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Der Professor jedoch entschied sich anders. Er reagierte nicht auf die äußeren Umstände und das Wetter. Im Gegenteil: Er brachte einfach sein eigenes Wetter mit in die Vorlesung! Er schaute nicht nach außen, sondern nach innen. Dieser gut gelaunte Mann bestimmte selbst, was er denken und wie er sich fühlen wollte. Ein Wolkenbruch konnte ihn nicht davon abbringen. Diese Freiheit zeichnet die Menschen aus, die ihr eigenes Wetter machen und ihren Werten treu bleiben. Ganz anders sieht es da bei denjenigen aus, die lediglich auf die äußeren Umstände »reagieren« und sich mit der Opferrolle begnügen. Der Professor war glücklich, dass er zum Vorlesungssaal gehen und das tun könnte, was ihm am Herzen lag: eine positive Atmosphäre zu schaffen, in der seine Studenten gut lernen konnten, und Samen zu säen, die später reiche Früchte tragen würden. Was war im Vergleich dazu ein kurzer Regenschauer?
Der angesehene, für seine Radio- und Fernsehauftritte bekannte Bischof Fulton J. Sheen formulierte es so: »Jeder Mensch schafft sich sein eigenes Wetter – er wählt selbst die Farbe des Himmels in dem von ihm bewohnten Universum.«
Um uns unser eigenes Wetter schaffen zu können, müssen wir in der Lage sein, zwischen Reiz und Reaktion eine Pause einzulegen. Kampf oder Flucht? Die Steinzeitmenschen mussten auf vermeintlich lebensbedrohliche Situationen in Sekundenschnelle reagieren. Nur das sicherte ihr Überleben. Heute aber müssen die wenigsten von uns tagtäglich um ihr Überleben fürchten. Was uns im 21. Jahrhundert Stress bereitet, sind ganz andere Dinge. Dennoch neigen wir noch immer dazu, auf äußere Reize mit schnellen, unüberlegten Entscheidungen zu reagieren. Und diese Entscheidungen sind häufig nicht die besten.

Zum Glück ist die unreflektierte Sofort-Reaktion nicht alles, wozu unser Gehirn imstande ist. Wir Menschen haben die einzigartige Fähigkeit der Selbstwahrnehmung. Das heißt: Wir können unser eigenes Denken und Handeln reflektieren. Jeder von uns kann innehalten, einen Schritt zurücktreten und sich ein Bild von sich selbst und den Paradigmen machen, die seine Sicht der Dinge, sein Denken, Fühlen und Handeln prägen. Das gibt uns letztlich die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie wir reagieren wollen.

Mein guter Freund und Kollege Aaron, der in unserer Organisation als Chef-Recruiter tätig ist, ist ein Beispiel für dieses Prinzip. Die besten Recruiter investieren viel Zeit und Energie in die Suche nach den richtigen Kandidaten und in ihre Präsentation bei den Personalverantwortlichen. Aaron ist da keine Ausnahme. Ich erinnere mich an eine Kandidatin, um die sich Aaron bereits mehrere Monate bemüht hatte. Sie hatte Angebote von verschiedenen Unternehmen. Doch Aaron scheute keine Mühe, eine Beziehung zu ihr aufzubauen und ihr unsere Organisation schmackhaft zu machen. Ich weiß noch, dass Aaron sogar bereit war, sich an einem Samstag mit ihr zu treffen. Dafür opferte er Zeit, die er sonst mit seiner Familie hätte verbringen können. Aber es war der einzige Tag, an dem die Kandidatin einen Termin frei hatte – und sie war wirklich ein Ausnahmetalent. Unter allen Kandidaten, die dem Team vorgestellt wurden, stach sie klar hervor.
Nach all der Zeit und Energie, die Aaron in die Rekrutierung und das abschließende Interview investiert hatte, meinte der Personalchef: »Wir finden sie wirklich gut. Trotzdem wollen wir, dass du noch nach weiteren Kandidaten Ausschau hältst.«
Die meisten würden an diesem Punkt wahrscheinlich am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Aaron wusste, dass diese tolle Kandidatin in Nullkommanichts von einem anderen Unternehmen abgeworben werden würde. Ich war selbst dabei, als der Personalchef Aaron bat, nach Alternativen zu dieser Kandidatin zu suchen. Auch für mich war sie die allererste Wahl. Deshalb kämpfte ich mit meinen Gefühlen, als ich sah, wie Aaron wortlos zuhörte und dann tief Luft holte. Er drückte tatsächlich auf den Pausenknopf und meinte dann: »Klar, ich verstehe. Mir ist bewusst, dass du ganz sicher sein willst, dass wir den besten Kandidaten für diese wichtige Aufgabe finden. Also werde ich nach weiteren Bewerbern Ausschau halten.«
Ich war beeindruckt und bewunderte Aaron für sein Verhalten. Später fragte ich ihn, wie er diese frustrierende Abfuhr so ruhig hatte hinnehmen können. Er sagte: »Todd, wenn der Personalchef nicht voll und ganz von der Kandidatin überzeugt ist, sind ihre Erfolgsaussichten gleich null. Und weil es auf das Ergebnis ankommt, bleibt mir nichts anderes übrig, als weiter nach dem passenden Kandidaten oder der passenden Kandidatin zu suchen.«
Ich wünschte, ich hätte Aarons Reife schon früher in meinem Leben gehabt.
Ich selbst hatte als junger Recruiter eine Kandidatin für eine offene Stelle gefunden. Doch es stellte sich heraus, dass ihre Gehaltsvorstellung 1000 US-Dollar über dem lag, was das Unternehmen mir bezahlte – und das für eine vergleichbare Tätigkeit. Zu meiner Überraschung war mein Chef bereit, ihr das geforderte Gehalt zu geben. Ich war aufgebracht. »Warte einen Augenblick«, beschwerte ich mich. »Ich arbeite seit vier Jahren für das Unternehmen. Ich habe diese Person gefunden. Und jetzt willst du ihr mehr zahlen als mir?«
Mein Chef meinte nur, man zahle eben, was nötig sei, um die besten Leute zu bekommen. Ich ging voller Wut in mein Büro zurück und dachte: Das ist nicht fair! Warum bekomme ich weniger? Mein Chef schätzt meine Arbeit nicht. Vielleicht sollte ich einfach einen Gang runterschalten. Und wahrscheinlich sollte ich mich schnellstens nach einem neuen Job umsehen. Diese Gedanken quälten mich tagelang. Ich suhlte mich förmlich in meiner Opferrolle. Eines Abends klagte ich meinem Vater mein Leid und beschwerte mich über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Er hörte geduldig zu, wie ich über meinen Chef, die neue Kollegin, meinen Job und überhaupt über alles herzog, was mir gerade einfiel. Als ich fertig war, schaute er mich an und fragte: »Hast du dir schon mal überlegt, was du tun kannst, um die zusätzlichen 1000 Dollar zu bekommen? Fairness im Arbeitsleben bedeutet, einen fairen Preis für das zu bekommen, was man zu bieten hat.«
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte die ganze Zeit nur auf meine Gefühle reagiert und dabei völlig übersehen, was ich tun konnte, um die Situation in meinem Sinne zu beeinflussen. Wo ich das allergrößte Unrecht sah, erkannte mein Vater eine Gelegenheit, etwas für mein berufliches Vorankommen zu tun. Gleich am nächsten Tag ging ich zu meinem Chef und sagte: »Danke, dass du mir in der Gehaltssache in den letzten Tagen so geduldig zugehört hast. Was müsste ich denn tun, damit du auch mein Gehalt erhöhst?«
Seine Reaktion sehe ich noch heute vor mir: Es war, als hätte er die ganze Zeit auf diese simple Frage gewartet. »Ich bin froh, dass du das ansprichst, Todd«, erwiderte er. »Aktuell dauert es im Schnitt zehn Monate, bis wir eine freie Arztstelle neu besetzen können. Wenn wir diese Zeit auf sechs Monate verkürzen, könnte ich mir eine Gehaltserhöhung sehr gut vorstellen.« Widerwillig verabschiedete ich mich von meiner Opferrolle und begann, meine Zeit und Energie in die Verkürzung der Rekrutierungsdauer zu investieren. Und es funktionierte! Es war eine harte Lektion. Aber ich lernte, dass es wesentlich besser ist, sich sein eigenes Wetter zu schaffen, als sich in seine Opferrolle hineinzusteigern.
Noch einmal zurück zu meinem Kollegen Aaron: Die Kraft, die wir aus dem selbstgeschaffenen Wetter ziehen, ist so groß, dass wir damit die schwierigsten Stürme überstehen können. Mit 43 unterzog sich Aaron einer Routineuntersuchung seiner Augen. Dabei entdeckten die Ärzte einen Tumor in seinem Gehirn. Doch Aaron verfiel weder in Panik noch in Verzweiflung. Stattdessen vereinbarte er in aller Ruhe die erforderlichen Termine, damit der Tumor untersucht und behandelt werden konnte. Er war gutartig, drückte aber auf seinen Augennerv und beeinträchtigte dadurch sein Sehvermögen. Ohne Behandlung wäre er lebensbedrohlich geworden. Die Ärzte setzten umgehend einen Operationstermin an und entfernten den Tumor.
Am Tag nach der Operation besuchte ich Aaron. Seine positive Haltung imponierte mir. »Die Ärzte sind der Ansicht, dass der Eingriff gut verlaufen ist«, verkündete er von seinem Krankenbett aus. »In einigen Wochen werden sie Bilder machen, aber ich bin optimistisch.« Und tatsächlich – sein Gesundheitszustand verbesserte sich Woche für Woche. Ich bin überzeugt, dass seine positive Einstellung entscheidend zu seiner Genesung beitrug.
Monate danach besuchte er uns in der Firma, um uns für die Unterstützung zu danken. Er wurde geradezu emotional – allerdings nicht wegen der ernsten Situation oder der erlittenen Schmerzen, sondern aus Dankbarkeit für die wichtigen Beziehungen in seinem Leben. »Tut mir leid«, sagte er, »es ist nur, weil ich so dankbar bin – für mein Leben, meine Familie und meine Freunde hier im Unternehmen.«
Aaron hatte vor langer Zeit beschlossen, sich in seinen Gefühlen nicht von äußeren Faktoren leiten zu lassen. Das ermöglichte es ihm, berufliche Herausforderungen ebenso souverän zu meistern wie die schwierigsten Momente in seinem Leben. Aarons Fähigkeit, sich sein eigenes Wetter zu schaffen, machte auch mir Mut. Denn ich hoffte sehr, dass es mir gelingen würde, auch meinen Freund, den sie am Anfang dieses Kapitels kennen gelernt haben und der in einer impulsiven Reaktion einen langjährigen Mitarbeiter vor die Tür gesetzt hatte, von den Vorzügen einer positiven Haltung zu überzeugen:
»Und wie wurde aus einem Gespräch dann eine Entlassung?«
»Ein Gespräch hat nicht wirklich stattgefunden. Als ich erfahren habe, was da läuft, habe ich ihn sofort gefeuert. Aber jetzt stellt sogar der CEO meine Entscheidung infrage und alle halten mich für den Buhmann in der Geschichte.«
Ich versuchte, meine wachsenden Zweifel zu verbergen. Womöglich lag der CEO gar nicht so falsch? Aber vielleicht steckte ja auch noch mehr dahinter?
»Sieh mal, Loyalität ist mir extrem wichtig. Zudem weiß jeder, dass ich meine Entscheidungen nicht auf die lange Bank schiebe«, fuhr mein Freund fort. »Ich hatte also gar keine andere Wahl.«
»Darf ich dich was fragen?«, setzte ich an. Mein Freund nickte. »Welchen Ruf wünschst du dir als Führungskraft? Wofür willst du einmal in Erinnerung bleiben?«
Mein Freund überlegte. »Mir ist nicht ganz klar, worauf du hinauswillst?«
»Ich dachte, vielleicht könnten wir etwas weggehen von der Entlassungssituation und die Sache in einem größeren Zusammenhang sehen.«
»Okay«, erwiderte mein Freund und dachte nach. »Ich will dafür bekannt sein, dass ich wirklich gute Leistungen bringe.«
»Gut. Und was ist mit deinen Mitarbeitern?«, fragte ich.
»Na ja, ich möchte, dass sie sich engagieren und gemeinsam mit mir wirklich gute Leistungen bringen.«
»Schon klar, aber wie sollen sie dich in deiner Rolle als Führungskraft sehen?«
Ohne zu überlegen, sagte mein Freund: »Sie sollen Respekt vor mir haben.«
Ich ließ seine Worte einen Augenblick nachklingen, bevor ich fortfuhr: »Warum willst du, dass sie Respekt vor dir haben?«
Mein Freund starrte mich an. »Warum ich mir Respekt wünsche? Es hat schließlich seinen Grund, dass ich ihr Vorgesetzter bin. Ich hoffe sehr, dass ich ihnen etwas beibringen oder bieten kann.«
»Dann lass uns diesen Faden doch mal weiterspinnen. Stell dir vor, es ist Zeit für dich, in den Ruhestand zu gehen, und deine Mitarbeiter versammeln sich zu einer Abschiedsfeier. Jeder erzählt, was er persönlich von dir gelernt hat. Was möchtest du denn da zu hören bekommen?«
Mein Freund dachte einen Augenblick nach: »Ich möchte hören, dass sie mir gegenüber ebenso loyal waren, wie ich es ihnen gegenüber war. Dass ich ein guter Mentor war und ihnen nicht nur im Beruf, sondern auch im Leben weitergeholfen habe.«
»Okay, und bitte fass meine nächste Frage nicht als Beleidigung auf«, sagte ich. »Denk daran, wie du mit dieser letzten Situation verfahren bist. Spiegelt das wider, wie du als Führungskraft wahrgenommen werden willst?«
Mein Freund starrte mich über den Tisch hinweg an: »Ich glaube nicht – ich habe die Kontrolle über mich verloren.«
»Es klingt, als hättest du so reagiert, weil du das Gefühl hattest, dass dein Mitarbeiter dich hintergangen hat.«
»In dem Augenblick, ja.«
»Und jetzt?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich vorschnell geurteilt. Ich meine, ich habe ja nie richtig mit ihm darüber gesprochen.«
»Vielleicht ist es das, was dir jetzt so zu schaffen macht? Du hast dich von deiner ersten Gefühlsreaktion davon abhalten lassen, die Situation wirklich zu verstehen. Deshalb hast du eine Entscheidung getroffen, die höchstwahrscheinlich nicht mit deinen Werten in Einklang steht. Denn wenn ich dich richtig verstanden habe, möchtest du ein Mentor sein und einen positiven Einfluss auf die Arbeit und das Leben deiner Mitarbeiter ausüben.«
Mein Freund sagte einen Augenblick nichts und fragte dann: »Und was mache ich jetzt?«
»Was geschehen ist, ist geschehen. Ich weiß nicht, wie das in deinem Unternehmen so läuft. Aber vielleicht solltest du bei deinem CEO mit der Schadensbegrenzung beginnen«, schlug ich vor. »Und so schwierig das ist, wenn die Emotionen mit einem durchgehen: Denk in Zukunft daran, dass du immer die Wahl hast. Du kannst den Pausenknopf drücken, und wenn es auch nur fünf Minuten sind, um deine Gedanken zu ordnen und dich zu sammeln. Nutz diese Zeit, um dir klarzumachen, was dir wirklich wichtig ist. Frag dich einfach: Wofür willst du in Erinnerung bleiben? Und welche Worte wünscht du dir für deine Abschiedsfeier?«
»Ich vermute, darüber sollte ich nachdenken«, gestand mein Freund zerknirscht ein. »Es sieht jedenfalls so aus, als hätte ich einiges zu tun.« Ich nickte und hoffte, dass er sich diese Lektion zu Herzen nehmen würde.

Wir haben viele Möglichkeiten, unser eigenes Wetter zu schaffen. Beispielsweise können wir, komme, was wolle, eine freundliche und professionelle Haltung wahren. Oder wir können verhindern, dass andere Menschen oder die äußeren Umstände darüber entscheiden, wohin unsere innere moralische Kompassnadel zeigt. Letzten Endes haben wir immer die Freiheit, unsere Reaktion bewusst zu wählen. Diese Freiheit kann uns niemand nehmen – es sei denn, wir verzichten freiwillig darauf.

Übung zur 2. Strategie
Bringen Sie Ihr eigenes Wetter mit
Wir können unsere Beziehungen stärken, indem wir uns pro-aktiv verhalten. Denken Sie an eine Person, die Ihnen das Gefühl vermittelt, nicht recht zu wissen, wie Sie sich verhalten sollen. Oder rufen Sie sich eine Situation ins Gedächtnis, in der Sie lediglich »reagiert« haben. Beschließen Sie hier und jetzt, welche der folgenden Verhaltensweisen Sie das nächste Mal in so einem Fall ausprobieren werden:
•Drücken Sie den Pausenknopf. Entkoppeln Sie Reiz und Reaktion: Zählen Sie bis zehn, machen Sie einen Spaziergang oder sagen Sie Ihrem Gesprächspartner, dass Sie etwas Zeit zum Nachdenken brauchen, bevor Sie antworten können.
•Versuchen Sie, mehr über die Person oder die Situation in Erfahrung zu bringen, bevor Sie reagieren. Sagen Sie: »Das ergibt für mich keinen Sinn. Ich habe das Gefühl, dass mir hier irgendwie noch Informationen fehlen. Kannst du mir bitte helfen, das Ganze besser zu verstehen?«
•Formulieren Sie eine an die betreffende Person gerichtete E-Mail oder einen Brief, ohne das Schreiben abzuschicken. Schlafen Sie eine Nacht darüber. Lesen Sie den Text am nächsten Tag noch einmal durch und schauen Sie, ob er Ihre wahren Gefühle und Werte widerspiegelt.
•Simulieren Sie in Gedanken einen alternativen Ablauf. Denken Sie an eine vergangene Situation, in der Ihre Reaktion negative Auswirkungen hatte. Was haben Sie getan und gesagt? Und was ist dabei herausgekommen? Stellen Sie sich jetzt vor, wie Sie in Zukunft besser und effektiver reagieren. Wie sehen die positiven Konsequenzen einer solchen Reaktion aus?

3. Strategie
Verhalten Sie sich glaubwürdig
Haben Sie schon einmal versucht, sich aus Problemen herauszureden, in die Sie sich durch Ihr eigenes Verhalten hineinmanövriert haben?
Dann ist unsere 3. Strategie vielleicht etwas für Sie:

Solange Sie sich nicht glaubwürdig verhalten, fühlt sich Ihr »Raum« möglicherweise wie Sartres Hölle an, weil …
• Sie frustriert sind, weil andere Sie nach Ihrem Verhalten und nicht nach Ihren guten Absichten beurteilen.
• Sie denken, Sie müssten sich vor anderen beweisen.
• Ihnen mit der Zeit niemand mehr Glauben und Vertrauen schenkt.
Meine Bekannte Chelsea hatte auf dem Weg zur Arbeit eine Reifenpanne. Nachdem sie das Ersatzrad montiert hatte, fuhr sie zur nächsten Niederlassung einer sehr bekannten landesweiten Werkstattkette. Der Mechaniker fand einen Nagel im Reifen. Er meinte, dass er das Loch im Reifen nicht flicken könne, wenn das Profil weniger als neun Millimeter betrug. Aber das war noch nicht alles. Er erklärte zudem, dass Chelseas Auto einen Vierradantrieb hatte und deshalb alle Reifen ersetzt werden müssten, wenn einer kaputt war. Er maß die Tiefe des Profils und verkündete dann, dass es nur sieben Millimeter seien. Chelsea hatte also keine Wahl: Sie musste einen kompletten neuen Satz Reifen kaufen. Der Mechaniker berechnete den Preis (mehr als 1000 US-Dollar) und bot ihr einen Termin für den Folgetag an.
Auf dem Heimweg beschloss Chelsea, ihren Schwager Mike anzurufen, der früher als Autoteileverkäufer gearbeitet hatte. Sie wollte keine 1000 Dollar für neue Reifen ausgeben. Aber sie war ganz sicher keine Reifenexpertin. Mike nannte ihr eine kleine Werkstatt, der er vertraute. Doch von dieser Werkstatt hatte Chelsea noch nie etwas gehört. Sie rief dort an und erfuhr, dass sie die gleichen Reifen hier 200 Dollar günstiger bekommen konnte. Natürlich wollte sie gern Geld sparen. Dennoch zögerte sie, weil sie die Werkstatt nicht kannte. Weil Mike die Werkstatt empfohlen hatte, fuhr sie schließlich trotzdem hin, um die Reifen zu kaufen.
Der Mechaniker fragte, ob er sich den kaputten Reifen anschauen könne. Inzwischen hatte sich Chelsea damit abgefunden, dass sie einen komplett neuen Reifensatz kaufen musste. Aber es konnte ja nichts schaden, wenn sich der Mechaniker den kaputten Reifen mal ansah. Der Mechaniker maß das Profil. Er maß noch einmal und noch einmal – und erklärte dann, dass es neun und nicht sieben Millimeter waren. Das hieß, dass Chelsea gar keinen neuen Reifensatz brauchte. Stattdessen empfahl er ihr, sich an den Händler zu wenden, von dem sie den Wagen hatte. Er schlug vor, dass sie den gleichen Reifen kaufen und den Händler bitten sollte, das Profil an die drei übrigen anzupassen.
Dieser Rat kostete den Mechaniker zwar den Auftrag. Doch er war bemüht, Chelsea zur kostengünstigsten Lösung ihres Problems zu verhelfen. Chelsea beherzigte seinen Rat und sparte so fast 800 Dollar. Außerdem rief sie die Werkstatt an, bei der sie zuerst gewesen war. Hier sagte sie nicht nur den Termin ab, sondern brachte auch ihre Enttäuschung sehr klar zum Ausdruck.

Während ich Chelseas Bericht über den platten Reifen hörte, dachte ich darüber nach, welchen Ruf die beiden Werkstätten durch diese Geschichte bekommen haben. Beide Mechaniker standen vor demselben Problem. Aber einer verhielt sich so, dass er seine Glaubwürdigkeit bei Chelsea und bei allen, denen sie davon erzählte, zerstörte. Der andere hingegen steigerte seine Glaubwürdigkeit und gewann so vermutlich einige neue Kunden. Wie er das machte? Indem er drei Prinzipien für glaubwürdiges Verhalten beherzigte:
• Er bewies Charakter und Kompetenz.
• Er dachte an die langfristige Wirkung.
• Er stellte sich auf die konkrete Situation ein.
Charakter und Kompetenz beweisen
Solange Sie kein hohes Maß an Charakter und Kompetenz vorweisen können, tun sich andere schwer damit, Ihnen zu vertrauen. Vielleicht halte ich Sie für verantwortungsbewusst und umsichtig (Charakter), habe aber Bedenken, Sie den Fallschirm für meinen ersten Sprung packen zu lassen (Kompetenz). In diesem Fall würde ich gerne wissen, wie viel Erfahrung und Know-how Sie beim Packen von Fallschirmen mitbringen. Und was wäre, wenn ich erfahren würde, dass die Person, die meinen Fallschirm gepackt hat, vor Kurzem aus verfahrenstechnischen Gründen vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen wurde? Dann hätte ich ganz bestimmt große Bedenken. Das zeigt: Selbst wenn Sie die allerbesten Qualifikationen im Fallschirm-Packen vorweisen können, sobald ich den Eindruck habe, dass mit Ihrem Charakter etwas nicht stimmt, wird das Zweifel in mir wecken. Zugegeben, dieses Beispiel ist etwas extrem. Doch ohne ein hohes Maß an Charakter und Kompetenz kann keine Glaubwürdigkeit entstehen. Deshalb wollen wir uns jetzt eingehender mit diesen beiden Themen beschäftigen:
Charakter
Eine wertvolle Lektion in Bezug auf den Charakter lernte ich als junger Manager zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn. Meine Aufgabe war es, Verträge mit Ärzten auszuhandeln, die für meinen Arbeitgeber, eine Health Maintenance Organization, tätig waren. Wir sollten eine neue Gruppe von Ärzten mit bestimmtem Spezialwissen anwerben. Unser Team brauchte mehrere Wochen für die Ausarbeitung eines speziell auf diese Ärzte und ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Vertrags. Damals hatten wir noch keine Computer und auch keine elektronische Datenverarbeitung. Deshalb musste alles mühsam mit Schreibmaschinen geschrieben werden, die heute fast nur noch im Museum zu finden sind. Die einmal getippten Seiten wurden von diversen Mitarbeitern gegengelesen und überarbeitet. Nach mehreren Wochen war der Vertrag fertig. Nun sollte er endlich unterzeichnet werden. Nur … wo war er?
Er war unauffindbar! Jeder, der ihn als Letzter in der Hand gehabt haben könnte, verwies auf jemand anderen. Wir suchten über eine Woche lang. Ohne Erfolg. Währenddessen rückte der Tag, an dem der neue Vertrag mit den Ärzten in Kraft treten sollte, immer näher.
So frustrierend es auch war – wir hatten keine andere Wahl: Wir mussten den Vertrag noch einmal komplett neu erstellen. Diesmal ging es etwas schneller. Doch der Stress und die doppelte Arbeit waren für alle im Team ziemlich anstrengend und ärgerlich. Am Ende wurde der Vertrag zum Glück pünktlich fertig.