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Jedoch irrte er sich mit jener Einschätzung gewaltig. Die Aufseher hatten sich mit ihrer Rückkehr zur Fabrik unglaublich viel Zeit gelassen. Sie dachten, sie würden so den Zorn des Chefs dämpfen können. Eben erst, als Raja an sie gedacht hatte, standen sie vor ihrem Boß. Einer der Aufseher erzählte: „Wir waren ihnen dicht auf den Fersen. Sie hatten vielleicht noch einen Vorsprung von einer Stunde. Da auf einmal ist dieser verdammte Lastwagen abgefreckt. Ich habe schon oft gesagt, daß wir einen neuen brauchen, aber auf mich hat ja noch nie jemand gehört. Jedenfalls sprang das Ding nicht mehr an und so mußten wir zu Fuß weiter. Dieses Handicap hat dafür gesorgt, daß sie entkommen konnten.“ Lange Zeit sagte der Fabrikchef nichts. Es schien, als würde er nachdenken. Dann fragte er: „Und wo ist der Lastwagen jetzt?“ Da wurde der Aufseher, der gesprochen hatte, rot. Was sollte er nun sagen? „Wir haben ihn zu einem Schrottplatz abschleppen lassen. Dort ist er gleich verschrottet worden“, berichtete er frech und seine Kollegen nickten beflissen. „Das glaube ich Euch nicht.“ Jene Worte ihres Chefs stürzten sie in Verlegenheit. Doch die ließ sich der Redner nicht anmerken. „Sie müssen uns glauben. Es ist die Wahrheit“, bekräftigte er energisch. Da zog sein Boß eine Peitsche hervor. „In diesem Teil steckt die Wahrheit. Wenn Ihr sie mir jetzt nicht auf der Stelle sagt, dann bekommt Ihr so eine Tracht Prügel, daß Ihr glaubt, Ihr würdet zu den arbeitenden Kindern hier gehören“, drohte er. Irgendwie war es schon komisch mit anzusehen. Da stand ein kleiner Mann mit einer Peitsche vor 20 weitaus größeren und stärkeren Männern und doch gelang es ihm, sie dazu zu bringen, die Wahrheit zu sagen. „Also gut, also gut. Wir sind mit dem Lastwagen gefahren und haben Spuren entdeckt. Da sind wir ausgestiegen, um ihnen zu folgen. Auf einmal begann der Lastwagen davonzufahren. Den Rest mußt Du Dir von ihm erzählen lassen. Der war als Einziger länger dabei“, berichtete einer der Aufseher und deutete auf den Kollegen, der die Flüchtlinge fast zurückgebracht hätte. „Ich untersuchte gerade die Ladefläche des Lastwagens, als der losfuhr. Auf einmal sprangen ein paar Jugendliche auf. Es waren vier der Flüchtlinge, der Fünfte fuhr den Wagen. Ich zwang ihn anzuhalten und auszusteigen. Er stieg aus und lief davon. Ich lud meine Waffe und da blieb er stehen. Auf einmal bekam ich einen Schlag auf den Kopf und ging zu Boden. Doch als sie in den Lastwagen wollten, da packte ich den Stärksten von ihnen und hielt ihm ein Messer an den Kopf.“ „Was war mit Deiner Pistole?“ unterbrach ihn der Chef. „Die hatten sie mir ja weggenommen. Ich hielt dem also das Messer an den Kopf, doch plötzlich schlug mir der seinen Ellbogen in den Magen und ich fiel zu Boden. Dann verschwanden sie“, beendete der Mann seine Geschichte. „Ihr hirnlosen Idioten! Laßt Euch einfach den guten Lastwagen stehlen! Das wird von Eurem Gehalt abgezogen“, machte der Chef wütend deutlich. Verärgert schauten sich die Männer an. „Was glotzt Ihr denn so? Besorgt Euch einen neuen Lastwagen und macht Euch auf die Suche nach dem alten. Und laßt Euch nicht wieder übertölpeln!“ rief er. „Das macht doch keinen Sinn. Den alten Lastwagen können wir doch eh wegschmeißen. Außerdem sind die Flüchtigen alle schon fast 18 Jahre alt. Die hätten wir eh nicht mehr lange hier gehabt“, argumentierte einer der Aufseher, der sich eine Menge Arbeit sparen wollte. Etwas erstaunt schaute sein Chef ihn an. „Na ja, vielleicht ist die Idee gar nicht so dumm. Zwei von Euch kaufen morgen einen gebrauchten Lastwagen und der Rest bleibt hier. Nicht, daß die Kleinen einen Aufstand wagen“, meinte er spöttisch und seine Untergebenen lachten. „Haltet die Schnauze! Ich werde Euch den Arbeitsverlust anrechnen!“ versicherte er. „Aber wenn wir morgen ausreichenden Ersatz besorgen, dann nicht, oder?“ wollte ein Aufseher wissen. „Nicht morgen, heute. Wenn Ihr heute sechs neue Arbeiter herbringt, dann bekommt Ihr Euer Geld“, versprach der Chef. Da machten sich die Kinderfänger sofort auf den Weg. Das alles bedeutete, daß die Flüchtigen nichts mehr zu befürchten hatten. Doch sie wußten nichts von ihrem Glück und blieben deswegen sehr vorsichtig.
Ihnen wurde es mit der Zeit in ihrem Versteck langweilig und deshalb suchten sie sich eine Beschäftigung. Parwez zog sein Hemd aus und verknotete es, so daß daraus so etwas Ähnliches wie ein Ball wurde. Dann suchten sie sich jeweils zwei auseinander stehende Bäume aus, die sie zu ihren Toren umfunktionierten. Wenig später ging es los. Shankar, Raja, Nathu, Indira und Daya gegen Parwez, Bharat, Sardar, Tejbin und Hirabai. Sonia spielte nicht mit, sondern machte die Schiedsrichterin. Am Anfang war es ein fürchterliches Gestochere. Meistens trafen sie den Gegenspieler oder traten neben den „Ball“. Doch nach einiger Zeit zeigte sich, daß sie durchaus zu spielen verstanden. Mittlerweile war Nathu aufgefallen, daß es unsinnig war, daß sich alle auf den „Ball“ stürzten und darum verteilte er seine Mitspieler geschickt. Das machte die gegnerische Mannschaft auch und so entstand schon bald ein richtig schönes Spiel. Mit der Zeit bekamen alle Mitspieler den „Ball“ immer besser unter Kontrolle, so daß es wirklich ein Vergnügen war, ihnen zuzuschauen. Irgendwann hörten sie mit dem Zählen der Tore auf und spielten nur noch aus Spaß. Man versuchte etliche Tricks und es machte ihnen riesig Freude. Nach drei kurzweiligen Stunden saßen sie alle völlig erschöpft im Gras. „Ich hätte nie gedacht, daß das so schön sein kann“, gab Raja zu. „Es ist absolut geil. Mensch, wenn ich nur früher die Gelegenheit gehabt hätte“, ärgerte sich Shankar. „Noch ist es nicht zu spät. Auch wenn wir schon einige Jahre harter Arbeit auf dem Buckel haben, so sind wir trotzdem noch jung. Zwar kommt das Spiel von den Engländern, aber es muß nicht alles von denen schlecht sein“, fand Tejbin. „Wie hat es Dir gefallen?“ begehrte Shankar von Indira zu erfahren. „Es war schön“, antwortete sie. „Mehr nicht?“ „Es ist halt doch ein Männersport.“ „Ach was! Ihr könnt doch auch gut spielen.“ „Schon. Aber es gibt halt keine gemischten Mannschaften.“ „Das ist wahr. Aber zusammen sind wir genau elf. Und das reicht für eine Fußballmannschaft“, stellte Bharat fest. Das Hemd wurde wieder fest verknotet und nach der kurzen Pause ging es weiter. Inzwischen beherrschten sie alle ein wenig die Technik und das Zusammenspiel, so daß teilweise ganz ansehnliche Kombinationen zu sehen waren. Wenn man bedenkt, daß sie sich dabei im Wald befanden, dann war das schon sehr bemerkenswert. „Na gut. Jetzt reicht es. Schlafen wir noch ein wenig, bevor wir uns auf den Weg in die Stadt machen“, schlug Sardar nach weiteren zwei Stunden Fußball vor. Die Anderen nickten. Derweil merkte Shankar, daß Daya unruhige Blicke auf ihn warf. Ach ja! Da hätte er fast etwas vergessen. „Kann ich mal mit Dir reden?“ wollte er von Nathu wissen, der sich über jene Frage ein wenig wunderte. „Was ist denn mit Dir los? Du hast mit mir immer reden können, dann wirst Du das jetzt auch noch schaffen.“ Alle lachten. „Nein, ich meine unter vier Augen.“ „Gut, dann mußt Du Deine Augen zumachen. Ich habe nämlich zwei Hühneraugen, also sind es schon vier.“ „Kannst Du nicht einmal ernst bleiben?“ „Wieso sollte ich? So lebt es sich doch viel schöner.“ Sie zogen sich an einen Ort zurück, wo sie unter sich waren. „Wann kümmerst Du Dich eigentlich um eine Freundin?“ fragte Shankar. „Das hat Zeit. Vielleicht finde ich ja in Neu Delhi die Richtige.“ „Hast Du die etwa noch nicht gefunden?“ „Wie kommst Du denn darauf?“ „Na ja, was hältst Du denn von Daya?“ „Sie ist nett.“ „Ist das alles?“ „Was soll ich denn sonst noch sagen?“ „Das mußt Du wissen.“ „Hör mal, ich habe von der Liebe meine eigenen Vorstellungen. Wenn ich eine Frau treffe, die mir gefällt, ich ihr dann in die Augen schaue und darin das gleiche Feuer sehe, das in meinen Augen brennt, dann ist sie die Richtige.“ „Du bist kompliziert. Wenn Du eine Frau mit Feuer in den Augen haben willst, dann geh zu einer Urnenbeisetzung.“ „Hey Shankar, seit wann bist Du so ein Zyniker?“ „Wer mit Dir so lange zusammen ist und Deine Sprüche hört, der wird das ohne es zu wollen.“ „Daya will was von mir. Stimmt’s?“ „So ist es.“ „Und Du solltest mich fragen, wie ihre Chancen stehen?“ „Genau.“ „Hör zu! Sag ihr, daß ich, ach laß es, nein ich sag’s ihr selber, oh, das kann ich nicht, paß auf: Sag ihr, daß ich Zeit brauche. Viel Zeit. Sie soll sich keine zu großen Hoffnungen machen, weil sie nicht enttäuscht sein soll. Sag ihr, daß ich momentan die Freiheit einer festen Beziehung vorziehe. Das kann sich ändern, muß sich aber nicht ändern.“ „Willst Du ihr das nicht selbst sagen?“ „Das kann ich nicht. Weißt Du, es ist eine blöde Sache, wenn jemand was von Dir will, Du aber nichts von ihr. Da weiß man nie, was man machen soll, weil man ja auch keine Gefühle verletzen will.“ „Seit wann nimmst Du Rücksicht auf die Gefühle Anderer?“ „Jetzt hör mal! Ich war kein Aufseher, sondern ein Arbeiter. Bring da ja nichts durcheinander!“ „Schon gut, Nathu. Ich werde es ihr schonend beibringen.“ „Na hoffentlich.“ Sie gingen zu den Anderen zurück. „Na, habt Ihr ausgemacht, wer wieviel bekommt, wenn Ihr uns alle in Neu Delhi an eine Kinderfabrik verkauft?“ scherzte Bharat. „Nein, das lohnt sich nicht. Ihr seid viel zu faul. Sitzt den ganzen Tag nur rum. Mit Euch kann man kein Geschäft machen“, beklagte sich Nathu, der natürlich gern darauf einstieg.
Erst als die Anderen schliefen, nahm Shankar Daya zur Seite und teilte ihr mit, was Nathu gesagt hatte. „Also wird es nichts mit ihm und mir“, gestand sie sich traurig ein. „Gib nicht auf! Er braucht Zeit. Vielleicht wird es ja Liebe auf den zweiten Blick“, tröstete sie Shankar. Doch auch jene Worte konnten nicht verhindern, daß Tränen über Dayas Gesicht liefen. „Laß uns schlafen! Morgen sind wir in Neu Delhi und da sieht die Welt schon ganz anders aus“, glaubte Shankar, um danach die nächsten beiden Wächter zu wecken. Es war stockfinster, als sie sich alle auf den Weg in die Hauptstadt machten. Sie wußten, daß sie ihrem Ziel Schritt für Schritt näher kamen und deshalb fiel ihnen das Laufen auch nicht weiter schwer. Etliche Stunden später waren sie an den Außenbezirken der riesigen Stadt angelangt. „Wir sind da!“ jubelte Raja. Dort fühlten sie sich nun sicher und geborgen, doch schon bald sollten sie merken, daß der Schein trog. Als sie so durch die Straßen schlenderten, tauchten plötzlich fünf bewaffnete Jugendliche vor ihnen auf. „Halt! Stehenbleiben!“ befahl der Eine, der wohl der Chef war und lud seine Pistole. „Was wollt Ihr von uns?“ erkundigte sich Bharat. „Alles was Ihr habt. Und die vier Tussis laßt Ihr auch hier. Wir brauchen nämlich was für die Nacht“, erklärte der Anführer. „Was bildet Ihr Euch eigentlich ein wer Ihr seid? Ihr glaubt, Ihr könnt da in der Nacht rumlungern und fremde Leute blöd anquatschen!“ rief Shankar, der ziemlich wütend geworden war. „Da schau her! Ein Kläffer! Ich sag Dir eins, Freundchen: Es sind hier schon ein paar Leichen abtransportiert worden.“ „Du willst mir drohen. Du, der ein Kanonenrohr braucht, weil er sonst keins hat“, provozierte ihn Shankar. Seine Begleiter lachten und auch die Leute des Bewaffneten verzogen ihren Mund zu einem Grinsen. „Los, Schlange, gib’s ihm!“ forderte einer von denen seinen Boß auf. Der warf seine Pistole weg und zog ein Messer hervor. „Komm her Du feige Sau!“ brüllte er Shankar an, doch der dachte überhaupt nicht daran. „Du nennst mich eine feige Sau und traust Dich nur mit einem Messer gegen mich kämpfen? Du bist hier die feige Sau.“ „Also gut, dann halt ein Faustkampf.“ „Und keine Tricks. Wenn ich gewinne, dann laßt Ihr uns in Frieden durch und wenn nicht, dann kriegt Ihr was Ihr wollt“, schlug Shankar mit lauter Stimme vor. „Einverstanden.“ Sie gingen aufeinander zu. Shankars Begleiter waren wie gelähmt. Sie konnten nicht glauben, auf was für ein Wagnis sich der Junge eingelassen hatte. Sein Gegenüber war etwa zehn Zentimeter größer und um Einiges stärker als er. Wütend stürmte er auf Shankar zu. Der ging einen Schritt zur Seite, ließ seinen Fuß stehen, so daß der Angreifer darüber flog. Shankars Leute klatschten. „Hey Du Memme! So war das nicht ausgemacht!“ beschwerte sich der Sprücheklopfer. „Führ Dich nicht so auf. Man darf jedes Körperteil benutzen. Was kann ich dafür, wenn Du so blöd bist und über meine Füße stolperst?“ Sofort lief der Andere wieder auf ihn zu. Auch dieses Mal genügte Shankar ein großer Schritt, um seinen Gegner ins Leere laufen zu lassen. „Das erinnert mich doch ein wenig an einen Stierkampf“, gab Nathu von sich, der von so etwas schon mal gehört hatte. „Das ist kein Stier, das ist ein Ochse“, spottete Shankar, weshalb sein Gegner noch wütender wurde. Dieses Mal packte er sich Shankar und schlug auf ihn ein. Doch der ließ sich das nicht lange gefallen. Mit ein paar geschickten Armbewegungen brachte er den Chef der Bande zu Boden. „Hast Du jetzt endlich genug?“ fragte Shankar. Da sprang der Andere noch einmal auf und warf sich mit letzter Kraft auf Shankar. Der hatte damit gerechnet und einige Augenblicke später landete der vermeintlich Stärkere kopfüber in einer Mülltonne. „So, den hätten wir entsorgt. Da drin ist er gut aufgehoben. Wer ist der Nächste?“ fragte Shankar in die Runde. Da starrten ihn die vier Verbliebenen an, als ob er ein Außerirdischer wäre. Als die Elf an ihnen vorbeizogen, hob der Anführer seinen Kopf aus der Mülltonne und rief: „Halt! Sagt mir wenigstens wo Ihr herkommt?“ „Frisch aus der Kinderfabrik“, antwortete Shankar und daraufhin zog er mit seinen Kameraden von dannen. „Ich hätte nie gedacht, daß Du so stark bist“, wunderte sich Indira. „Ich auch nicht. Das war nur Technik. Scheiße, jetzt habe ich Euch Vier ja immer noch am Hals“, stänkerte er mit Blick auf die Mädchen. Da versetzte ihm Indira einen Stoß in die Rippen und versicherte: „Jetzt wirst Du uns auch nicht mehr los.“
Es war noch Nacht in Neu Delhi, aber die Straßenlaternen sorgten für ein wenig Beleuchtung. Etwas orientierungslos zogen die Elf durch die Straßen. Irgendwann reichte es ihnen und sie setzten sich auf eine Straße. „Und was jetzt?“ wollte Parwez wissen. „Keine Ahnung“, murmelte Sardar. „Leute, was ist los mit Euch? Freut Euch, wir haben es geschafft. Wir sind in Neu Delhi, der Hauptstadt Indiens“, vermeldete Nathu. „Na und? Trotzdem wissen wir nicht, wie es weitergeht“, entgegnete Hirabai. „Es stimmt also doch, daß wir die Generation ohne Zukunft sind. Na und? Dann machen wir uns halt unsere eigene Zukunft“, entschied Nathu, der sich seine gute Laune von nichts und niemandem nehmen ließ. „Nathu hat die richtige Einstellung. Wir sollten jubeln und frohlocken ohne Ende, daß wir endlich aus den Fängen dieser Sklavenhalter entkommen sind“, behauptete Sonia. „Mach die Augen auf! Wir sitzen auf der Straße, haben kein Geld, keine Unterkunft, einfach gar nichts“, jammerte Tejbin. „Aber wenigstens haben wir uns“, erwiderte Daya. „Davon werden wir auch nicht satt“, widersprach Sardar. „Oh, ich glaube, da irrst Du Dich. So eine Portion Menschenfleisch kann schon für einige Tage den Hunger stillen. Ich schlage vor, wir losen jetzt aus, wer als Erstes geschlachtet wird“, ließ Nathu mit ernster Stimme von sich hören. Alle lachten. Nathu gelang es immer wieder, sie aufzubauen und ihnen zu zeigen, daß man auch ohne Hab und Gut ein lustiger und glücklicher Mensch sein konnte. Für jene Gabe bewunderten ihn die Anderen, aber seine Sprüche allein konnten halt nicht alle ihre Probleme lösen. „Wir sollten erstmal schlafen und dann sehen wir weiter“, schlug Bharat vor. „Ein kluger Junge. Denn so schnell sehen wir eh nicht weiter, so dunkel wie es hier ist“, bemerkte Nathu zur allgemeinen Erheiterung. Sie fühlten sich sicher in der Stadt und da man ihnen eh nichts stehlen konnte, entschieden sie sich, keine Wachposten zu bestimmen. So schlummerten sie eine Weile vor sich hin, bis sie unsanft geweckt wurden. „Aufwachen, elendes Pack! Ihr könnt doch hier nicht übernachten“, schnarrte ein Polizist, der mit drei seiner Kollegen hergekommen war. „Aber sie sehen doch, daß wir das können. Also, gute Nacht“, murmelte Nathu schlaftrunken. Auf einmal traf ihn das Schlagholz eines Polizisten, der dazu noch Folgendes fragte: „Wie redest Du denn mit einem Polizisten? Könnt Ihr Euch überhaupt ausweisen?“ Natürlich konnten sie das nicht, weil ihre Ausweise noch in der Kinderfabrik lagen. „Wir können uns zwar nicht ausweisen, aber wir können Euch ins Haus scheißen“, antwortete Nathu, weshalb er wieder einen Schlag abbekam. Da riß er plötzlich einem der Polizisten den Schlagstock aus der Hand. Der wich entsetzt zurück. „So, jetzt drehen wir den Spieß mal um. Wenn Du unbedingt jemanden schlagen mußt, dann werde Domino, oder sowas!“ rief Nathu, der Einiges vom Wortschatz der Aufseher übernommen hatte. „Ja, jetzt werden wir mal ernst. Wo sind wir denn hier? Wir liegen friedlich schlafend am Boden und Ihr kommt hierher und macht Ärger. Was soll denn das?“ fragte Nathu die erstaunten Polizisten. „Moment, Junge! Du bringst da was durcheinander. Ihr habt kein Recht hier zu schlafen und darum müssen wir Euch wegschaffen“, stellte einer der Polizisten klar. Es war keineswegs so, daß die Jugendlichen in der Kinderfabrik nur gearbeitet hatten. Man hatte sie ab und zu auch noch unterrichtet, so daß sie doch ein kleines, aber wertvolles Wissen besaßen. „Bist Du der neue Hitler, oder was? Diese Stadt gehört allen und darum können wir schlafen wo wir wollen. Es sei denn, Du stellst uns Deine Villa zur Verfügung“, stieß Nathu energisch hervor. „Du bist ganz schön frech. Ihr kommt jetzt mit und damit basta!“ „Ihr verschwindet jetzt und damit basta!“ Mit solchen Worten hatten die Polizisten nicht gerechnet. Fragend schauten sie sich an. „Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt“, stammelte einer. „Was soll die ganze Scheiße, die Ihr da labert? Ich sehe weit und breit keine Staatsgewalt. Ihr habt uns angegriffen, also ist es unser Recht, uns zu wehren. Laßt uns jetzt endlich in Ruhe!“ forderte Shankar. Die Polizisten wußten nicht so recht, was sie tun sollten. „Ihr glaubt wohl, nur weil Ihr in einer Uniform herum rennt seid Ihr was Besseres als wir und dürft Euch alles erlauben? Aber da irrt Ihr Euch gewaltig“, garantierte Bharat, der seine Freunde unterstützen wollte. „Wir geben Euch zehn Minuten Zeit, um zu verschwinden. Wenn Ihr bis dahin nicht fort seid, dann, äh, dann, dann werden wir Verstärkung rufen“, sagte ein Polizist. „Kleines Stotterproblem, was? Seid froh, daß wir friedlich sind, weil wir Euch auch auseinandernehmen könnten. Wir verschwinden, aber eines garantiere ich Euch: Wenn Ihr wieder bei uns auftaucht, oder Eure Kollegen, dann gibt’s Ärger. Wir lassen uns nämlich nicht von einem Ort zum nächsten schicken“, bekräftigte Shankar. Danach setzten sich die Elf in Bewegung. „Einen Augenblick! So war das nicht gedacht. Ins Gefängnis müßt Ihr schon“, beharrte einer der Polizisten. Da ging Bharat seelenruhig auf ihn zu, stellte sich vor ihn hin und fragte: „Hast Du was gesagt?“ Der Polizist war gut 20 Zentimeter kleiner als Bharat und darum zögerte er mit der Antwort. Erst nach einigen Sekunden ließ er ein „Schönen Tag noch“ von sich hören. So zogen die Flüchtlinge von dannen und wunderten sich. „Was ist denn das für ein Sauhaufen? Da schläft man in aller Ruhe und dann tauchen auf einmal solche Idioten in Uniform auf, die nichts Besseres zu tun haben als junge Leute zu schikanieren“, ärgerte sich Raja. „Solange wir im Freien schlafen müssen, werden uns die noch einigen Ärger bereiten“, glaubte Daya. „Kein Problem. Bauen wir uns halt ein Haus“, schlug Tejbin vor, obwohl er genau wußte, daß das unmöglich war. Langsam wurde es hell und die ersten Kurzschläfer erwachten. Aus den Fenstern schauten die ersten Gesichter, doch als man die elf Flüchtigen sah, wurden die Fenster schnell wieder geschlossen. Natürlich sah man ihnen an, daß sie nicht zur besseren Gesellschaft gehörten, sondern daß sie wohl einige Tage in der Wildnis verbracht hatten. Im Gegensatz zu den Leuten störte die elf Jugendlichen das wenig. Sie waren froh, daß ihnen ihre Flucht geglückt war und alles Andere würde schon nach und nach auf sie zukommen. „Wohin gehen wir?“ forschte Hirabai. „Immer der Nase nach“, antwortete Parwez. „Prima Antwort.“ „Das soll heißen, daß Parwez mal wieder keinen blassen Schimmer hat“, erklärte Sardar. „Das ist egal. Mir würde es schon reichen, wenn er etwas zu essen dabei hätte“, warf Nathu ein und so langsam spürten sie alle ein sehr großes Hungergefühl. Aber wo würden sie um die Zeit Nahrung her bekommen? Und überhaupt hatten sie keine einzige Rupie. Das Geld, für das sie in der Kinderfabrik gearbeitet hatten, hatten sie nämlich nie gesehen. Man hatte ihnen gesagt, es würde direkt von der Schuld ihrer Eltern abgezogen, so daß sie nie etwas bekommen hatten. Sie hatten praktisch nie für sich selbst, sondern nur für Andere gearbeitet. Das stellten sie jetzt ernüchtert fest und das belastete sie doch gewaltig. Sie waren auf diese Art und Weise arbeits-, wohnungs- und mittellos. Das bedeutete, daß es fast nur noch besser werden konnte.
Der Tag brach an und so langsam kam Leben in die Straßen Neu Delhis. Viele Menschen machten sich auf den Weg zu ihrer Arbeitsstätte, um dort das Geld zum Leben zu verdienen. Andere hatten keine Arbeit und versuchten, irgendeine Beschäftigung zu finden, um die Stunden zu füllen. Nachdem es immer lauter wurde, erhoben sich auch die elf ehemaligen Fabrikarbeiter, um einen Zeitvertreib zu suchen. Doch zunächst gingen sie in ein Friseurgeschäft, um dort nach Haarfarbe zu fragen. „Ihr wollt, daß ich Euch Haarfarbe schenke?“ fragte der Friseur ein wenig schockiert, weil er nicht glauben wollte, was er da gehört hatte. „Na ja, wir haben kein Geld und darum können wir sie nicht bezahlen“, gestand Tejbin etwas verlegen. „Tut mir leid. Kein Geld, keine Ware. Wo kämen wir denn dahin, wenn ich meine Sachen verschenken würde? Ich muß ja auch von etwas leben.“ „Wo haben sie denn die Waren, bei denen das Haltbarkeitsdatum schon abgelaufen ist?“ wollte Nathu wissen. „Die liegen da vorne. Das sind die zu den Sonderpreisen.“ „Haben sie wirklich nichts für uns übrig?“ fragte Indira mit einem unschuldigen Lächeln. „Doch und zwar einen guten Ratschlag: Sucht Euch eine Arbeit und dann könnt Ihr wiederkommen und Euch etwas kaufen“, sprach der Friseur und schickte sie dann fort. „Der redet sich leicht. Der hat einen Job“, moserte Bharat enttäuscht. So machten sie sich auf den Weg in die Innenstadt, um dort vielleicht Arbeit zu finden. Da sahen sie Männer, die schwere Kisten schleppten. „Das können wir auch“, fand Shankar, weshalb er die Arbeiter fragte: „Können wir Euch helfen?“ „Verschwindet! Elendes Pack, will uns unsere Arbeitsplätze klauen!“ rief einer der Männer. Da auch dort nichts zu holen war, gingen sie zu einer Art Arbeitsamt. „Wir suchen Arbeit“, erzählte Shankar dem Mann, der sich über den Aufmarsch ein wenig wunderte. „Das tun Viele. Glaubt ja nicht, daß Ihr da die Einzigen seid. Aber es gibt keine Arbeit. Ihr müßt schon selber sehen, wie Ihr über die Runden kommt“, stellte er fest. Shankar wollte das nicht wahrhaben. „Was soll denn das heißen? Sollen wir stehlen, oder was?“ „Das ist Eure Sache. Verschwindet wieder! Ich habe genug zu tun.“ „Ich dachte, das hier wäre die Arbeitsvermittlung.“ „Das ist sie auch. Aber da es keine Arbeit gibt, kann ich auch keine vermitteln. Bist Du schwer von Begriff, oder was?“ „Das darf doch wohl nicht wahr sein. Sollen wir verhungern?“ „Da wärt Ihr nicht die Ersten. Ihr müßt wissen was Ihr tut, das ist nicht mein Problem. Aber stört mich jetzt nicht länger.“ „Gibt es denn gar keine Möglichkeit, irgendwo Arbeit zu finden?“ „Natürlich. Ihr braucht nur gute Beziehungen, dann findet sich immer ein Job. Sonst seid Ihr die Verlierer. Aber wenn Ihr Glück habt und wir bald einen Krieg gegen Pakistan beginnen, dann gibt es sehr schnell wieder genug Arbeit“, versprach der Mann. „Das ist doch krank. Wir sollen auf einen Krieg hoffen, um Arbeit zu bekommen. Ihr seid doch hier alle nicht ganz richtig im Kopf“, erwähnte Bharat, bevor sie das Büro verließen. „Das ist also die Freiheit. Lange werden wir sie nicht mehr erleben“, vermutete Sonia ein wenig bedrückt. „Halt! Ganz so einfach geben wir uns nicht geschlagen. Wir müssen halt unsere Ansprüche ein wenig herunterschrauben“, behauptete Sardar. „Unsere Ansprüche sind ganz unten, tiefer geht es gar nicht mehr. Sollen wir Scheiße fressen, oder was?“ wunderte sich Parwez. „Nein, da gibt es andere Möglichkeiten. Viele Leute schmeißen achtlos Nahrungsmittel weg“, deutete Sardar an und hob eine alte Fischsemmel auf. „Ist doch besser als gar nichts“, hörte man ihn sagen, während er kaute. So machten sie sich also auf den Weg zu den Müllcontainern der Gaststätten, um dort nach Eßbarem zu suchen. Doch als sie bei der ersten Tonne ankamen, erschraken sie gewaltig. Vor ihnen drängten sich gut 15 Menschen auf der Suche nach Essensresten. „Nein Leute, man kann es auch übertreiben. Ich finde nicht, daß es gut ist, mit alten Bettlern um eine angewieselte Kartoffel zu streiten“, glaubte Shankar und zog sich angewidert zurück. „Du kannst wohl von der Luft leben“, meinte Tejbin, der sich einen Knochen mit etwas Fleisch geschnappt hatte. „Da sieht man einmal wieder wie ungerecht das Leben ist. Wir haben die ganze Zeit gearbeitet und trotzdem stehen wir nun mit leeren Händen da“, erkannte Indira, die sich zu Shankar setzte. „Wir müssen ganz anders vorgehen. Bisher sind die meisten Menschen noch nicht mit dem Elend konfrontiert worden oder sie haben einfach weg geschaut. Kommt mit!“ forderte Nathu seine Genossen auf. Wenig später standen sie zu elft in einem Lokal. Sofort kamen zwei Männer auf sie zu. „Verschwindet! Ihr habt hier nichts zu suchen!“ rief der Eine. „Was können wir dafür, daß wir kein Geld haben? Gebt uns was zu essen und wir gehen wieder“, versprach Bharat. „Einen Dreck könnt Ihr haben! Raus hier!“ brüllte der Wirt, der sich dazu gesellt hatte. „Jetzt geben sie den Kindern doch was zu essen. Die sehen ja ganz ausgehungert aus“, konstatierte einer der Gäste, der noch einen Anflug von Menschlichkeit zu besitzen schien. „Und wer bezahlt mir das?“ fragte der Wirt mit grimmiger Miene. „Jetzt tu mal nicht so, als ob Du am Bettelstab gehen würdest. Das Fleisch von eben, das war auch eher ein Batura“, erinnerte sich der Gast. Da beeilte sich der Wirt, damit niemand aufmerksam wurde. „Kommt mit!“ bat er die Elf und brachte sie in einen Nebenraum. „Seid froh, daß es der Mann dort drin gut mit Euch meint. Aber glaubt ja nicht, daß Ihr noch einmal hier auftauchen könnt. Ihr bekommt jetzt was zu essen und dann haut Ihr ab!“ verlangte er mit dunkler Stimme. „Aber gib uns bitte kein falsches Fleisch“, ermahnte ihn Nathu grinsend. Wenig später bekamen sie ein paar von den Sachen aufgetischt, für die sich einige der Gäste zu schade gewesen waren und so kam es, daß sie zum ersten Mal seit langer Zeit satt wurden. Auf einmal kam der Gast herein, der dafür gesorgt hatte. „Danke“, schmatzte Raja glücklich. „Nichts zu danken. Das war das Mindeste, was ich für Euch tun konnte. Wo kommt Ihr her?“ Shankar zögerte. Meinte es der Mann wirklich gut mit ihnen oder wollte er sie nur ausnutzen? „Wir sind alle aus Kinderfabriken geflohen“, erzählte er. „Was! Das ist ja super. Ich hätte nie gedacht, daß es Leute gibt, die das schaffen.“ „Aber jetzt haben wir wieder Probleme. Kein Zuhause, kein Geld und auch keine Arbeit.“ „Paßt auf! Ich kenne da ein paar Leute, an die Ihr Euch wenden könnt. Das sind gute Menschen, die sich um die kümmern, die nichts zum Leben haben. Wenn Ihr wollt, kann ich Euch zu denen hinbringen, nachdem Ihr satt seid.“ „Aber das sind keine Kinderhändler, oder?“ Der Mann lachte. „Was denkt Ihr von mir? So etwas würde ich nie tun. Nein, es sind Frauen und Männer, für die Geld nicht so wichtig ist. Sie kümmern sich um die Armen, um denen das Überleben zu ermöglichen.“ „Na dann ist e ja gut.“ Wenige Minuten später brachen sie auf. Es dauerte eine Weile, bis sie dort ankamen, wohin sie der Mann hatte bringen wollen. „So, da sind wir. Hallo Lucia. Ich habe Euch ein paar junge Menschen mitgebracht, die Eure Hilfe dringend benötigen“, berichtete er und ging dann. Lucia war eine kleine Frau, deren Lachen den Flüchtigen Vertrauen schenkte. „Seid willkommen. Hier seid Ihr absolut richtig. Hier habt Ihr einen Platz zum Übernachten, bekommt etwas zu essen und findet vielleicht auch eine Arbeit“, erzählte sie. Danach führte sie die Elf zu ihrem Zimmer. „Wenn Ihr wollt, dann könnt Ihr zusammen bleiben. Seht Euch erst einmal genau um. Wenn Ihr Fragen habt, dann stellt sie ruhig“, ermunterte sie die Frau. „Warum sind sie so gut zu uns?“ wollte Sonia wissen, die ein wenig Angst hatte. „Weil auch Ihr die Chance haben sollt zu überleben“, antwortete die Frau lächelnd. „Aber das bringt ihnen doch nichts“, entfuhr es Parwez. „Oh doch. Es macht uns sehr glücklich, wenn wir sehen, daß wir anderen Menschen helfen können.“ „Sie sind ein Engel“, bemerkte Shankar beeindruckt. „Was redet Ihr denn da? Normalerweise müßten alle Menschen das tun, was wir hier machen. Ach, was rede ich. Eigentlich dürfte es gar nicht soweit kommen, daß es Menschen gibt, die Hunger leiden müssen“, erörterte die Frau. „Wenn Ihr mir Eure Geschichte erzählen wollt, dann tut das“, fügte sie hinzu. Sie setzten sich an einen großen Tisch. Erst erzählte Bharat, dann erzählte Shankar und danach erzählte Nathu alles, was sich zugetragen hatte, seit sie sich zusammengeschlossen hatten. Aufmerksam hörte ihnen Lucia zu und immer wieder mußte sie dazwischen schlucken oder weinen, weil ihr das, was sie da hörte, sehr nahe ging. „Ihr habt viele schlimme Sachen durchmachen müssen. Aber damit wird es jetzt endgültig vorbei sein. Das verspreche ich Euch“, garantierte sie schluchzend. „Warum weinst Du?“ wunderte sich Raja. „Warum ich weine, Junge? Ich weine darüber, daß man Euch so schrecklich behandelt hat.“ „Aber das hilft doch nichts. Außerdem sind noch genug Kinder in den Fabriken, die so behandelt werden“, fiel Sardar dazu ein. „Ich weiß und das stimmt mich so traurig. Seit über 20 Jahren versuche ich gegen die Kinderarbeit zu kämpfen, aber wir haben nichts erreicht. Rein gar nichts“, murmelte Lucia traurig. „Sei nicht traurig. Allein hat man gegen diese Leute keine Chance“, stellte Shankar klar. „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr jetzt ein wenig raus gehen. Wir haben ein paar Spielplätze, auf denen Ihr Euch austoben könnt“, teilte ihnen die Frau mit und ging dann. „Daß es solche Menschen gibt“, freute sich Parwez ein wenig erstaunt. Doch lange dachten sie darüber nicht nach. Sie waren unglaublich glücklich, endlich eine Heimat gefunden zu haben, wo sie gute Aussichten auf ein Überleben hatten. Sie fühlten sich erleichtert, denn nun waren sie erst einmal sicher und geborgen. Zwar hatten sie nach wie vor keine Arbeit und damit kein Geld, aber das war nun wirklich nicht das Entscheidende. Hauptsache, sie hatten alle ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Darum begaben sie sich nach draußen, wo sie auf viele andere Jugendliche in ihrem Alter trafen. Mißtrauisch musterte man sie, da sie ja Neue waren. Sofort spürten sie, daß sie nicht willkommen waren. „Was wollt Ihr hier?“ rief ihnen einer zu. „Wir leben hier“, antwortete Sardar. Das sorgte für erhebliche Unruhe. „Bildet Euch ja nichts ein! Wir haben hier das Sagen“, tönte ein Junge entschlossen und seine Kumpanen stimmten ihm zu. „Hey Leute, was ist Euer Problem. Ihr seid Menschen, wir sind Menschen. Wieso können wir nicht normal miteinander umgehen?“ fragte Nathu. „Ihr seid keine Menschen. Ihr seid Dreck“, erwiderte ein stärkerer Jugendlicher. „Hast Du schon einmal von einem Dreck einen Schlag ins Gesicht bekommen?“ fragte ihn Nathu und schritt unerschrocken auf ihn zu. Da lachte der Angesprochene höhnisch und holte zum Schlag aus. Nathu duckte sich und schon landete seine Hand mit schneller Geschwindigkeit auf der Backe seines Gegenübers. Platsch! Es war laut und deutlich zu hören. Nathu drehte sich um und ging zu seinen Leuten zurück. Rufe der Überraschung und des Erstaunens gingen durch die Menge. Da kam Lucia vorbei. „Was ist denn los? Wieso spielt Ihr nicht?“ wunderte sie sich. „Stimmt das, daß die auch hier wohnen?“ wurde sie von einem Jungen gefragt. „Das ist richtig. Und ich möchte, daß Ihr sie genauso in Eure Gemeinschaft aufnehmt, wie man Euch aufgenommen hat.“ „Niemals!“ riefen da einige Jugendliche. Da wurde die Frau laut. „Was bildet Ihr Euch denn ein? Man hat Euch immer gut behandelt hier und den Neuen soll es auch nicht schlechter gehen“, fügte sie hinzu. „Aber die sind Abfall. Die sind voller Dreck, die sind Dreck“, behauptete ein Junge. „Schweig! Kein Mensch ist besser als ein anderer! Das habe ich Euch schon so oft gesagt. Es kommt nicht auf das Äußerliche, sondern auf das Innere an! Sie haben Euch nichts getan. Sie haben das gleiche Recht hier zu leben wie Ihr auch. Und damit hat es sich“, machte Lucia deutlich und ging. „Laßt Euch nicht unterkriegen!“ flüsterte sie den Neuankömmlingen zu. „Das geht gar nicht. Wir sind schon ganz unten“, spottete Nathu, der nicht glauben konnte, daß die Gleichaltrigen so viel Ärger machten. Jene zogen ab und ließen die elf Flüchtigen etwas ratlos zurück. „Toller Empfang. Da hätten wir gleich in der Fabrik bleiben können“, urteilte Tejbin. „Quatsch! Das ist am Anfang immer so. Die müssen sich erst daran gewöhnen, daß wir jetzt auch hier sind. Dann wird das schon besser“, versprach Shankar. „Deinen Optimismus möchte ich haben“, murmelte Sardar. „Kein Problem. Der reicht locker für zwei“, ließ Shankar von sich hören. Man hatte sie nicht jubelnd empfangen, doch das hatte auch niemand erwartet. Trotzdem hatten sie sich mehr erhofft gehabt.