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Doch es gab auch Jugendliche, die nichts gegen die Neuankömmlinge hatten. Vier von denen kamen auf sie zu. „Nehmt das nicht so ernst, was die Anderen gesagt haben. Die haben halt Angst, daß sie jetzt etwas kürzer treten müssen. Übrigens, ich bin Rahul und das sind Brahma, Gautam und Brijesh“, stellte Rahul sich und seine drei Freunde vor. Shankar zählte die Namen seiner Leute auf, bevor er mit Rahul ins Gespräch kam. „Wie lange seid Ihr schon hier?“ wollte er wissen. „Seit zwei Jahren. Es ist schön hier. Wir helfen alle zusammen und können überleben.“ „Habt Ihr auch in einer Fabrik gearbeitet?“ „Ja, aber nicht so lange. Höchstens fünf Jahre. Aber das hat gereicht.“ „Und wie seid Ihr rausgekommen?“ „Man hat uns rausgeschmissen, weil wir eine bessere Behandlung gefordert haben.“ „Komisch. Wenn wir das gemacht hätten, dann hätte man uns verprügelt.“ „Na ja, das haben sie sich nicht getraut, weil sie sonst Ärger bekommen hätten. Außerdem hatten sie schon Ersatz gefunden, so daß sie uns nicht mehr brauchten.“ „Und was macht Ihr hier den ganzen Tag?“ „Das was wir wollen. Könnt Ihr Fußball spielen?“ „Na ja, ein bißchen.“ „Kommt mit! Wir haben hier einen schönen Platz“, sagte Rahul und führte seine neuen Bekannten zum Fußballplatz. Dort wich dann jegliche Zurückhaltung von den „Flüchtlingen“. Als sie einen richtigen Fußball sahen, gab es kein Halten mehr. Sie stürzten sich auf das runde Leder und wollten es am liebsten nie mehr hergeben. Wenig später spielten sie in zwei Mannschaften zu je fünf Leuten. Nathu ging ins Tor und die vier Mädchen schauten zu. „Wie kleine Kinder“, meinte Indira, die das Treiben interessiert beobachtete. „Hauptsache es macht ihnen Spaß“, fand Daya, die immer noch ein wenig traurig war. Stundenlang tobten sich die Jugendlichen auf dem Bolzplatz aus, doch auf einmal war der Ball weg. Sardar hatte ihn über das Tor geschossen und war losgelaufen, um ihn zu holen. Jedoch war einer derer, die sie nicht leiden konnten, schneller am Ball und hatte ihn zu seinen Leuten gebracht. „Was soll denn das? Gebt uns den Ball!“ forderte Bharat. „Vergeßt es! Das ist unser Ball. Und jetzt verschwindet, weil jetzt richtige Fußballer auf den Platz kommen“, tönte der Andere. „Der Ball gehört uns allen. Also her damit!“ befahl Shankar. „Spiel Dich hier nicht auf! Seid froh, daß wir Euch hier wohnen lassen“, entgegnete einer der „Feinde“. Raja wollte die Situation entschärfen. „Wir haben doch jetzt lange genug gespielt. Lassen wir die aufs Feld. Aber nur, wenn sie uns versprechen, daß wir den Ball wiederbekommen, wenn sie fertig sind“, schlug er vor. Damit waren alle einverstanden und so beobachteten die elf Jungen ihre Konkurrenten. „Also viel besser wie wir sind die auch nicht“, kommentierte Tejbin. „Umso besser. Aber das bringt uns auch nicht viel“, glaubte Bharat. Nach einer Weile hatten sie genug gesehen und gingen mit den vier Mädchen zu Lucia. „Na, habt Ihr genug von der Sonne?“ fragte die freundlich. „Können wir Dir irgendwie helfen?“ wollte Shankar wissen. „Gerne. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr das Abendessen herrichten.“ Da waren sie alle sofort Feuer und Flamme und so machten sie sich an die Arbeit. Doch als sie dann alle zu Tisch saßen, herrschte eisiges Schweigen. Feindselig blickten sich die Mitglieder der Gruppen an. „Was ist denn mit Euch? Ihr könnt doch miteinander reden“, fand Lucia, die merkte, daß es nicht leicht werden würde, für Frieden und Ordnung zu sorgen. „Was sollen wir denn mit denen reden? Die können ja nicht mal unsere Sprache“, lästerte einer der Anderen. „Das liegt an Deinen Ohren. Wahrscheinlich hast Du die auf Englisch eingestellt“, scherzte Nathu. Während seine Freunde lachten, machten die Anderen finstere Gesichter. Lucia beschloß, nach dem Essen dafür zu sorgen, daß sich die Gruppen etwas näher kamen. Darum ließ sie alle in einem großen Raum zusammenkommen und sprach: „Damit Ihr Euch jetzt kennenlernt, bitte ich Euch, daß Ihr Euch gegenseitig vorstellt und Euch die Hand gebt.“ Aber jene Worte fruchteten nicht. Während Shankar und seine Freunde dazu bereit waren, verweigerten die Anderen ihnen den Händedruck. So blieb es bei der eisigen Stimmung und es hatte nicht den Anschein, als ob sich das ändern sollte.
Zum ersten Mal seit langen Jahren konnten die Flüchtlinge in richtigen Betten schlafen und das freute sie sichtlich. Zu elft lagen sie im Zimmer, als auf einmal Lucia hereinkam. „Ich habe fast vergessen, daß Ihr Euch noch duschen könnt, wenn Ihr wollt“, teilte sie mit. Sofort sprangen sie alle auf. Kurze Zeit später genossen sie das kühle Naß und wuschen sich den Dreck vom Körper. Zum ersten Mal seit Langem fühlten sie sich richtig sauber und waren darum bestens gelaunt, als sie wieder in ihre Betten stiegen. „Jetzt haben wir es also geschafft“, begann Tejbin die Unterhaltung im Dunkeln. „Was?“ erkundigte sich Sonia. „Na ja, wir sind frei und haben ein Zuhause. Wir können machen was wir wollen und haben was zu essen“, antwortete er. „Freiheit ist relativ. Wenn Du es genau nimmst, sind wir hier gefangen, auch wenn es uns nicht schlecht geht. Denn sobald wir hier weg gehen würden, hätten wir die alten Probleme“, befürchtete Bharat. „So ist es. Aber so schnell werden wir hier nicht fort gehen. Ich zumindest nicht“, tönte Raja. „Wir müssen bloß auf die Anderen aufpassen. Denen traue ich alles zu. Nicht, daß die hier mitten in der Nacht auftauchen und uns zusammenschlagen“, befürchtete Sardar. „Ach was! Die werden sich schon noch an uns gewöhnen“, glaubte Hirabai. „Du Shankar, hol doch mal den Sanka“, bat Nathu. Alle lachten. „Wozu das denn?“ wollte der wissen. „Ich habe heute zum ersten Mal etwas Richtiges gegessen. Nicht diesen Fabrikfraß. Ich glaube, mein Magen ist so viele gute Sachen nicht gewöhnt. Der arbeitet, aber er schafft es nicht. Ich glaube, ich brauche einen neuen“, kalauerte Nathu. „Du bist und bleibst ein Quatschkopf.“ „Das ist auch gut so. Sonst hättet Ihr ja überhaupt nichts vom Leben.“ „Gute Nacht, Du Komiker.“ „Gute Nacht, Ihr Trantüten!“ Da sie alle in einem Zimmer lagen, war es für Daya nicht schwer, zu Nathu zu gelangen. Sie ging an sein Bett und flüsterte: „Nathu, magst Du mich etwa nicht?“ „Doch natürlich. Aber zwischen Sympathie und Liebe gibt es einen Unterschied.“ „Und der wäre?“ „Wenn ich jemanden sympathisch finde, dann unterhalte ich mich mit dem oder der, mache blöde Witze und so. Aber wenn ich jemanden liebe, dann, das kann man nicht beschreiben.“ „Also liebst Du mich nicht?“ „Ja, nein, ach komm, mach es uns doch nicht so schwer! Laß uns einfach gute Freunde sein.“ „Das genügt mir aber nicht.“ „Dafür kann ich nichts. Gute Nacht“, murmelte Nathu und drehte sich zur Seite. Sekunden später lag Daya wieder in ihrem Bett und weinte. „Mensch Nathu, alter Herzensbrecher! Muß es denn sein, daß Du die Frauen zum Weinen bringst?“ fragte Shankar, der alles mitgehört hatte. „Ich würde sie auch lieber zum Lachen bringen, aber das geht halt mal nicht immer. Manchmal muß ich die Wahrheit sagen, auch wenn sie weh tut“, gab Nathu von sich, um dann endgültig zu schlafen. Am nächsten Morgen beim Frühstück trafen sie wieder auf die selben finsteren Gesichter wie am Tag zuvor. „Heute spielen nur wir Fußball. Daß das klar ist“, stieß einer der „Griesgrämigen“ hervor. „Ihr habt wohl Angst, daß wir Euch fertig machen“, entgegnete Raja. „Pah! Gegen Euch Flaschen gewinnen sogar Säuglinge“, erwiderte sein Gegenüber. Die Anderen lachten und danach herrschte eisiges Schweigen. Nach dem Frühstück sprach Shankar noch mit Lucia. „Du, es gibt da noch ein Problem. Du kennst ja unsere Geschichte und es kann durchaus sein, daß man uns immer noch sucht. Darum wollten wir eigentlich unser Aussehen verändern, um nicht erkannt zu werden“, erzählte er. „Das braucht Ihr nicht. Ich verspreche Euch, daß Euch von hier niemand wegholen wird. Wenn es jemand versucht, dann werde ich es verhindern. Ich habe gute Freunde, die Euch beschützen werden“, versicherte ihm die Frau und so gelang es ihr, Shankar und seine Freunde zu beruhigen. Sie fühlten sich wohl in ihrem neuen Zuhause, auch wenn es noch einige Probleme mit den Mitbewohnern gab. Aber das war ganz sicher nicht ihre Schuld und darum kümmerten sie sich auch nicht weiter darum.
Doch kurze Zeit später tauchte ein Mann auf und ließ alle Jugendlichen zu sich kommen. Als alle da waren, begann er zu erzählen: „Ab nächster Woche finden die Fußballstadtmeisterschaften für alle Jugendlichen aus Neu Delhi statt. Auch Euer Heim darf mit einer Mannschaft daran teilnehmen. Es spielen wie im richtigen Fußball elf Spieler, darunter ein Torwart. Ihr könnt auch Auswechselspieler mitnehmen, aber das ist kein Zwang. So, wer von Euch will denn gerne dabei mitmachen?“ fragte er und zog einen Stift und einen Zettel hervor. „Da brauchen wir erst gar nicht lang diskutieren. Wir haben bereits eine Mannschaft“, meldete sich ein Junge zu Wort und zeigte auf sich und zwölf weitere Jugendliche. „Moment mal! Das lassen wir uns nicht gefallen. Wir wollen auch bei den Stadtmeisterschaften mitmachen“, entschied Nathu. „Ihr haltet die Klappe! Ihr habt hier nichts zu sagen!“ rief sein Gegenüber. „Einen Augenblick. Alle haben grundsätzlich das Recht, dabei mitzumachen. Da ich sehe, daß Ihr fast zwei Mannschaften hättet, schlage ich vor, daß wir ein Ausscheidungsspiel machen. Der Gewinner nimmt an den Stadtmeisterschaften teil, der Verlierer nicht“, erläuterte der Mann und erntete für seinen Vorschlag bei Shankar und seinen Freunden Zustimmung, im anderen Lager Ablehnung. „Was soll die Scheiße? Wir leben hier schon seit Jahren und die sind erst gestern gekommen. Da steht doch fest, wer spielt“, maulte einer der Jugendlichen. „Ihr habt doch nur Angst, daß Ihr gegen uns verliert“, konterte Rahul. „Reißt nur nicht Eure Klappe so weit auf! Gegen uns habt Ihr eh keine Chance“, erwiderte ein Anderer. „Also, paßt auf! Wir machen das Spiel heute Abend um sechs Uhr. Ich mache den Schiedsrichter und Ihr könnt Euch sicher sein, daß ich absolut neutral sein werde. Wir spielen zwei mal 30 Minuten und wenn es dann unentschieden steht, dann gibt es ein Elfmeterschießen“ verkündete der Mann. „Haben sie einen Fußball für uns? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, daß uns die keinen geben werden“, vermutete Shankar. „Fragt Lucia. Ich glaube, die hat noch einen“, antwortete der Mann und ging daraufhin. „Leute, hört mir mal zu. Wenn wir heute abend wirklich eine Chance haben wollen, dann brauchen wir eine gute Taktik“, begann Rahul. „Was ist eine Taktik?“ wunderte sich Raja. „Ich weiß, daß Ihr ziemlich gut Fußball spielen könnt, aber da gehört noch mehr dazu. Ihr müßt beim Spielen auch mitdenken. Vor allem muß jeder genau wissen, was er zu tun hat. Darum werden wir erst einmal die Positionen festlegen“, argumentierte Rahul, der zweifellos am meisten von jenem Sport verstand. Er hatte schon ein paar Fußballspiele gesehen und so wußte er doch ein wenig, wovon er sprach. Es dauerte eine Weile, bis sich jeder eine Position ausgesucht hatte. Erst danach fuhr Rahul fort: „Also paßt auf! Die Abwehrspieler haben vor dem Tor des Gegners nichts verloren.“ „Warum nicht?“ fragte Parwez. „Weil sie dann in der Deckung fehlen und es dem Gegner leichter machen, ein Tor zu schießen“, antwortete Rahul. „Es gibt beim Fußball ein paar Regeln. Der Ball darf außer vom Torwart nicht mit der Hand berührt werden.“ „Klar, sonst hieße es ja Handball“, meinte Nathu grinsend. Gelächter kam auf. „Richtig. Außerdem darf man dem Gegner den Ball nur mit fairen Mitteln abnehmen, ihn also am besten nicht berühren, weil es sonst Freistoß für den Gegner gibt. Wenn der Ball im Toraus ist, gibt es entweder Eckball oder Abstoß. Wenn er im Seitenaus ist, dann gibt es Einwurf. Alles klar?“ wollte Rahul wissen. Um ihn zu beruhigen nickten alle. Kurz darauf holten sie sich von Lucia einen alten Ball. Außerdem zog sich jeder ein Paar Schuhe an, weil man damit doch besser spielte als mit den Sandalen. Nun gab es auf dem Fußballplatz des Heimes ein seltenes Bild zu sehen. Auf der einen Seite des Platzes trainierten die Einen, auf der anderen Seite trainierten Rahul und seine Leute. Man vermied es, zum Gegner zu schauen, sondern konzentrierte sich auf das eigene Spiel. Alle warteten gespannt auf den Abend. Es würde für Shankar und die Anderen das erste richtig ernsthafte Spiel werden und deshalb waren sie doch ein wenig aufgeregt. Denn sollten sie verlieren, dann wäre sofort alles vorbei.
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