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Mascha Dabić
Dolmetschen in der Psychotherapie
Prekäres Gleichgewicht
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.

ISBN 978-3-8233-8234-8 (Print)
ISBN 978-3-8233-0322-0 (ePub)
Das Gelingen eines psychotherapeutischen Prozesses hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab, noch dazu, wenn das Gespräch zwischen PsychotherapeutIn und KlientIn gedolmetscht werden muss. Ein Faktor ist jedoch ausschlaggebend, indem er die Grundvoraussetzung für diese kommunikative Situation schafft, nämlich die Bereitschaft der KlientInnen, sich in diesem spezifischen Kontext mitzuteilen, sich auf das Sprechen – ihr eigenes Sprechen – einzulassen, das nötige Vertrauen der PsychotherapeutIn und der DolmetscherIn gleichermaßen entgegenzubringen. Daher gilt mein Dank in erster Linie den zahlreichen KlientInnen, mit denen ich in den letzten Jahren als Dolmetscherin gearbeitet habe und deren Stimmen direkt und indirekt in die vorliegende Arbeit Eingang gefunden haben.
Mein Dank gilt den PsychotherapeutInnen im Zentrum für interkulturelle Psychotherapie in Tirol ANKYRA (in Innsbruck), wo ich die Gelegenheit hatte, meine ersten Erfahrungen als Dolmetscherin zu sammeln, sowie im Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende HEMAYAT in Wien, in dem ich seit 2005 als Dolmetscherin tätig bin. In beiden Einrichtungen habe ich nicht nur als Dolmetscherin, sondern später auch als Forschende immensen Zuspruch und Rückhalt erfahren. Ich hatte die Möglichkeit, in Therapien und flankierenden Einzel- und Gruppengesprächen zu lernen und mir Stück für Stück zu erarbeiten, was Sprechen und Schweigen, Erinnern und Vergessen, Imaginieren und Träumen bedeuten kann und wie ich als Dolmetscherin meine Expertise darin weiterentwickeln, verfeinern und zur Entfaltung bringen kann. „Ausgelernt“ habe ich in diesem Ozean der Sprache nicht, aber ich habe mit Hilfe der TherapeutInnen – AnsprechpartnerInnen, KollegInnen und WeggefährtInnen – im Laufe der Jahre gelernt, mich in dem besagten Ozean nicht nur über Wasser zu halten, sondern auch mit Genuss zu „schwimmen“ und den „Wellengang“ zu studieren. Viele Menschen haben mich zum Verfassen der vorliegenden Arbeit inspiriert und bestärkt, an dieser Stelle möchte ich nur wenige von ihnen namentlich nennen, da der Versuch einer vollständigen Auflistung ausufernd wäre: Verena Schlichtmeier, Claudia Baldeo und Binja Pletzer (Psychotherapeutinnen im Zentrum „Ankyra“), Cecilia Heiss (Geschäftsführerin von „Hemayat“ und Freundin), sowie Lika Trinkl, Friedrun Huemer, Heidi Behn und Bibiane Ledebur (Psychotherapeutinnen bei „Hemayat“), Uta Wedam (Supervisorin für DolmetscherInnen), und viele andere, die wissen, dass sie hier ebenfalls gemeint sind. Ausdrücklich möchte ich mich auch bei Heidi Schär-Sall (Ethnopsychoanalytikerin in Zürich) bedanken – dem beständigen Dialog mit ihr über Jahre hinweg habe ich tiefere Einsichten über die Psychoanalyse zu verdanken.
Damit der Transfer von der Praxis der dolmetschunterstützten Therapie hin zu einer wissenschaftlichen, universitär eingebetteten Auseinandersetzung gelingen konnte, war ich auf die Unterstützung und unermessliche Geduld meines Betreuers am Wiener Zentrum für Translationswissenschaft Univ.-Prof. Dr. Franz Pöchhacker angewiesen, der mich von Anfang an mit höchster Zuverlässigkeit begleitet hat und der die redliche wissenschaftliche Praxis nicht nur als Lehrender und als Betreuer seit Jahrzehnten unermüdlich vermittelt, sondern auch als Wissenschaftler konsequent vorlebt, und zwar sowohl in seinem unmittelbaren Umfeld am ZTW, als auch auf internationaler Ebene in einschlägigen wissenschaftlichen Kreisen.
Ich hatte das große Glück und Privileg, auch von meiner Zweitbetreuerin Doz. Dr. Brigitta Busch wichtige Impulse und wertvolle Inspiration aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive zu erhalten. Auch ihr gilt mein tief empfundener Dank. Sie hat mir eindrucksvoll vor Augen geführt, wie menschliche Erfahrungen als sprechende (und auch als schweigende) Wesen den akademischen Diskurs bereichern können.
Obwohl mein Vater Bogdan L. Dabić zeitlebens nicht viel von akademischen Danksagungen und Widmungen hielt, möchte ich mich dennoch an dieser Stelle bei ihm bedanken, auch wenn er nur meine allerersten, unsicheren Schritte als Doktorandin noch miterlebt hat. Dass er in der Lage war, sein sprachwissenschaftliches Arbeiten mühelos und selbstverständlich in sein alltägliches Sprechen zu integrieren, hat mein Denken und mein sprachliches Erleben nachhaltig geprägt. Hvala.
Спасибо auch an meine Mutter Natalija Minajeva, Hvala/спасибо/Danke auch an meine Schwestern Antonija und Jelena.
Allen Freunden und nahestehenden Menschen, die für die Strapazen meines Diss-Marathons Verständnis aufbringen konnten, gilt mein tief empfundener Dank, den auszudrücken mir die Worte fehlen.
1 Einleitung
Die psychotherapeutische Unterstützung ist eine wichtige integrative Maßnahme für kriegs- und foltertraumatisierte AsylwerberInnen und Flüchtlinge. Da alle Formen der Psychotherapie stark an Sprache gebunden sind und die Schwierigkeit, sich in einer fremden Sprache zu verständigen, durch die Problematik, über traumatische Erlebnisse zu sprechen, verschärft wird, stehen DolmetscherInnen in der Psychotherapie vor besonderen Herausforderungen: Als Sprachrohr für PsychotherapeutIn und KlientIn gleichermaßen müssen DolmetscherInnen neben Sprach- und Dolmetschkompetenz auch Einfühlungsvermögen und hohe Flexibilität und Belastbarkeit mitbringen, um die ständige Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe (Abgrenzung und Empathie) in der Psychotherapie zu bewältigen.
Die Triade konstituiert einen Raum, in dem sprachliche und emotionale, aber auch gesellschaftliche, politische und soziale Dimensionen aufeinander treffen. Der Entwurf tragfähiger Rollenbilder in der Triade muss von einer umfassenden Diskussion begleitet sein, die auch und gerade die Perspektive der KlientInnen berücksichtigt.
Bei der Psychotherapie handelt es sich um ein Setting, das auf größtmöglicher Verschwiegenheit und Exklusivität beruht. Bei den KlientInnen handelt es sich um Menschen, die Erfahrungen mit Krieg und Flucht, gegebenenfalls auch mit Folter gemacht haben und deren rechtlicher Status in Österreich zum Zeitpunkt der Psychotherapie in der Regel prekär ist. Als konstituierendes Element der psychotherapeutischen Triade erfüllen DolmetscherInnen eine wichtige Funktion bei der Verbesserung der psychischen Gesundheit der KlientInnen.
Ziel der vorliegenden Auseinandersetzung mit dem Thema Dolmetschen in der Psychotherapie ist es, die Arbeit der DolmetscherInnen insgesamt sichtbarer zu machen und diese kommunikative Arbeitssituation, die einerseits äußerst intim ist und andererseits in einen brisanten gesellschaftspolitischen Kontext eingebettet ist, aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Dabei sind individuelle Aspekte (psychische Belastung in der Arbeit mit Traumatisierten, Rollenverständnis) ebenso zu berücksichtigen wie kollektive und die Organisation als Gesamtes betreffende Faktoren (Intervisions- und Supervisionstreffen etc.).
Die Basis für die vorliegende Arbeit bildet eine von mir durchgeführte Interviewstudie, im Rahmen derer ich ausführliche, leitfadengestützte Tiefeninterviews mit KlientInnen, PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen durchgeführt habe. Bei den Befragten handelt es sich um Personen, die zum Zeitpunkt der Befragung als KlientInnen, DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen mit dem Zentrum für interkulturelle Psychotherapie in Tirol ANKYRA oder mit dem Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende HEMAYAT in Verbindung gestanden sind.
Die Antworten der Befragten tragen zu einem ganzheitlichen Verständnis des beforschten Settings bei und geben Aufschluss über das gemeinsame Arbeiten in der Triade, zum einen im Hinblick auf die konkrete, angewandte Arbeitstechnik der DolmetscherInnen, zum anderen im Hinblick auf die Hinzuziehung der DolmetscherIn, die allein durch ihre physische Präsenz einen maßgeblichen Einfluss auf die Gesprächssituation hat. Die Fragen betrafen die jeweilige Positionierung der Befragten in der Triade und ihre Wahrnehmung der Dolmetschtätigkeit. Die Aussagen der Befragten geben Einblick in die Dynamiken in der Triade (u.a. Allianzenbildung), das Rollenverständnis der DolmetscherInnen (Selbst- und Fremdwahrnehmung), den Umgang mit der Kulturexpertise der DolmetscherInnen sowie den Umgang mit der psychischen Belastung angesichts der Aufgabe, die DolmetscherInnen in diesem spezifischen Kontext zu bewältigen haben, nämlich traumatisierten Menschen eine Stimme zu verleihen.
Im Kapitel 2 wird das Thema „Kultur“ im Kontext der Translationswissenschaft sowie der Psychoanalyse und der Psychotherapie behandelt und ausgehend davon die Frage nach dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ gestellt.
Kapitel 3 widmet sich dem Phänomen des Traumas und seinen individuellen und kollektiven Auswirkungen. Das hier verhandelte Thema befasst sich mit der psychotherapeutischen Arbeit mit traumatisierten KlientInnen, daher wird im Kapitel 3 auch auf das Thema Folter ebenso eingegangen wie auf die Dynamiken und Probleme innerhalb der Einrichtungen für Kriegs- und Foltertraumatisierte. Zwar sind die DolmetscherInnen nicht für die Organisation der eigentlichen Arbeit in solchen Zentren zuständig, insofern, als sie nicht befugt sind, organisatorische, geschweige denn therapeutische Zielvorstellungen umzusetzen, dennoch bilden sie einen unverzichtbaren Teil des Teams und üben indirekt durch ihre Präsenz und ihre Kompetenz einen Einfluss auf das Arbeitsumfeld aus bzw. können von den Dynamiken im Team betroffen sein.
Im Kapitel 4 erfolgt eine Verortung des Gegenstands im Kontext des Community Interpreting, wobei auch auf die strukturellen Unterschiede im Vergleich zum Konferenzdolmetschen eingegangen wird. Die Spezifik des psychotherapeutischen Settings wird herausgearbeitet, ebenso die sich daraus ergebenden Implikationen für die berufsethischen Anforderungen an die darin arbeitenden DolmetscherInnen. Anschließend erfolgt ein Überblick über die angewandten Methoden und thematischen Schwerpunktsetzungen in ausgewählten themenrelevanten Forschungsarbeiten sowie ein Ausblick auf die Forschungsdesiderata der vorliegenden Untersuchung.
Das Forschungsprojekt wird im Kapitel 5 vorgestellt: methodische Überlegungen, Datenerhebung und eine Reflexion der eigenen Rolle als Forscherin.
In den darauf folgenden Kapiteln (6, 7 und 8) werden die jeweiligen Perspektiven der KlientInnen, der PsychotherapeutInnen und der DolmetscherInnen dargelegt. Anschließend folgt im Kapitel 9 eine Diskussion der gewonnenen Erkenntnisse. Es wird ein aus den gewonnenen Einsichten resultierendes Reflexionsmodell vorgestellt, das PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen dabei helfen soll, über das prekäre Gleichgewicht in der Triade und den Dynamiken, denen sie ausgesetzt sind, laufend zu reflektieren.
Dass traumatisierte Menschen die Gelegenheit bekommen, sich im Rahmen einer Psychotherapie in ihrer eigenen Sprache mitzuteilen und mit professioneller Unterstützung Wege finden, um mit ihren traumatischen Erinnerungen umzugehen, sollte der Gesellschaft ein Anliegen sein, und zwar nicht nur im Hinblick auf die gesundheitliche Versorgung der betroffenen Bevölkerungsgruppen, sondern auch im Hinblick auf die seitens der Politik häufig ins Treffen geführte und je nach ideologischen Prämissen mit unterschiedlichen Konnotationen aufgeladene Zielvorstellung von „Integration“. Aus der dolmetschwissenschaftlichen Perspektive bieten die Aussagen der Befragten wertvolle Einblicke in ein spezifisches Einsatzgebiet für DolmetscherInnen, in denen diese besonders stark mit (zum Teil divergierenden) Erwartungshaltungen ihrer KlientInnen und daraus resultierenden Rollenidealen konfrontiert sind, sowie mit emotional aufgeladenen Gesprächssituationen und belastenden Inhalten. Aufbauend auf bereits durchgeführten Untersuchungen in diesem Bereich werden im Rahmen der vorliegenden Studie weiterführend und vertiefend die Dynamiken in der Zusammenarbeit zwischen PsychotherapeutInnen und DolmetscherInnen beleuchtet, um zu einer multiperspektivischen Sichtweise auf das Dolmetschen in der Psychotherapie zu gelangen, im Rahmen derer im Arbeitsalltag auftretende Probleme ebenso Berücksichtigung finden wie grundsätzliche Betrachtungen über das triadische Setting.
2 Kultur und Interkulturalität
Göhring schlägt ausgehend von kulturanthropologischen Definitionen (deren Zahl „in die Hunderte“ geht, 2007: 85) die folgende Definition für Kultur vor:
Kultur ist all das, was man wissen, beherrschen und empfinden können muß, um beurteilen zu können, wo sich Einheimische in ihren verschiedenen Rollen erwartungskonform oder abweichend verhalten, und um sich selbst in der betreffenden Gesellschaft erwartungskonform verhalten zu können, sofern man dies will und nicht etwa bereit ist, die jeweils aus erwartungswidrigem Verhalten entstehenden Konsequenzen zu tragen. In dieser abgewandelten Definition wird der Unterschied zwischen passiver und aktiver Rollenkompetenz wie auch der Umstand berücksichtigt, daß dem handelnden Subjekt jeweils die Option des erwartungskonformen und des abweichenden Verhaltens offensteht. Außerdem wird der Beobachtung Rechnung getragen, daß in manchen Gesellschaften das „akzentfreie“ Auftreten eines Ausländers als störend, als irgendwie „ungrammatisch“ empfunden wird, weil man dem „Fremden nicht nur eine gewisse „Narrenfreiheit“ zugesteht, sondern Interferenzerscheinungen in seinem Verhalten direkt erwartet. (Göhring: 2007: 108)
Kultur wird hier also als eine Art Bringschuld des Lernenden definiert, als etwas, das man „wissen, beherrschen und empfinden können muß“, um zumindest die Wahl zu haben, sich „erwartungskonform“ zu verhalten, sofern man das will. Eine solche Definition richtet sich in erster Linie an Personen, die mit Menschen aus anderen Kulturen arbeiten können müssen, was auf DolmetscherInnen auf jeden Fall zutrifft.
An einer anderen Stelle schlägt Göhring eine Kulturdefinition vor, die sich explizit an den Anforderungen, die an ÜbersetzerInnen und DolmetscherInnen gestellt werden, orientiert:
Kultur, das ist all das, was ich wissen und woran ich glauben muß, um mich in der betreffenden Kultur wie ein Einheimischer in allen Rollen unauffällig bewegen zu können. Dieses Kulturverständnis zu erreichen, das müßte idealiter das Ziel des Dolmetschers und Übersetzers sein. D.h. er sollte die kognitiven Elemente, die emotionalen Tendenzen und die Glaubensinhalte der Zielkultur so weit kennenlernen, daß er mit ihren Mitgliedern weitgehend akzentfrei interagieren kann. (Göhring 2007: 85f.)
Dass die DolmetscherIn „unauffällig“ zu sein hat, ist durchaus ein erstrebenswertes Ideal, in letzter Konsequenz ist es jedoch selbstverständlich nicht erreichbar, und es ist zu vermuten, dass Göhring weniger eine Unauffälligkeit im Sinne der Unsichtbarkeit meint, als vielmehr eine Unauffälligkeit im Sinne einer gelungenen Anpassung – gelungen durch die Fülle an erworbenen Kenntnissen, die eine Wahlfreiheit ermöglicht: Nur derjenige, der weiß, welche Erwartungen an ihn gestellt werden, hat auch die Wahl, den Erwartungshorizont zu durchbrechen und gegebenenfalls die Konsequenzen dafür zu tragen. Wer nicht über die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten verfügt, muss unter Umständen Konsequenzen tragen, ohne zu verstehen warum.
Göhring bietet zur Illustration des Kulturbegriffs zusätzlich eine Metapher an:
Eine andere Definition, die ich gerne verwende, besagt, daß Kultur so etwas wie ein Schrank ist mit einer Fülle von Schubladen, in denen Problemlösungen lagern, mit denen die Kulturmitglieder an die Umwelt, an den Umgang mit den anderen und an den Umgang mit sich selbst herangehen. Der Übersetzer und Dolmetscher steht vor dem Problem, daß der Schrank, den er sich aufgrund der Einflüsse seiner Ursprungskultur gebastelt hat, in dem Moment, in dem er sich in den Bereich seiner Zielkultur begibt, aufhört, gültige Lösungen anzubieten. Der künftige Sprachmittler kann nicht umhin, sich noch einen zusätzlichen Schrank zu konstruieren und sich nun je nach Aufgabe in dem einen oder anderen Schrank zu bedienen. (2007: 86)
Daraus ergibt sich, so Göhring, dass jemand, der den Dolmetschberuf ernst nimmt, nicht an dem Schicksal vorbekommt, „in gewissem Umfang ein marginal man zu sein, sowohl in seiner eigenen Kultur als auch in seiner Zielkultur bzw. seinen Zielkulturen“ (ebda, S. 86f.), ein Schicksal, das DolmetscherInnen bis zu einem gewissen Grad mit KulturanthropologInnen teilen.
Im vorliegenden Kontext ist der Begriff „Zielkultur“ nicht als homogen zu begreifen: Eine Russisch-DolmetscherIn, die mit tschetschenischen KlientInnen arbeitet, ist nicht a priori mit der tschetschenischen Kultur vertraut (das gilt für zahlreiche andere Sprachen auch, die im Asylbereich nachgefragt sind), jedoch kann sie mit Hilfe ihrer Russisch-Kenntnisse Zugang zu der tschetschenischen Kultur gewinnen.
Für translatorisches Handeln ist die kulturelle Dimension von entscheidender Bedeutung, indem sie alle gesellschaftlich bedingten Aspekte des menschlichen Lebens beinhaltet, und somit ist Translation immer auch als ein kultureller Transfer zu betrachten (vgl. Kadrić et al. 2012: 27ff.). „Kultur entsteht aus dem Bedürfnis der Menschen, sich adäquat auf die Realität zu beziehen. Was als adäquat gilt, unterscheidet sich je nach Gesellschaft und den kollektiven Bedürfnissen dieser Gesellschaft“ (ebda., S. 29). Ergänzend zu dieser Begriffsdefinition und bezugnehmend auf das Thema Dolmetschen in der Psychotherapie sei angemerkt, dass eine Gesellschaft, ebenso wie eine Einzelperson, unterschiedliche Perioden durchläuft – eine Friedensperiode unterscheidet sich maßgeblich von einem Kriegszustand. Somit ist bei der Auseinandersetzung mit KlientInnen aus anderen Kulturkreisen unbedingt zu bedenken, dass deren Verhalten zum Teil sicherlich kulturell bedingt sein mag, zu einem anderen Teil jedoch auch von anderen Faktoren abhängig ist, wie Kriegserleben, Flucht, Migration, extreme Armut, Ungewissheit über den Aufenthaltsstatus, individuelle Aspekte etc.
2.1 Kulturelle Prototypen
Hepp bietet eine Typologie der Kulturen mit vier Kategorien (2006: 56):
Hierarchische Kultur: Ständegesellschaften, Kastensysteme oder Bürokratien. Dieser Prototyp ist durch prinzipielle Ungleichheit zwischen den Mitgliedern gekennzeichnet. Die hierarchische Ordnung wird gegen Veränderungen verteidigt, da Stabilität höher bewertet wird als dynamische Entwicklung.
Individualistische Kultur: individualisierte Marktgesellschaften, markt- bzw. wettbewerbsorientierte Unternehmungen. In solchen Kulturen muss jeder prinzipiell die Chance haben, jede Position einzunehmen, sofern er durch eine beobachtbare Leistung dazu in der Lage ist und sich im Wettbewerb durchgesetzt hat. Positionen können erworben werden, sind also nicht von vornherein gegeben und festgelegt.
Egalitäre Kultur: Basiskommunismus, frühe amerikanische Siedlerkulturen, alternative Bewegungen. In solchen Gemeinschaften wird eine Gleichheit für alle Mitglieder postuliert. Jedes Mitglied kann theoretisch jede Position einnehmen, wobei Positionen weder vererbt, noch notwendigerweise durch Leistung erworben werden. In solchen Kulturen wird gegen Bestrebungen, Ungleichheit herzustellen, aktiv vorgegangen.
Fatalistische Kultur: Bettler- oder Ausgestoßenenkulturen am unteren Ende der sozialen Skala, Gruppierungen von Künstlern und Intellektuellen am oberen, elitären Ende. Die Mitglieder einer fatalistischen Kultur sind nicht in feste Zusammenhänge eingebunden, sondern sind isoliert und gleichzeitig rigorosen Regelungen unterworfen. Die Mitglieder verfügen über Mechanismen, die ihr eigenes soziales und mentales Überleben innerhalb der Kultur gewährleisten.
Bei psychotherapeutischen Gesprächen spielt die kulturelle Verortung der KlientInnen, DolmetscherInnen und PsychotherapeutInnen eine wichtige Rolle, wobei mangelnde Kenntnisse über die Herkunft der KlientIn sicherlich zu klischeehaften und stereotypen Annahmen verleiten kann, etwa im Hinblick auf die Religiosität, Rolle der Frau, Ausprägung des Patriarchats etc. Wenn es in einer Psychotherapie darum geht, eine KlientIn kulturell zu verorten oder relevante Aussagen über ihren/seinen kulturellen Hintergrund zu treffen, dann ist es notwendig, über den ethnischen, sprachlichen und länderspezifischen Kontext hinaus auch andere Faktoren zu berücksichtigen, wie etwa die soziale Stellung der Familie, ob die Sozialisierung im ländlichen oder im urbanen Raum erfolgte, Ausbildungs- und Bildungsniveau sowie sonstige Einflüsse: Beispielsweise ist ein tieferes Verständnis der Kulturen im postsowjetischen Raum ohne eine Berücksichtigung der sowjetischen Prägung nicht möglich. So stellt es wohl eine Verkürzung dar, etwa von einer „tschetschenischen Kultur“ zu sprechen (gekennzeichnet durch patriarchale, traditionelle Strukturen und einen hohen Stellenwert des Islams), ohne mitzubedenken, dass die meisten älteren Mitglieder der tschetschenischen Volksgruppe in ihrer Sozialisierung stark von sowjetischen Vorgaben betroffen waren, im Schulsystem, am Arbeitsplatz, durch die Medien, durch die kulturelle Produktion und auch in anderen Sphären. In der Psychotherapie soll es nicht darum gehen, diese Einflüsse zu bewerten (oder zu entwerten), aber für ein umfassendes Verständnis der kulturellen Sozialisation einer KlientIn ist es von Bedeutung, auch historische, politische und gesellschaftliche Faktoren miteinzubeziehen.1
2.2 Sprache und Kultur
Sprache und Kultur sind untrennbar miteinander verbunden. Die Kultur findet in der Sprache ihren Ausdruck, und Sprache formt wiederum die Kultur. Somit geht das Erlernen einer Sprache unweigerlich mit dem Kennenlernen kultureller Gegebenheiten einher. Sprachkenntnisse ermöglichen idealerweise das Eintauchen in neue Kulturen, sowie im Gegenteil weitgehend gilt, dass mangelnde Sprachkenntnisse es Menschen verunmöglichen oder zumindest erschweren, am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen.
Als das Medium, mit dem wir unsere Erfahrungen und Interpretationen der Realität kommunizieren, ist Sprache „ein wesentlicher Ausdruck und gleichzeitig auch Träger der Kultur“ (Kadrić et al. 2012: 34), wenn auch nicht das einzige: paraverbale und nonverbale Mittel, Kleidung, Mimik und Gestik sind ebenfalls Elemente der Kommunikation, allerdings fällt es meistens nicht in den Zuständigkeitsbereich der DolmetscherIn, diese zu übertragen oder zu deuten, weil die GesprächspartnerInnen diese Deutung meist selbst vornehmen.
Die Existenz sowie auch das Fehlen von Begriffen zeigen auf, welche Aspekte der Realität eine Kulturgemeinschaft wahrnimmt bzw. begreift und welche nicht. Gerade beim translatorischen Handeln entsteht ein Bewusstsein darüber, welche Begriffe und Wörter in einer Sprache „fehlen“ oder einer zusätzlichen Erklärung bedürfen.
Die Assoziationen, die mit dem Begriff „Kultur“ einhergehen, sind im Spannungsfeld zwischen Bereicherung und Bedrohung zu verorten, wobei man als Medienkonsument nicht umhin kann, derzeit eine Tendenz hin zum zweiteren zu beobachten.
Im Kontext der dolmetscherunterstützen transkulturellen Psychotherapie kann die Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff nicht differenziert und sorgfältig genug geführt werden. Eine kultursensible Herangehensweise an die Anliegen der KlientInnen ist unabdingbar, zugleich birgt die Betonung (vermeintlich) kultureller Unterschiede immer auch das Risiko der Pauschalisierung, Klischeeisierung und Exotisierung in sich, sowie die Gefahr, soziale oder individuelle Faktoren zu kulturalisieren (also, der „Kultur“ der KlientInnen zuzuschreiben) und damit die eigentlichen, zugrundeliegenden Zusammenhänge zu übersehen oder fehl zu interpretieren. Wenn „kulturelle Besonderheiten“ als Erklärung für unverständliches oder befremdliches Verhalten von Menschen aus anderen Ländern herangezogen werden, dann ist es notwendig zu differenzieren, ob die genannte Verhaltensweise in der jeweiligen Kultur überhaupt sozial erwünscht, akzeptiert oder geächtet ist.