war von ihm leidenschaftlich schon geliebt, ehe er in ihre Augen gesehen, war damals schon geliebt von ihm, als sie noch Unwirklichkeit war, wie die fille aux yeux d'or, wie die Delphine und die Eugenie Grandet. Für den wahrhaften Schriftsteller ist jede andere Leidenschaft als die des Schaffens, des Erträumens eine Abirrung. „L'homme des lettres doit s'abstenir des femmes, elles font perdre son temps, on doit se borner à leur écrire, cela forme le style“, sagte er zu Theophile Gautier. Im Innersten liebte er auch nicht Frau von Hanska, sondern die Liebe zu ihr, liebte nicht die Situationen, die ihm begegneten, sondern die er sich erschuf, er fütterte den Hunger nach Wirklichkeit so lange mit Illusionen, spielte so lange in Bildern und Kostümen, bis er, wie die Schauspieler in den erregtesten Momenten, selbst an seine Leidenschaft glaubte. Unermüdlich hat er dieser Leidenschaft des Schaffens gefrönt, den inneren Verbrennungsprozeß so lange beschleunigt, bis die Flamme aufschlug und nach außen brach, bis er zugrunde ging. Mit jedem neuen Buch schrumpfte, wie die magische Elentiershaut seiner mystischen Novelle, bei jedem so betätigten Wunsch sein Leben zusammen, und er unterlag seiner Monomanie wie der Spieler den Karten, der Trinker den Weinen, der Haschischträumer der verhängnisvollen Pfeife und der Wollüstling den Frauen. Er ging an der überreichen Erfüllung seiner Wünsche zugrunde.
Es ist ein nur Selbstverständliches, daß ein dermaßen kolossalischer Wille, der Träume so mit Blut und Lebendigkeit erfüllte, der sie so anspannte, bis ihre Erregungen nicht minder stark waren wie die Phänomene der Wirklichkeit, daß ein solch ungeheuer zauberkräftiger Wille in seiner eigenen Magie das Geheimnis des Lebens sah und sich selbst zum Weltgesetz erhob. Eine eigentliche Philosophie konnte der nicht haben, der nichts von sich verriet, vielleicht nichts mehr war als ein Wandelhaftes, der keine Gestalt hatte wie Proteus, weil er alle in sich verkörperte, der wie ein Derwisch, ein flüchtiger Geist, in die Körper von tausend Gestalten unterschlüpfte und sich verlor in den Irrgängen ihres Lebens, jetzt mit dem einen Optimist, jetzt Altruist, jetzt Pessimist und Relativist, der alle Meinungen und Werte in sich ein- und ausschalten konnte wie elektrische Ströme. Er gibt keinem unrecht und gibt keinem recht. Balzac hat immer nur épousé les opinions des autres – wir haben kein deutsches Wort für dieses spontane Aufnehmen einer Meinung ohne dauernde Identifizierung –, er war eingefangen im Augenblick, in der Brusthöhle seiner Menschen, trieb mit im Schwall ihrer Leidenschaften und Laster. Wahrhaft und unabänderlich mußte ihm nur der ungeheure Wille sein, dieses Zauberwort Sesam, das ihm, dem Fremden, die Felsen vor der unbekannten Menschenbrust aufsprengte, ihn hinabführte in die finsteren Abgründe ihres Gefühls und ihn von dort, beladen mit dem Edelsten ihres Erlebens, wieder aufsteigen ließ. Er mußte mehr als ein anderer geneigt sein, dem Willen eine über das Geistige ins Materielle hinüberwirkende Gewalt zuzuschreiben, ihn als Lebensprinzip und Weltgebot zu empfinden. Ihm war bewußt, daß der Wille, dieses Fluidum, das, ausstrahlend von einem Napoleon, die Welt erschütterte, das Reiche stürzte, Fürsten erhob, Millionen Schicksale verwirrte, daß diese immaterielle Schwingung, dieser reine atmosphärische Druck eines Geistigen nach außen sich auch im Materiellen manifestieren müßte, die Physiognomie modellieren, einströmen in die Physis des ganzen Körpers. Denn so wie eine momentane Erregung bei jedem Menschen den Ausdruck fördert, brutale und selbst stumpfsinnige Züge verschönt und charakterisiert, um wie viel mehr mußte ein andauernder Wille, eine chronische Leidenschaft das Material der Züge herausmeißeln. Ein Gesicht war für Balzac ein versteinerter Lebenswille, eine in Erz gegossene Charakteristik, und so wie der Archäologe aus den versteinerten Resten eine ganze Kultur zu erkennen hat, so schien es ihm Erfordernis des Dichters, aus einem Antlitz und aus der um einen Menschen lagernden Atmosphäre seine innere Kultur zu erkennen. Diese Physiognomik ließ ihn die Lehre Galls lieben, seine Topographie der im Gehirn gelagerten Fähigkeiten, ließ ihn Lavater studieren, der ebenfalls im Gesichte nichts anderes sah als den Fleisch und Bein gewordenen Lebenswillen, den nach außen gestülpten Charakter. Alles, was diese Magie, die geheimnisvolle Wechselwirkung des Innerlichen und Äußerlichen betonte, war ihm erwünscht. Er glaubte an Mesmers Lehre der magnetischen Übertragung des Willens von einem Medium in das andere, glaubte daran, daß die Finger Feuernetze seien, die den Willen ausstrahlten, verkettete diese Anschauung mit den mystischen Vergeistigungen Svedenborgs, und all diese nicht ganz zur Theorie verdichteten Liebhabereien faßte er in der Lehre seines Lieblings, des Louis Lambert, zusammen, des chimiste de la volonté, jener seltsamen Gestalt eines früh Verstorbenen, die Selbstporträt und Sehnsucht nach innerer Vollendung sonderbar vereint, öfter als jede andere Figur Balzacs in sein eigenes Leben hinabgreift. Ihm war jedes Gesicht eine zu enträtselnde Scharade. Er behauptete, in jedem Antlitz eine Tierphysiognomie zu erkennen, glaubte, den Todgeweihten an geheimen Zeichen bestimmen zu können, rühmte sich, jedem Vorübergehenden auf der Straße die Profession von seinem Antlitz, seinen Bewegungen, seiner Kleidung ablesen zu können. Diese intuitive Erkenntnis schien ihm aber noch nicht die höchste Magie des Blicks. Denn all dies umschloß nur das Seiende, das Gegenwärtige. Und seine tiefste Sehnsucht war, zu sein wie jene, die mit konzentrierten Kräften nicht nur das Momentane, sondern auch aus den Spuren das Vergangene, das Zukünftige aus den vorgestreckten Wurzeln aufspüren können, Bruder zu sein der Chiromanten, der Wahrsager, der Steller von Horoskopen, der „voyants“, all derer, die mit dem tieferen Blick der „seconde vue“ begabt, das Innerlichste aus dem Äußerlichen, das Unbegrenzte aus den bestimmten Linien zu erkennen sich erboten, die aus den dünnen Streifen der Handfläche den kurzen Weg des zurückgelegten Lebens und den dunklen Pfad in das Zukünftige hinein weiterzuführen vermochten. Ein solcher magischer Blick ist nach Balzac nur jenem gegeben, der seine Intelligenz nicht in tausend Richtungen zersplittert hat, sondern – die Idee der Konzentrierung ist bei Balzac in ewiger Wiederkehr – in sich aufgespart einem einzigen Ziele entgegenwendet. Die Gabe der „seconde vue“ ist nicht nur die des Zauberers und Sehers allein; „seconde vue“, spontane visionäre Erkenntnis, dies unbezweifelbare Merkmal des Genies, haben die Mütter gegenüber ihren Kindern, Desplein hat sie, der Arzt, der aus der verworrenen Qual eines Kranken sofort die Ursache seines Leidens und die vermutliche Grenze seiner Lebensdauer bestimmt, der geniale Feldherr Napoleon, der die Stelle sofort erkennt, wo er die Brigaden hinschleudern muß, um das Schicksal der Schlacht zu entscheiden; Marsay, der Verführer, besitzt sie, der die flüchtige Sekunde aufgreift, in der er eine Frau zu Fall bringen kann, Nucingen, der Börsenspieler, der den großen Börsencoup im richtigen Momente zur Explosion bringt; alle diese Astrologen des Himmels der Seele haben ihre Wissenschaft dank des nach innen dringenden Blicks, der wie durch ein Perspektiv Horizonte sieht, wo das unbewaffnete Auge nur ein graues Chaos unterscheidet. Hierin schlummert die Affinität zwischen der Vision des Dichters und der Deduktion des Gelehrten, dem rapiden, spontanen Begreifen und dem langsamen, logischen Erkennen. Balzac, dem sein eigener intuitiver Überblick selbst unbegreiflich werden und der oft erschreckt mit fast irrem Blick sein Werk überschauen mußte wie ein Unbegreifliches, war gezwungen zu einer Philosophie des Inkommensurablen, einer Mystik, der der landläufige Katholizismus eines de Maistre nicht mehr genügte. Und dieses Korn Magie, das seinem innersten Wesen beigemengt war, diese Unbegreiflichkeit, die seine Kunst nicht nur Chemie des Lebens sein läßt, sondern Alchimie, ist sein Grenzwert gegen die Späteren, gegen die Nachahmer, gegen Zola besonders, der Stein um Stein zusammenraffte, wo Balzac nur den Zauberring drehte, und schon ein Palast mit tausend Fenstern sich aufbaute. So ungeheuer die Energie seines Werkes ist, der erste Eindruck bleibt doch immer der von Zauberei und nicht von Arbeit, nicht der eines Ausborgens vom Leben, sondern eines Beschenkens und Bereicherns.