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Im Frühjahr 2005 geschah dann einiges. In der Firma ging es mehr als turbulent zu, neben der normalen Hektik tauchten zusätzliche Probleme auf. Entlassungen aufgrund von Produktionsverlagerungen wurden ausgesprochen. Es fanden deshalb Umstrukturierungen und organisatorische Neuausrichtungen statt. Emotional empfand ich diese Zeit als sehr belastend. Ein Päckchen kam zum anderen, so erschien es mir. Walter und ich trennten uns und kamen kurze Zeit später doch wieder zusammen. Ausgerechnet zu einer wichtigen Stoffmesse wurde ich so krank, dass ich zu Hause bleiben musste. Ich hatte mir einfach zu viel zugemutet und mein Körper rächte sich mit einer schweren Grippe. Christa, eine meiner besten und langjährigen Freundinnen, schickte mir daraufhin einen Brief. Dieser enthielt ein Schreiben des Mönchs Bernhard von Clairvaux an seinen Freund Papst Eugen aus dem 12. Jahrhundert »Gönne Dich Dir selbst.« Ich las Zeilen, die mich tief berührten: »Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für die Besinnung vorsiehst, soll ich Dich da loben? (…) Wenn also alle Menschen ein Recht auf Dich haben, dann sei auch Du selbst Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. (…) Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein? (…) Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: Tu das immer, ich sage nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es immer wieder einmal.« Diese Worte ließen mein schlechtes Gewissen, nicht auf der Messe zu sein, schlagartig zur Ruhe kommen. Im Laufe des Jahres nahm ich diesen Text immer wieder zur Hand, er befand sich jederzeit griffbereit in meinem Timer. Ich versuchte die Worte zu beherzigen und sorgte dafür, dass ich mir immer wieder kleine Inseln der Ruhe, Entspannung und Besinnlichkeit schaffte.
Die Beziehung zu Walter war wieder entspannter, auch weil ich beschlossen hatte, mehr Zeit im Hier und Jetzt zu verbringen, mehr den Augenblick zu genießen und nicht ständig den Blick nach vorne zu werfen. Dies gelang mir ganz gut und dadurch wich der Druck. Wir beschlossen, zum ersten Mal allein, nur zu zweit, ein paar Tage Urlaub zu machen. Unser Reiseziel war eine einsam gelegene Finca im Nordosten von Mallorca. Wir verbrachten traumhafte Tage und kehrten beschwingt einen Tag vor meinem 40. Geburtstag im Mai wieder zurück. Meinen runden Geburtstag feierte ich dann mit meiner Familie, allen meinen Freunden und auch vielen Kollegen aus der Firma mit einer stimmungsvollen Party im Hafen von Münster. Selbst schenkte ich mir eine zehntägige Ayurveda-Kur, die zwei Tage später in Bad Wildstein begann. Die Ruhe dort, das Entgiften des Körpers durch die ayurvedische Kost und die wohltuenden Behandlungen, der Verzicht auf Alkohol, das tägliche Yoga, das Faulenzen im grandiosen Park unter uraltem Baumbestand, die Radtouren an der nah gelegenen Mosel, dies alles tat unendlich gut. Ich fühlte mich zufrieden, obwohl es auch in der Kur Momente gab, in denen ich tieftraurig war. Diese traten immer dann auf, wenn ich mich draußen im Park aufhielt. In meinem Liegestuhl sitzend, schaute ich in die Baumkronen, hörte das Laub rascheln, sah die Eichhörnchen von Ast zu Ast klettern, spürte den Wind in meinen Haaren und versuchte mich der Zeit hinzugeben, die langsam und träge verging. Schmerzlich wurde mir dann bewusst, wie wenig ich gedanklich im Heute war. Ständig waren meine Überlegungen mit dem Morgen, mit der Zukunft beschäftigt. Nicht nur, weil dies mein Job so erforderte, es lag ganz einfach an mir, an meiner Persönlichkeit. Ich brauche Ordnung und Struktur um mich herum, möchte alles planen und vorausschauend bedenken, Chaos ist mir zuwider. Deshalb bin ich immer erst dann zufrieden, wenn alles erledigt ist und mein Dasein klar und übersichtlich vor mir liegt. Mit dieser Haltung ist es sehr schwierig, im Hier und Jetzt zu sein. Ich realisierte, dass ich mir dadurch auch vieles nahm. Wenn ich gedanklich ständig woanders war, konnte ich mich auch auf die Gegenwart nicht voll einlassen. War ich deshalb von den Zielen meines Lebens so weit weg?
In diesem Urlaub dachte ich zum ersten Mal über Kündigung nach und darüber, wie ich mich beruflich verändern könnte. Meine alte Leidenschaft für das Schreiben von Texten und Briefen kam mir in den Sinn. Hatte ich vielleicht sogar das Talent ein Buch zu schreiben? War es nicht leichtsinnig meinen sicheren Job aufzugeben, um etwas mir völlig Neues und Unbekanntes zu wagen?
Nach meiner Rückkehr war meine Erholung schnell dahin, meine Überlegungen waren flink beiseitegeschoben, der alte Rhythmus schlich sich wieder ein. Das Gefühl, niemandem wirklich gerecht zu werden, kehrte zurück. Schwierigkeiten, die auftraten, machte ich häufig an mir und meinem Verhalten fest. »Ich bin schuld, ich habe mich nicht richtig verhalten« waren Sätze, die ich oft und gerne innerlich benutzte. Wieder bemerkte ich nicht oder wollte es nicht bemerken, dass ich mich nur von außen bestimmen ließ. Jegliche Zweifel, die mahnend in mir hochkamen, unterdrückte ich. Zwischendurch schützte ich mich, indem ich verbal austeilte, oft war ich ungenießbar. Meine Unzufriedenheit ließ ich an anderen aus. Keine leichte Zeit, weder für mich, noch für die Menschen um mich herum. Durch Meditation und Auseinandersetzung mit meinem Glauben versuchte ich etwas Ruhe und Ausgeglichenheit zu finden. Der Jakobsweg spukte immer noch in meinem Kopf herum, verbunden mit der Sehnsucht einfach alles stehen und liegen zu lassen.
Im Sommer urlaubten wir dann nochmals auf Mallorca, diesmal zu dritt. Einen Tag, bevor wir abflogen, ließ ich von meinem Bruder, der mir als Geschäftsführer vorstand, den Urlaubsschein abzeichnen und nutzte dabei die Gelegenheit, ihm zwei weitere Scheine mit der Bitte um Bewilligung zu geben. Bei dem einen war mir klar, dass er diesen abzeichnen würde, auch wenn die Zeit, in der ich frei haben wollte, nicht selbstverständlich war. Zwischen Weihnachten und Neujahr wollte ich ein spirituelles Seminar besuchen und gerade dieser Zeitraum ist eine ganz heiße Phase in der Kollektionserstellung, aber nach fünf Jahren Präsenz konnte ich das guten Gewissens vertreten. Nachdem er seine Unterschrift unter den ersten Schein gesetzt hatte, schaute er mich bei dem zweiten mit mehr als fragendem Blick an: »Das ist nicht dein Ernst, oder? Sechs Wochen am Stück im nächsten Jahr, im Mai und Juni? Wofür?« Daraufhin erzählte ich ihm von meinem Wunsch den Jakobsweg zu gehen, ebenso erzählte ich ihm von meinen Zweifeln und meinen inneren Konflikten. Es war ein gutes Gespräch, wir tauschten uns über unsere größten Wünsche aus, aber auch über unsere Gedanken und Vorstellungen vom Leben. Ich fühlte mich von meinem Bruder verstanden, empfand eine besondere Nähe zu meinem »großen« Bruder. Dennoch, das war mir vorher bereits klar gewesen, die Unterschrift bekam ich nicht. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in unserem Unternehmen: Das, was wir unseren Mitarbeitern nicht zugestehen, ist auch für uns tabu. Wieso hatte ich es dann überhaupt versucht? Wollte ich ein Signal setzen? Sollte ich mich entscheiden? Hieß es am Ende sogar Karriere oder Jakobsweg?
Der Urlaub zu dritt war schön und schrecklich zugleich. Obwohl ich mich mit Marie, Walters Tochter, sehr gut verstand, kam ich mir oft als drittes Rad am Wagen vor. Es gab eine Symbiose zwischen Vater und Tochter, die so stark war, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Es gab auch keinen Zweifel daran, wer die oberste Priorität bei Walter hatte. Auf der einen Seite absolut in Ordnung, auf der anderen Seite schmerzhaft. Wäre ich mir seiner Gefühle sicherer gewesen, hätte ich mich selbst nicht ständig in Frage gestellt, vielleicht wäre der Urlaub dann so richtig entspannt gewesen. So war er neuer Nährboden für meine Zweifel. Der Druck war wieder da. Mein Beschluss, mehr in der Gegenwart zu leben, war eben nicht so einfach in die Tat umzusetzen.
Kurz nach Ende des Urlaubs begann erneut die Periode der Messen und der Konzeptfindung für die neue Saison. Es reihte sich Reise an Reise, Termin an Termin. Der September und der Oktober sind immer eine der reiseintensivsten Monate in der Modebranche, jedenfalls im Bereich der Produktionsentwicklung. Gerade in dieser Zeit ist es so, als wenn man wie im Hamsterrad läuft, immer nach vorne – schnell, schneller, am schnellsten.
Anfang Oktober war ich dann über das Wochenende bei Walter in Bonn. Wir waren diesmal allein. Wir hatten wunderbares herbstliches Wetter, wir flanierten am Samstag durch die Geschäfte der Stadt, verbrachten einen harmonischen Abend miteinander, frühstückten am anderen Morgen lange und ausgiebig und begaben uns dann an den Rhein, um einen langen Spaziergang in der Sonne zu unternehmen. Es war herbstlich warm, der Rhein floss träge dahin. Wir genossen die letzten intensiven Sonnenstrahlen des Herbstes, wie die Menschen um uns herum. Wir aßen Eis, lagen sogar im Gras, es war einfach schön. Vielleicht war es diese entspannte Atmosphäre, dass die Unterhaltung wieder einmal auf das Thema unserer Beziehung zusteuerte. Das Gespräch wurde zunehmend hitziger und emotionsgeladener, unsere unterschiedlichen Erwartungen an unsere Partnerschaft standen im Mittelpunkt der Diskussion. Dann fielen der folgenschwere Satz und die Entgegnung, von wem zuerst, weiß ich heute nicht mehr: »Dann lassen wir es.« »Ja, gut, dann lassen wir es.« Und wir ließen es dann auch, wir trennten uns. Wir weinten beide. Ich, weil ich wieder alleine war und dachte, dass meine Liebe wieder nicht ausgereicht hat: »Ich bin wieder gescheitert.« Er, weil er begriff, wie ernst es mir diesmal war.
In einer späteren Mail schrieb ich ihm, dass es besser sei, sich zu trennen, wenn der eine den anderen ständig davon überzeugen müsse, dass er es wert sei, von ihm geliebt zu werden. Das ist auf Dauer anstrengend und man verliert darüber seine eigenen Wünsche und Vorstellungen aus dem Blick.
Auf dem Weg nach Hause hatte ich an diesem Sonntagabend im Auto sehr viel Zeit meinen Tränen freien Lauf zu lassen und nachzudenken. Es war sehr viel Schmerz in mir, trotzdem konnte ich fahren, es war, als ob das Fahren auf der dunklen Autobahn meinen Kummer aus mir herausspülte und Platz machte, damit meine Gedanken frei fließen konnten. Ich ließ mein ganzes Erwachsenenleben Revue passieren, erinnerte mich an Schönes, an Trauriges, an meine ersten Berufspläne nach dem Abitur, meine beruflichen Stationen, meine erste große Liebe, meine erste Ehe, meine Partnerschaft danach. Ich fragte mich: Was macht dir so richtig Freude in deinem Leben? Wo sind deine Talente, was hast du aus ihnen gemacht? Was wünschst du dir am meisten? Bist du wirklich glücklich oder fehlt dir etwas? Warum waren meine Beziehungen gescheitert, warum hatte meine Ehe nicht gehalten? War ich bei der Liebe immer dem gleichen Muster gefolgt, hatte mir einfach den falschen Mann ausgesucht? Wurde ich deshalb nicht geliebt, weil ich die Liebe, die mir im Laufe der Jahre für mich selbst abhandengekommen war, bei anderen suchte und damit jeden Mann überforderte? Ich ging mit mir selber schonungslos ins Gericht, gab mir auf alle Fragen ehrliche Antworten, es hörte ja keiner zu. Aber es gab auch Fragen, auf die ich keine Antworten hatte, da blieb es in mir einfach stumm. Auf dieser Fahrt begriff ich, dass nur ich selbst die noch fehlenden Antworten finden konnte, ich allein war dafür verantwortlich, niemand sonst. Auch wurde mir klar, dass ich dafür Zeit brauchte. Was hatte Bernhard von Clairvaux noch geschrieben: »Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst.« Ich wollte mir nicht länger den Kopf darüber zerbrechen, ob ich so viel arbeitete, weil ich keine eigene Familie hatte oder ob ich keine Familie hatte, weil ich so viel arbeitete. Ich hatte es satt, als Karrierefrau abgestempelt zu werden. Ich wollte einfach nicht länger zwischen zwölf und vierzehn Stunden am Tag mit meinem Beruf verbringen, um am Ende meiner Berufslaufbahn alleine und eine dieser unzufriedenen Modetanten zu sein.
Als ich in Münster ankam, hatte ich Entscheidungen gefällt, die mein Leben verändern sollten. Ich war mir ganz sicher. Ich wollte noch in der gleichen Woche kündigen, ich wollte die Modebranche verlassen und noch mal etwas ganz Neues beginnen. Was das sein könnte, darüber würde ich in aller Ruhe nachdenken und die Zeit würde mir dabei helfen. Kurz nach meinem letzten Arbeitstag wollte ich mich auf den Weg nach Santiago de Compostela machen und mich endgültig zu dem spirituellen Seminar zwischen den Jahren anmelden. Dem nächsten Mann, in den ich mich verlieben sollte, wollte ich von vornherein klaren Wein einschenken: »Eine eigene Familie ist für mich wichtig. An einer Beziehung nach dem Motto, wir schauen mal, was draus wird, und lassen alles ganz langsam auf uns zukommen, habe ich keinerlei Interesse.«
An dem Abend war mir innerlich zum Weinen und Lachen zumute. Ich fühlte mich befreit, gleichzeitig hatte ich Angst vor meiner eigenen Courage. Trotzdem oder gerade deswegen setzte ich alles, natürlich nur das, was ich selbst beeinflussen konnte, in die Tat um. In der gleichen Woche kündigte ich. Das spirituelle Seminar besuchte ich wie geplant zwischen Weihnachten und Neujahr. Mein letzter Arbeitstag war gegen Ende April 2006, sodass ich am 21. Mai 2006, meinem 41. Geburtstag, nach St. Jean-Pied-de-Port aufbrechen konnte, um endlich zum Grab des heiligen Jakobus zu pilgern.
Noch heute freue ich mich darüber, wie liebevoll und souverän mein Bruder und mein Vater auf meine Kündigung reagierten. Nachdem sie durch unser Gespräch klar verstanden hatten, wie ernst es mir war, versuchten sie auch nicht, mich von meinem Entschluss abzubringen. Mein Bruder sagte mir: »Ich arbeite gern mit dir zusammen, du machst deine Arbeit gut und gerne würde ich auch weiterhin mit dir zusammenarbeiten wollen. Ich werde dich aber trotzdem nicht überreden, bei uns zu bleiben, weil ich dann immer mit dem Gefühl leben müsste, dass du doch irgendwann gehst, und mit dieser Unsicherheit ist kein gutes Zusammenarbeiten möglich.« Für diese Worte war ich ihm sehr dankbar, weil sie mir in der folgenden Zeit bei aufkommenden Zweifeln immer wieder eine Hilfe waren. Die Wertschätzung meines Bruders tat gut, aber auch seine klare Aussage, dass die Firma für ihn Priorität habe, bestärkte mich. Letztendlich fühlte ich mich dadurch noch mehr bestätigt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Denn ich wollte dem, was mir wichtig war, mehr Priorität geben.
Bei meinem Vater hatte ich trotz seiner für mich positiven Reaktion das Gefühl, dass er auch ein wenig enttäuscht war, dass ich seine bisher gut funktionierende Nachfolgeregelung nun durcheinanderbrachte. Doch sein gesunder Pragmatismus und auch seine väterlichen Instinkte rückten schnell anderes in den Vordergrund. Er sorgte sich, wie auch später meine Mutter, sehr stark um die Folgen für mich. »Was willst du denn machen, welche Pläne hast du, wovon willst du auf Dauer leben?«, waren seine Fragen. Fragen, die ich mir natürlich auch stellte. Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich viele Ideen hätte, aber noch nichts Konkretes ins Auge gefasst hätte. Vielleicht studieren: Journalismus, Bibliothekswissenschaften, Literatur- oder Kommunikationswissenschaften. Meinen alten Traum ein Buch zu schreiben, in die Tat umsetzen. Mich sozial engagieren. Alles das, was mich als Abiturientin auch interessiert hatte. Vieles schwirrte in meinem Kopf herum, sortiert war noch nichts, wie denn auch, ich musste erst einmal diesen gravierenden Einschnitt überhaupt verarbeiten.
Wir hatten vereinbart, meine volle Kündigungszeit von einem halben Jahr auszuschöpfen, und ich hatte versprochen, erst dann zu gehen, wenn die Nachfolge feststand und ich sie eingearbeitet hatte. Bis dahin wollten wir den Mitarbeitern auch nichts sagen, um keine unnötige Unruhe aufkommen zu lassen. Ich hatte für mich beschlossen, mich mit meinem neuen Weg erst dann weiter auseinanderzusetzen, wenn der Kopf dafür so richtig frei war – frei zu sein vom Arbeitsalltag mit seinen festgelegten Tagesabläufen. Mit meinen Ersparnissen, so hatte ich mir ausgerechnet, konnte ich mir dies auch einige Zeit leisten. Sicher war nur, dass ich den Jakobsweg gehen würde, sobald ich aufhören würde zu arbeiten.
Seltsamerweise machte mir meine Arbeit in den folgenden Monaten wieder sehr viel Spaß, vieles klappte leichter als vorher. Woran lag das? Sicherlich, weil ich damit aufgehört hatte, mich ständig in Frage zu stellen, alles in Zweifel zu ziehen. Ebenso war ich mir trotz der Unruhe bezüglich meiner beruflichen Zukunft immer sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich bereute nichts, im Gegenteil, ich empfand pure Lebensfreude.
Die Weisheit von Andre Gidé »Man entdeckt keine neuen Weltteile ohne den Mut zu haben, alle Küsten aus den Augen zu verliere« drückte meinen Seelenzustand aus. Ich hatte den Mut gehabt, meinen sicheren Boden unter den Füßen zu verlassen, ohne zu wissen, was kommt. Aber wie jeder Entdecker, so dachte ich, würde ich auf etwas stoßen, etwas Neues, Unbekanntes, aber bestimmt auch etwas Spannendes und Lohnendes. Später haben mir viele, nicht nur jene aus meiner engsten Umgebung, Bewunderung für diesen Mut entgegengebracht. Mehr noch, ich spürte sehr viel Respekt, das wiederum verlieh mir noch mehr Mut und Entschlossenheit. Etwas Anderes, etwas sehr Wesentliches, gab mir ebenso die tiefe Zuversicht, dass ich das Richtige tat. Es war mein Glaube. Ich wusste, ich bin nicht allein, Gott ist da, bei mir, in mir und gibt mir die Kraft, alle Antworten auf meine Fragen zu finden.
Ein Geschenk für meinen Mut zu neuen Ufern aufzubrechen, bekam ich übrigens sehr schnell. Bis heute verstehe ich rein rational nicht, warum ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, in der Situation. In der gleichen Woche, in der ich kündigte, begegnete ich dem Mann, der heute mein Mann ist. Verrückt, total verrückt. Die Umstände unseres Kennenlernens, das Wie, alles war schon ungewöhnlich.
Wie es unter Frauen üblich ist, müssen die besten Freundinnen von allen wichtigen Entscheidungen sofort in Kenntnis gesetzt werden. Ich bin da nicht anders gestrickt. Allerdings habe ich mich doch in einem Punkt zurückgehalten, meine »alten« Freundinnen aus meiner Heimatstadt band ich nicht ein, nicht weil ich sie nicht für vertrauenswürdig hielt, sondern weil alle auch eine Nähe zu meiner Familie dort haben und ich sie nicht in eine Zwickmühle bringen wollte. Denn mir war klar, dass mein Bruder zunächst Stillschweigen bewahren wollte. Meinen Freundinnen aus Münster, Susanne, Larina und Anne, erzählte ich natürlich die Neuigkeiten. Freunde sind wichtig, vor allem wenn man keine eigene Familie hat. Sie haben meist einen anderen Blickwinkel als die Herkunftsfamilie, vieles wird dadurch anders eingeordnet. Deswegen bedeutete mir das Feedback, die Reaktion auf meine Entschlüsse, seitens meiner engsten Vertrauten sehr viel.
Larina erreichte ich erst nach zwei Tagen telefonisch, eigentlich hatte sie auch an diesem Dienstagabend keine Zeit. Sie hatte vor kurzem eine spirituelle Ausbildung begonnen und gerade an diesem Abend traf sie sich mit einem ihrer Kollegen in unserer damaligen kleinen Stammkneipe, dem »Rabenschwarz« um die Ecke. Sie lud mich ein, dazu zu kommen, wenn mich die Anwesenheit von Gu, so sein Name, nicht stören würde. Es störte mich überhaupt nicht, besser gesagt, es war mir sogar egal, ob dieser Wildfremde dabei sitzen würde. Er kannte mich nicht, ich ihn nicht, sollte er doch zuhören, wenn er denn wollte, es interessierte mich in dieser Situation sowieso nicht. Als ich dann in das »Rabenschwarz« eintrat, saßen die beiden schon dort. Larina stellte uns kurz vor. Ohne ihn danach großartig zu beachten, sprudelten die Ereignisse der vergangenen Tage nur so aus mir heraus. Ich ließ keinen meiner gefassten Vorsätze aus, nicht einen einzigen. Larina, aber auch Gu, hörten interessiert zu. Larina, wie später auch meine anderen Freunde, unterstützte mich vorbehaltlos in meinen Plänen und freute sich mit mir, ja, sie bestärkte mich sogar. Irgendwann meldete sich auch Gu zu Wort und meinte, er würde meinen Mut sehr bewundern und er freue sich, dass er an meiner Geschichte hätte teilhaben dürfen.
Noch ungefähr eine halbe Stunde plauderten wir über alles Mögliche, der Abend war kurzweilig und lustig. Gu fand ich sympathisch. »Netter Typ«, dachte ich mir. Als Mann nahm ich ihn an diesem Abend eigentlich nicht so richtig wahr. Wie auch, das, was hinter mir lag, war noch viel zu frisch. Dennoch muss ich zugeben, dass ich seine braunen Augen und den intensiven Blick daraus schon attraktiv fand, und seinen Po stufte ich auch als ganz knackig ein, als er sich zwischendurch auf den Weg zum stillen Örtchen machte. Dann wollte ich mich verabschieden, Gu hielt mich aber auf, ich solle bitte kurz warten. Er verließ das »Rabenschwarz« mit den Worten: »Ich hole nur schnell etwas aus dem Auto. Da gibt es etwas, was ich dir geben möchte.« Larina und ich schauten uns erstaunt an, sie hatte auch keine Ahnung, wovon er sprach. Bei seiner Rückkehr überreichte er mir ein Päckchen mit den Worten: »Ich weiß nun, warum ich vor einigen Wochen aus einem Impuls heraus etwas gekauft habe, ohne zu wissen, warum oder für wen. Heute nun ist es mir klar geworden. Das darin enthaltene Geschenk ist für dich bestimmt.« Ich reagierte mit Ungläubigkeit: »Das sagst du jetzt nur so, eine schön ausgedachte kleine Anekdote.« Er blieb ganz ruhig, sah mich eindringlich an und meinte nur: »Pack es einfach aus, du wirst schon sehen.« Eine wunderschöne Kette mit leuchtenden kristallblauen Steinen kam zum Vorschein, ich schaute ihn verwundert an. »Die Steine der Kette haben die gleiche Farbe wie deine Augen, sie passt zu dir. Ich möchte dir etwas schenken, weil ich deinen Mut und deine Lebensfreude als etwas Besonderes erachte.« Das erste Kennenlernen zwischen uns hört sich kitschig an. Für mich war dieser Abend einfach nur heiter und schön. Ich ging positiv gestimmt nach Hause, freute mich über das unerwartete Präsent und vor allem über dessen Begründung. Gu sagte mir später, dass er sich bereits an diesem Abend in mich verliebt hat. In der Folgezeit ließ er über Larina immer wieder Grüße an mich übermitteln. Ehrlich gesagt, das tat mir sehr gut, es beruhigte mein verwundetes Herz und schmeichelte natürlich auch meinem Ego. Es sorgte zusätzlich dafür, dass ich nicht wieder in ständige Grübeleien verfiel, warum ich wieder einmal allein war. Nach und nach eroberte Gu mein Herz und überzeugte mich davon, wie ernst es ihm mit mir war. Das, was ich mir immer gewünscht hatte, einen Menschen zu finden, der ohne Wenn und Aber ja sagt, ich habe ihn in Gu gefunden. Oft denke ich, dass Gu in mein Leben getreten ist, damit ich täglich daran erinnert werde, bewusst und auf meine innere Stimme hörend, meinen neuen Weg zu gehen. Er ist eine Antwort auf eine meiner vielen Fragen, aber ich habe ihn nur gefunden, weil ich mich auf den Weg zu mir selbst gemacht habe. Auf den Weg, der mein eigener und nur für mich bestimmte Weg ist.
Im Dezember, zwischen den Jahren, nahm ich am Seminar »Der Weg ins Licht« teil. Bei diesem spirituellen Seminar geht es im Wesentlichen darum zu erkennen, welche Qualitäten man in seinem Leben bereits lebt und welche sich noch verbergen. Sich bewusst zu machen, was man in sich trägt, und das Vertrauen und das Selbstbewusstsein zu entwickeln, dieses auch nach außen zum Ausdruck zu bringen und es zu leben. Sita, die spirituelle Leiterin, arbeitete dabei unter anderem mit den verschiedenen Chakren. Die Tage am Bodensee, das Seminarzentrum lag nur unweit davon entfernt, waren entspannend, sehr intensiv und in vielerlei Hinsicht klärend. Mir wurde einmal mehr deutlich, wie eng meine Beziehung zu meinem Glauben ist, aber auch was Stille und Meditation bewirken und auslösen können. Durch das Miteinander mit den anderen Teilnehmern spürte ich, wie gerne ich mich auf andere Menschen einlasse. Ich genoss die entstehende Gruppendynamik und den Wunsch, gemeinsam für jeden Einzelnen ein gutes Fortkommen und Ergebnis zu erreichen.
Untergebracht war ich auf einem Ferienbauernhof. Die Atmosphäre dort war heimelig, gemütlich und sehr fürsorglich. Die Nähe zum Alltag des Bauernhofes war ein wohltuender Kontrast zu den Tagen vorher, die sich um die neuesten Modetrends für den darauf folgenden Winter gedreht hatten. Der Geruch des nahen Kuhstalls, der Duft der überall herumliegenden Apfelprodukte und die liebevolle Gastfreundschaft der jungen Bauernfamilie ließen mich so richtig zur Ruhe kommen. Es hatte zudem geschneit und anders als beim münsterschen Schmuddelwetter konnte man hier in eine weihnachtlich-besinnliche Stimmung eintauchen. Die Spaziergänge zwischendurch und ab und zu auch am Abend, manchmal unter wunderbar klarem Sternenhimmel, öffneten mich zusätzlich für die Seminararbeit. Ich fühlte mich als Teil von Gott und empfand eine Energie, die mich durchflutete und die ganze Woche über begleitete.