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Das Kind beugte sich. Es hörte noch, wie die Eltern abfuhren, dann lag es wach in seinem Bett. Es grübelte. Jeden Samstagabend bekam es Panik, ohne den Grund zu wissen. Mit vielen Gedanken und offenen Augen wälzte es sich hin und her. Hoffentlich passierte den Eltern nichts. Von nächtlichen Unfällen auf eisglatten Straßen las es viel in der Zeitung. Die Kirchenglocke schlug. Erst halb neun. Bis zehn waren es noch anderthalb Stunden. Das Kind würde ja gerne schlafen, aber die Augen fielen nicht zu. Und je mehr es daran dachte zu schlafen, desto wacher wurde es. Zwischendurch ging es einmal zur Toilette, obwohl es gar nicht musste. Wieder zurück ins Bett, das weich und warm war; daran lag es nicht, darin fühlte sich das Kind wohl. Nur Einschlafen gelang nicht. So lag es mit offenen Augen und starrte zur Decke. Der Spalt zwischen den Gardinenschals ließ das kalte, weiße Mondlicht in sein Zimmer. Schattenspiele an der Wand erzeugten manche Fantasien. Zauberfeen, Riesen und Drachen kämpften miteinander. Das Kind schloss die Augen, um sich vor den Trugbildern zu schützen, nicht um zu schlafen. Es zählte den Glockenschlag der Kirchturmuhr. Immerhin schlug es schon neun. Die Hälfte des Alleinseins war bereits überstanden, denn die Eltern kamen immer pünktlich zurück. Ein weiterer Einschlafversuch brachte nichts. Hellwach stand das Kind auf und schlich zum Fenster. Vorsichtig schob es den Vorhang ein wenig zur Seite. Vielleicht bog der graue Käfer des Vaters um die Ecke. Dann hätte sich alles gelöst. Nichts tat sich auf der Straße. Sie war menschenleer. Kein Auto fuhr vorüber. Erst recht war weit und breit kein grauer VW zu sehen. Das Kind kroch mutlos ins Bett zurück. Die Eltern hielten doch zu ihm. Es war nur der Samstagabend, der Probleme machte. Das Kind stand wieder auf, lief durch die dunkle Wohnung und sprach mit sich selbst, um seine Angst zu verjagen. Nichts nutzte, das Kind blieb allein und fühlte sich verlassen. Deshalb gab es seinen Kampf auf. Starr und steif zog es sich zurück ins Bett, und sein Herzklopfen war wie ein Zeitzeichen.
Endlich wurde ein Schlüssel im Schlüsselloch gedreht. Die Haustür knarrte. Flurlicht fiel in die Diele. Die Eltern warfen einen flüchtigen Blick ins Kinderzimmer, das gehorsame Kind tat so, als ob es schlief. Ein paar Minuten später war es tatsächlich eingeschlafen.
Gottesgeschichten
Josua sagte zum ganzen Volk: Wenn es euch nicht gefällt, dem Herrn zu dienen, dann entscheidet euch heute, wem ihr dienen wollt: den Göttern, denen eure Väter jenseits des Stroms dienten, oder den Göttern der Amoriter, in deren Land ihr wohnt. Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen. Das Volk antwortete: Das sei uns fern, dass wir den Herrn verlassen und anderen Göttern dienen. Denn der Herr, unser Gott, war es, der uns und unsere Väter aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat (Jos 24,15–17).
Vor einiger Zeit berichtete mir ein Bekannter von seiner Herzoperation. Er hatte einige Bypässe und eine neue Herzklappe erhalten. Ihm stand noch die Angst im Gesicht geschrieben. Ja, die Angst sei schlimmer als das Drum und Dran zur Operation. Wie ein kleines Kind habe er Angst gehabt. Aber im Nachhinein sei er fest überzeugt, „der da oben“ habe ihn nicht allein gelassen. „Der da oben“ habe ihm geholfen. Er wiederholte es, ohne den da oben wäre er jetzt nicht mehr. Das Wort „Gott“ sprach er nicht aus. Immerhin hatte der Mensch mit dem da oben eine positive Erfahrung gemacht. Er habe ihn ins Leben zurückgeholt. Viele halten kritisch dagegen, das sei doch naiv. Die Medizin und die Kunst des Chirurgen hätten ihn am Leben gehalten. Falls ich so argumentiere, sind auch die gegenteiligen Geschichten über Gott naiv. In ihnen wird Gott mit dem Tod verbunden. Als mein Mann starb, erzählt die Witwe, hat der da oben uns allein gelassen. Dabei brauchte ich meinen Mann noch. Ich könnte wieder auf die Medizin verweisen. Vielleicht waren die Ärzte überfordert.
So steht Geschichte gegen Geschichte, Geschichten der Freiheit gegen Geschichten der Unterdrückung, Geschichten der Angst gegen Geschichten des Mutes. Der Mensch muss sich entscheiden, welcher Geschichte er vertraut und welche er erzählt. Stimmt er der Gottesgeschichte vom Leben zu, oder ist die Gottesgeschichte vom Sterben ihm näher? Gott und das Leben oder Gott und der Tod?
Das Volk Israel muss sich in Sichem zwischen verschiedenen Geschichten entscheiden. Da stehen die Götter der Amoriter neben dem Gott, der das Volk Israel aus dem Sklavenhaus Ägyptens befreit hat. Diese Geschichte ist das Fundament des jüdischen Glaubensbekenntnisses. Keine andere hat Israel so bestimmt wie die Befreiungstat Gottes. Gott führt aus der tödlichen Unterdrückung zum Leben, weil er kein Gott des Todes ist. Daran glauben die Israeliten und davon lassen sie sich nicht abbringen, gleichgültig, welche Geschichte sie mit Gott erlebt haben oder noch erleben werden.
Die Freiheitsgeschichte Israels ist keine Glaubensgeschichte eines einzelnen Menschen, der am Herzen operiert worden ist. Sie dreht sich um ein ganzes Volk. Eine solche Geschichte brauchen Menschen, um gegen den Tod an das Leben zu glauben. Deshalb erzählen sie sich die Geschichte, Sabbat für Sabbat. Welche Gottesgeschichte erzählen wir?
Trotz allem
Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn (Röm 8,38 f).
Trotz aller Zweifel
trotz aller Angst
trotz aller Schmerzen
trotz aller Schuld
trotz aller Trauer
trotz aller Hoffnungslosigkeit
der Resignation trotzen
und dem Leben
mutig und scheu
zulächeln
(Alexander Jehle)
Mit vielen finde ich mich in dem Gedicht wieder. Zeile für Zeile buchstabiere ich es durch.
Zweifel bestimmt oft das Leben. Man zweifelt an sich selbst und an der Welt.
Wie schnell kommt Angst auf.
Angst und Zweifel lassen schuldig werden, aber Schuld darf keiner öffentlich eingestehen, sonst gibt er sich eine Blöße.
Trauer verfolgt mich ein Leben lang. Ich bin traurig über verpasste Gelegenheiten und über Abschiede.
Hoffnungslos sind viele in der Welt. Haben wir überhaupt eine Zukunft? Sie steht in den Sternen.
Über Schmerzen lässt sich nur jammern.
Der Dichter hält dagegen: „Der Resignation trotzen und dem Leben mutig und scheu zulächeln.“
Ich würde gerne dem Leben mutig, nicht überheblich, eben scheu wie ein Reh zulächeln. Nein, es nicht kalt und unbarmherzig auslachen, es warmherzig anlächeln.
Paulus schreibt ebenfalls ein Gedicht. Der Apostel dichtet ein Plädoyer, das Gott vor Gericht verteidigen könnte. Dabei sieht er manches genauso düster wie der Dichter. Er gebraucht nur andere Worte aus der Sprache seiner Zeit. Da sind böse, finstere Mächte, die den Menschen bedrohen. Selbst Engel können zu Dämonen werden. Zukünftiges jagt Angst und Schrecken ein, und das Gegenwärtige ist noch belastender. Was mich jetzt aus der Bahn wirft und mein Leben auf den Kopf stellt, ist eine Last. Durch sie wird der Mensch überwältigt. Undurchschaubares überrennt ihn. Ach wäre schon alles vorbei. Schmerzen, Trauer und Schuld haben Gewalt, das Leben eines Menschen zu zerstören.
Der Verteidiger vermeidet das banale Motto: Kopf hoch, es wird schon alles gut. Immer nur lächeln, nein, er legt ein überraschendes Bekenntnis ab:
Ich, Paulus, kenne alles, was euch bedroht. Lasst euch nicht irremachen! Nichts auf der Welt kann euch von der Liebe Gottes trennen, nichts. Selbst wenn ihr zweifelt und ihr euch fragt, ob es Gott überhaupt gibt, ihr werdet von der Liebe Gottes nicht getrennt. Selbst wenn ihr den Glauben verliert, Gott lässt euch nicht los. Ein tröstlicher Gedanke!
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