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Nun fragte ihn plötzlich Norbert de Varenne, der den Fall Morel vergaß, über die Einzelheiten in den Sitten der Eingeborenen, die er von einem Offizier erfahren hatte. Es handelte sich um Mzab, eine seltsame, kleine, arabische Republik inmitten der Sahara, im trockensten Teile jenes heißen Erdteiles.
Duroy war zweimal in Mzab gewesen und erzählte nun von den Sitten dieses eigenartigen Landes, wo Wassertropfen Goldwert haben und jeder Bewohner zu allen öffentlichen Arbeiten verpflichtet ist und im Handel und Gewerbe eine Ehrlichkeit herrscht, wie man sie bei zivilisierten Völkern in Europa kaum kennt.
Er sprach mit einem gewissen Schwung; der Wein und der Wunsch zu gefallen, trieben ihn an. Er erzählte Anekdoten aus dem Soldatenleben, Kriegsgeschichten und allerlei kleine Züge aus dem Leben der Araber. Er fand sogar ein paar farbige Ausdrücke zur Schilderung der weiten, gelben Wüstenebene, die unter der verzehrenden Sonnenglut in ewiger öde liegt. Alle Damen hielten die Augen auf ihn gerichtet.
Frau Walter murmelte mit ihrer langsamen Stimme:
»Sie könnten aus ihren Erinnerungen eine Reihe reizender Artikel machen.«
Daraufhin betrachtete auch Herr Walter über seinen Kneifer den jungen Mann, wie er es immer tat, wenn er ein Gesicht wirklich genau sehen wollte. Die Speisen sah er sich unter dem Kneifer hinweg an.
Forestier ergriff die Gelegenheit:
»Verehrter Chef, ich erzählte Ihnen bereits von Herrn George Duroy, und bat Sie, ihn für die politischen Informationen bei uns anzustellen. Seitdem Marambot uns verlassen hat, habe ich niemanden für dringende und vertrauliche Erkundigungen zur Verfügung und für die Zeitung ist dieser Mangel recht bedeutend.«
Papa Walter wurde plötzlich ganz ernst und nahm seine Brille ab, um Duroy noch genauer betrachten zu können. Dann sagte er:
»Sicherlich hat Herr Duroy einen originellen Verstand. Wenn er mich morgen nachmittag um drei Uhr besuchen will, werden wir das besprechen.«
Nach einer kurzen Pause wandte er sich direkt an den jungen Mann:
»Aber schreiben Sie uns sofort eine kleine Reihe von Erinnerungen über Algier. Erzählen Sie über Ihre Eindrücke und bringen Sie damit die Kolonialfrage in Verbindung, so wie Sie es eben taten. Es ist aktuell, höchst aktuell, und es wird unseren Lesern ohne Zweifel zusagen.
Aber beeilen Sie sich. Ich brauche den ersten Artikel schon morgen oder übermorgen, damit wir das Publikum bearbeiten können, solange man darüber in der Kammer debattiert.«
Frau Walter fügte mit jener ernsthaften Liebenswürdigkeit, die sie immer zeigte, noch hinzu:
»Und Sie hätten einen reizenden Titel: ‘Erinnerungen eines afrikanischen Jägers’, nicht wahr, Herr Norbert?«
Der alte Dichter, der erst spät zu Ansehen und Ruhm gekommen war, verabscheute Neulinge und mißtraute ihnen. Er antwortete trocken:
»Ja, ausgezeichnet, vorausgesetzt, daß die Artikel auch die entsprechende Stimmung haben werden, was sehr schwer sein wird. Es kommt nämlich auf die richtige Stimmung an, oder musikalisch ausgedrückt, auf den Ton.«
Madame Forestier warf Duroy einen wohlwollenden, lächelnden Blick zu, wie ein erfahrener Kenner, der sagen will: »Du, du wirst schon deinen Weg machen.«
Madame de Marelle hatte sich mehrmals zu ihm hingedreht, und der Diamant in ihrem Ohr zitterte unaufhörlich, als wollte der dünne Wassertropfen sich ablösen und fallen. Nur die Kleine blieb unbeweglich und ernst und hielt den Kopf über ihren Teller gebeugt.
Der Diener ging rings um den Tisch und schenkte Johannisberger in die mattblauen Gläser, und dann wendete sich Forestier zu Herrn Walter und brachte einen Trinkspruch aus: »Auf langes Gedeihen der Vie Française!«
Alle verbeugten sich vor dem Chef, der lächelte, und Duroy, durch seinen Erfolg berauscht, leerte sein Glas in einem Zuge. Er hätte, so war ihm zumute, ein ganzes Faß austrinken können, er hätte einen Ochsen aufessen, einen Löwen erwürgen können. Er fühlte übermenschliche Kraft in sich, unbesiegbare Energie und unbegrenzte Hoffnungen. Jetzt war er inmitten dieser Menschen zu Hause, er hatte sich hier eine Stellung verschafft, seinen Platz erobert. Jetzt blickte er jedem einzelnen zuversichtlich ins Auge, und zum ersten Male wagte er auch seine Nachbarin anzusprechen.
»Sie haben die schönsten Ohrringe, Madame, die ich je gesehen habe.«
Lächelnd wandte sie sich zu ihm hin.
»Es war ein guter Einfall von mir, die Diamanten so einfach am Ende eines Goldfadens aufzuhängen. Nicht wahr, sie sehen aus wie Tautropfen?«
Verwirrt durch seine eigene Kühnheit und voller Angst, ob er auch nicht eine Albernheit sage, murmelte er:
»Ganz reizend ... Aber an Ihren Ohren sehen sie besonders schön aus.«
Sie dankte ihm mit einem Blick, mit einem jener offenen Frauenblicke, die bis ins Herz dringen.
Als er den Kopf herumwandte, begegnete er wieder den Augen der Frau Forestier, die ihn noch immer wohlwollend ansahen, doch glaubte er in ihnen jetzt eine lebhaftere Heiterkeit, eine leise Hinterlist und eine Ermutigung zu lesen.
Die Herren redeten jetzt alle durcheinander, mit lebhaften Gebärden und schallender Stimme. Man besprach den Riesenplan der Untergrundbahn. Der Gegenstand war auch beim Dessert noch nicht erschöpft und jeder hatte einige Dinge zu sagen über die zu langsamen Verbindungen in Paris, über die Unbequemlichkeiten der Straßenbahn und der Omnibusse und über die grobe Unverschämtheit der Droschenkutscher.
Dann verließ man den Speisesaal, um Kaffee zu trinken. Duroy bot aus Scherz dem kleinen Mädchen seinen Arm an, das ihm mit ernster Miene dankte und sich auf die Fußspitzen stellte, um ihre Hand auf den Arm des Nachbars legen zu können.
Als er in den Salon eintrat, hatte er von neuem das Gefühl, in ein Treibhaus zu kommen. Hohe Palmen öffneten ihre anmutigen Fächer in allen vier Ecken, stiegen bis zur Decke empor und verbreiteten sich dann wie Wasserstrahlen. Zu beiden Seiten des Kamins standen zwei runde Gummibäume mit ihren langen, dunkelgrünen, übereinander wachsenden Blättern, und auf dem Flügel prangten zwei ganz originelle, runde Sträucher, mit Blüten bedeckt, die einen dunkelrosa, die anderen schneeweiß. Sie sahen aus, als ob sie künstlich wären und zu schön, um echt zu sein.
Die Luft war angenehm frisch, von einem diskreten, zarten Parfüm erfüllt, das man nicht näher bestimmen konnte.
Duroy fühlte sich jetzt bedeutend sicherer und sah sich das Zimmer aufmerksam an. Es war nicht groß, und außer den Sträuchern war nichts darin, was den Blick besonders auf sich lenkte, keine lebhaften Farben traten hervor; man fühlte sich ruhig und gemütlich darin; es umfing den Körper sanft wie eine zärtliche Liebkosung. Die Wände waren mit einem alten, violetten Stoff bespannt, mit kleinen gelblichen Pünktchen, die kleine Blümchen darstellten und so groß waren wie eine Fliege. Blaugraue Tuchportieren mit leichten Stickereien aus roter Seide bedeckten die Türen und Fenster, und durch das ganze Zimmer standen, wahllos verstreut, Sitzmöbel in allen Formen und Größen, Chaiselongues, große und kleine Fauteuils, Puffs und Taburetts mit Louis-XVI.-Seide oder schönem Utrechter Samt bezogen, mit granatfarbenem Muster auf cremefarbenem Grund.
»Nehmen Sie eine Tasse Kaffee, Herr Duroy?«
Frau Forestier reichte ihm die volle Tasse mit einem freundlichen Lächeln, das ihre Lippen nicht verließ.
»Ja, gnädige Frau, ich danke Ihnen.«
Er nahm ihr die Tasse aus der Hand, und während er sich ängstlich vorbeugte, um mit der silbernen Zange ein Stück Zucker aus der Schale zu nehmen, die das kleine Mädchen hielt, sagte die junge Dame halblaut:
»Sie müssen jetzt Frau Walter den Hof machen.«
Dann entfernte sie sich, bevor er ein Wort hatte antworten können.
Zunächst trank er seinen Kaffee aus, weil er fürchtete, denselben womöglich noch auf den Teppich zu gießen. Dann fühlte er sich etwas freier und suchte nach einer Möglichkeit, sich der Frau seines zukünftigen Direktors zu nähern und eine Unterhaltung anzuknüpfen.
Plötzlich bemerkte er, daß sie eine leere Tasse in der Hand hielt. Sie befand sich ziemlich weit von einem Tisch und wußte nicht recht, wo sie die Tasse hinstellen sollte. Er eilte auf sie zu.
»Gestatten Sie, Madame.«
»Ich danke Ihnen, mein Herr.«
Er trug die Tasse fort und kam wieder zurück:
»Wenn Sie wüßten, gnädige Frau, welch glückliche Stunden mir die Vie Française da unten in der Wüste bereitet hat. Sie ist wirklich die einzige Zeitung, die man außerhalb Frankreichs lesen kann, denn sie ist geistvoller, literarischer und lange nicht so monoton und banal wie die übrigen. Man findet alles, was man will.«
Sie lächelte mit liebenswürdiger Gleichgültigkeit und sagte dann ernst:
»Herr Walter hat sich viel Mühe gegeben, eine solche Zeitung zu schaffen. Sie entspricht dem jetzigen modernen Bedürfnis.«
Sie begannen zu plaudern. Er sprach leicht und oberflächlich mit einer reizvollen Stimme. Auch hatte er viel Anmut im Blick und einen unwiderstehlich bestechenden Schnurrbart. Er wirbelte sich kraus und allerliebst auf der Lippe, dunkelblond, mit einem Stich ins Rötliche, während die Haarspitzen etwas heller schimmerten.
Sie unterhielten sich über Paris und seine Umgebung, über die Ufer der Seine, über die Badeorte, Sommerfrischen und alle diese Dinge, über die man ohne jegliche geistige Anstrengung endlos plaudern kann.
Dann trat Norbert de Varenne mit einem Likörglas in der Hand heran, und Duroy zog sich diskret zurück.
Madame de Marelle, die sich eben mit Madame Forestier unterhielt, rief ihn heran: »Also, Sie wollen es mit dem Journalismus versuchen?« fragte sie etwas schroff.
Da sprach er mit unbestimmten Worten über seine Pläne und begann dann mit ihr genau dieselbe Unterhaltung, die er vorher mit Frau Walter geführt hatte. Jetzt, wo er den Gegenstand besser beherrschte, zeigte er sich etwas gewandter und wiederholte, wie aus sich heraus, das, was er gerade gehört hatte. Dabei blickte er seiner Dame fortwährend in die Augen, wie um seinen Worten einen tieferen Sinn zu geben.
Sie erzählte ihm ihrerseits Geschichten mit dem lebhaften Ton einer Frau, die weiß, daß sie geistreich und witzig ist, und die immer lustig wirken kann. Dann wurde sie vertraulich, legte die Hand auf seinen Arm, senkte die Stimme, um Nichtigkeiten zu sagen, die dadurch das Gepräge einer Vertraulichkeit erhielten.
Er war innerlich entzückt, der jungen Frau, die sich ihm so eifrig widmete, auch körperlich nahe zu sein. Am liebsten hätte er um ihretwillen sofort irgendeine große Tat vollführt und ihr gestanden, daß er sie schätze und nur deswegen manchmal verstumme, weil er ganz von ihr eingenommen sei.
Aber plötzlich rief Madame de Marelle ohne jede Veranlassung: »Laurine!« Das kleine Mädchen kam. »Setz' dich hierher, mein Kind, du erkältest dich am Fenster!«
Und Duroy empfand ein tolles Verlangen, das Kind zu küssen, als sollte auch die Mutter von diesem Kusse etwas verspüren. Er fragte in einem galanten, väterlichen Ton:
»Darf ich Sie küssen, kleines Fräulein?«
Das Kind sah ihn erstaunt an. Madame de Marelle sagte lachend: »Antworte: heute möchte ich es schon, denn immer geht das nicht.«
Duroy setzte sich sofort hin, zog Laurine auf sein Knie und streifte die zarten, wolligen Haare des Kindes mit den Lippen.
Die Mutter war erstaunt: »Wie, sie ist nicht davongelaufen? Das ist ja sonderbar. Sonst läßt sie sich nur von Frauen küssen. Sie müssen unwiderstehlich sein, Herr Duroy.«
Er wurde rot, antwortete nichts und schaukelte mit einer leichten Bewegung das kleine Mädchen auf den Knien.
Madame Forestier trat zu ihm und stieß einen Ruf des Erstaunens aus: »Schau, ein Wunder, Laurine ist gezähmt.«
Jaques Rival trat mit der Zigarre im Munde heran und Duroy verabschiedete sich, um durch irgendein ungeschicktes Wort den guten Eindruck, den er gemacht hatte, nicht wieder zu zerstören und das begonnene Eroberungswerk in Frage zu stellen.
Er verbeugte sich, drückte leicht die kleinen Frauenhände, die sich ihm entgegenstreckten, und schüttelte kräftig den Herren die Hand. Es fiel ihm dabei auf, daß Jaques Rivals Hand heiß und trocken war und seinen Druck herzlich erwiderte, während die Hand Norbert de Varennes feucht und kalt war und sich kaum fassen ließ. Vater Walters Hand war kühl und weich, ohne Energie und Ausdruck, die Forestiers fett und warm. Sein Freund flüsterte ihm zu:
»Morgen um drei. Vergiß nicht!«
»O nein, sei unbesorgt!«
Als er sich wieder auf der Treppe befand, war seine Freude so groß, daß er am liebsten hinabgelaufen wäre. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal.
Plötzlich erblickte er in dem großen Spiegel des zweiten Stockes einen übereiligen Herrn, der auf ihn zugesprungen kam. Beschämt blieb er stehen, als hätte man ihn auf einer Dummheit ertappt. Dann betrachtete er sich lange Zeit aufs höchste verwundert, daß er wirklich ein so hübscher Kerl war. Freundlich lächelte er sich zu und verabschiedete sich dann von seinem Ebenbild mit einem tiefen, feierlichen Gruß, wie man eine hochgestellte Persönlichkeit grüßt.
III.
Georges Duroy befand sich wieder auf der Straße und überlegte, was er tun sollte. Er hatte Lust zu laufen, zu träumen, immerfort zu gehen, an seine Zukunft zu denken und die milde Nachtluft einzuatmen; doch der Gedanke an die Artikelserie, die Vater Walter bestellt hatte, gab ihm keine Ruhe, und er beschloß, sofort nach Hause zu gehen und sich an die Arbeit zu setzen. Mit eiligen Schritten ging er weiter, erreichte den äußeren Boulevard und gelangte endlich in die Rue Boursault, wo er wohnte. Seine Wohnung befand sich in einem sechsstöckigen Haus, das von etwa zwanzig Arbeiter- und Kleinbürgerfamilien bevölkert war. Er stieg die Treppe hinauf und beleuchtete mit Wachsstreichhölzern die schmutzigen Stufen, auf denen Papierfetzen, Zigarrenstummel und Küchenabfälle herumlagen. Er empfand ein widerwärtiges Gefühl und einen Drang, so rasch als möglich von hier fortzukommen und so zu wohnen, wie es die reichen Leute tun, in sauberen Wohnungen mit schönen Teppichen. Ein schwerer Geruch von Speiseresten, Unrat und unsauberer Menschlichkeit, ein stagnierender Duft von Fett und Mauern, den kein frischer Luftzug vertreiben konnte, erfüllte das Haus von oben bis unten.
Das Zimmer des jungen Mannes lag im fünften Stock und ging wie auf einen tiefen Abgrund, auf den weiten Einschnitt der Westbahn, gerade oberhalb der Tunneleinfahrt, vor dem Bahnhof Batignolles, hinaus. Duroy öffnete das Fenster und lehnte sich auf das verrostete, eiserne Fensterbrett.
Unter ihm glühten in der Tiefe der finsteren Wölbung drei rote, unbewegliche Signallaternen wie große, feurige Raubtieraugen, und weiter, immer weiter, sah er immer noch andere Lichter. Fortwährend gellten lange und kurze Pfiffe durch die Nacht, die einen nahe, die andern kaum hörbar in der Richtung nach Asnieres. Sie klangen wie menschliche, rufende Stimmen. Einer kam näher und näher, sein klagender Ton klang von Sekunde zu Sekunde lauter; plötzlich blitzte ein großes gelbes Licht auf, das lärmend dahinrollte, und Duroy sah die lange Wagenreihe in der Tunnelmündung verschwinden.
Dann sagte er zu sich: »Also an die Arbeit«, und stellte das Licht auf den Tisch. Doch wie er sich hinsetzen wollte, um zu schreiben, bemerkte er erst, daß er nur eine Schachtel Briefpapier hatte.
»Das ist kein Unglück«; er half sich, indem er die Bogen auseinanderfaltete und sie in ihrer ganzen Größe benutzte. Er tauchte die Feder in die Tinte und schrieb mit seiner schönen Handschrift auf den Kopf des ersten Bogens die Worte:
»Erinnerungen eines afrikanischen Jägers.«
Dann suchte er nach dem Anfang des ersten Satzes. Er saß, den Kopf auf die Hände gestützt, die Augen auf das weiße Papier gerichtet, das sich vor ihm ausbreitete. Was sollte er schreiben? Er fand absolut nichts von dem wieder, was er kurz vorher erzählt hatte, keine Anekdote, keine einzige Tatsache, nichts. Plötzlich fiel ihm ein: »Ich muß mit meiner Abreise aus der Heimat beginnen.« Und er schrieb: »Es war ungefähr am 15. Mai des Jahres 1874, als das erschöpfte Frankreich sich von den Schicksalsschlägen der schrecklichen Kriegsjahre erholte.«
Dann stockte er wieder, er wußte nicht, wie er nun das Folgende schildern sollte, seine Einschiffung, die Reise, seine ersten Eindrücke ... Nachdem er zehn Minuten gegrübelt hatte, beschloß er, diesen einleitenden Teil auf den nächsten Morgen zu verschieben und einstweilen mit der Beschreibung von Algier zu beginnen.
Und er schrieb auf sein Papier:
»Algier ist eine ganz weiße Stadt...«, da blieb er wieder stecken. Er sah in Gedanken die hübsche, helle Stadt vor sich, die sich von der Höhe des Gebirges bis zum Meer hinunterzog, wie eine Kaskade von niedrigen Häusern mit flachen Dächern. Aber er fand keinen Ausdruck für das, was er gesehen und empfunden hatte.
Mit vieler Mühe und Anstrengung schrieb er weiter: »Sie ist zum Teil von Arabern bewohnt...« Dann warf er seine Feder auf den Tisch und stand auf. Auf seinem schmalen, eisernen Bett, in das sein Körper ein Loch eingedrückt hatte, sah er seine Werktagskleider herumliegen, schäbig, abgerissen, wie Lumpen aus der Morgue. Auf dem Strohstuhl stand sein Seidenzylinder, der einzige Hut, den er besaß, und schien hilfsbedürftig mit der Öffnung nach oben um ein Almosen zu bitten.
Die graue Tapete mit blauen Blumensträußen hatte ebensoviel Schmutz als Blumen, alte, verdächtig aussehende Flecke unbestimmter Herkunft, totgedrückte Insekten und Ölkleckse, fettige Fingerabdrücke und Seifenschaumspuren, die während des Waschens angespritzt waren. Das alles roch nach dem nacktesten Elend, nach dem Elend eines möblierten Zimmers. Und eine Erbitterung ergriff ihn gegen die Armseligkeit seines bisherigen Lebens. Er sagte sich, daß er sofort schon morgen aus ihr hinaus müßte, um endlich diesem kümmerlichen Dasein ein Ende zu machen.
Plötzlich überkam ihn ein neuer Arbeitseifer, er setzte sich wieder an den Tisch und suchte wieder nach Worten, um den eigenartigen und reizvollen Eindruck von Algier zu schildern, dieses Eingangstor in das geheimnisvolle und tiefe Afrika, in das Land umherstreifender Araber und unbekannter Negerstämme, in das unerforschte und verlockende Afrika, dessen unwahrscheinliche Tierwelt uns bisweilen in den öffentlichen Gärten gezeigt wird; ganz merkwürdige Tiere, wie aus dem Märchenlande: Strauße, Riesenhühner, Gazellen, prächtige Ziegen, groteske Giraffen, schwere, ernste Kamele, ungeheuerliche Nilpferde, plumpe Rhinozerosse und Gorillas, diese abscheulichen Ebenbilder der Menschen.
Unbestimmte Gedanken schweiften in seinem Kopf; er hätte sie vielleicht erzählen können, aber er vermochte sie nicht in geschriebene Sätze zu fassen. Seine Ohnmacht erregte ihn fieberhaft, er sprang wieder auf, seine Hände schwitzten und das Blut hämmerte in den Schläfen.
Seine Blicke fielen auf die Rechnung der Waschfrau, die der Concierge ihm heraufgebracht hatte, und von neuem überfiel ihn eine grenzenlose Verzweiflung. Seine Freude war im Augenblick dahin und mit ihr sein Selbstvertrauen und die Hoffnung auf seine Zukunft. Es war aus — alles aus; er würde es zu nichts bringen und würde nichts werden. Er fühlte sich leer, unfähig, unnütz und verdammt. Er trat an das Fenster und blickte hinunter. Ein Zug kam mit tosendem Lärm aus dem Tunnel heraus, um über Felder und Ebenen nach der Meeresküste zu fahren. Und Erinnerung an seine Eltern erfüllte das Herz Duroys.
Dieser Zug würde nur wenige Meilen von ihrem Hause vorbeifahren. Er sah es wieder, dieses kleine Häuschen am Eingange des Dorfes Canteleu, oben auf dem Abhang, der Rouen und das weite Tal der Seine beherrschte. Sein Vater und seine Mutter hatten eine kleine Schenke, ein Wirtshaus, wo die Einwohner des kleinen Vororts Sonntags zu frühstücken pflegten. Es hieß »Zur schönen Aussicht«. Sie hatten aus ihrem Sohn einen »Herrn« machen wollen und schickten ihn aufs Gymnasium. Nach Beendigung seiner Studienzeit fiel er beim Examen durch und hatte sich zum Militärdienst gemeldet, in der Absicht, Offizier, Oberst, General zu werden. Doch das Soldatenleben hatte ihn nicht befriedigt, und so war er, ehe er seine fünf Jahre Dienstzeit absolviert hatte, nach Paris gegangen, um dort sein Glück zu machen.
So war er hierhergekommen trotz der Bitten seiner Eltern, die ihn, als sie den Fehlschlag ihrer Hoffnungen einsahen, bei sich behalten wollten. Er seinerseits hoffte auf die Zukunft; der Erfolg mußte kommen, er wußte nur nicht wie, aber er würde Mittel und Wege finden, ihn an sich zu reißen.
Schon im Regiment hatte er immer Glück bei Frauen gehabt und hatte in besseren Kreisen ein paar Abenteuer gehabt. Er hatte die Tochter des Steuereinnehmers verführt, die alles im Stich lassen wollte, um ihm zu folgen, und dann die Frau eines Anwalts, die, als er sie verlassen hatte, sich aus Verzweiflung zu ertränken versuchte.
Seine Kameraden nannten ihn einen Schlaukopf, einen Racker, der klug genug sei, sich aus der Klemme zu ziehen, und er hatte sich fest vorgenommen, dieser Kritik Ehre zu machen.
Sein angeborenes, normannisches Gewissen war durch die tägliche Praxis des Soldatenlebens, durch die Beispiele von Räubereien in Afrika, von unerlaubtem Mißbrauch, von bedenklichen Prellereien abgestumpft und elastisch geworden; außerdem war er überreizt von den in der Armee geltenden Ehrbegriffen, von den quasi heroischen Taten, von denen die Unteroffiziere unter sich zu erzählen wissen und von dem ganzen Ruhmesglanz des Soldatenlebens, so daß sein Gewissen zu einer Art Kiste mit dreifachem Boden wurde, wo alles mögliche zu finden war.
Doch der Drang, Karriere zu machen, beherrschte alles andere.
Ohne dessen bewußt zu sein, war er wieder in Träumereien versunken, wie das allabendlich geschah. Er träumte von einem Liebesabenteuer, das ihm mit einem Schlage die Erfüllung aller seiner Hoffnungen bringen sollte. Er würde die Tochter eines Bankiers oder eines vornehmen großen Herrn heiraten, nachdem er sie auf der Straße getroffen und auf den ersten Blick erobert hätte.
Der schneidende Pfiff einer einzelnen Lokomotive, die ganz allein, wie ein großes Kaninchen aus seinem Bau, aus dem Tunnel hervorkam und mit vollem Dampf über die Schienen nach dem Maschinenschuppen lief, erweckte ihn aus seinen Träumen. Die etwas verwirrten Gedanken an diese frohen Hoffnungen, die sein ganzes Innere erfüllten, hatten ihn erfrischt, und er warf einen Kuß in die Nacht hinaus, einen Liebesgruß an das Bild der ersehnten Frau, einen Kuß des Verlangens nach dem Glück, das er begehrte. Dann schloß er das Fenster und begann sich auszukleiden, wobei er murmelte: »Ach was, morgen früh werde ich besser aufgelegt sein. Heute abend ist mein Kopf zu schwer, vielleicht habe ich auch ein bißchen zuviel getrunken. Unter solchen Bedingungen kann man nicht gut arbeiten.« Er legte sich zu Bett, blies die Lampe aus und schlief fast unmittelbar danach ein.
Er wachte frühzeitig auf, wie man an Tagen lebhafter Hoffnungen oder großer Sorgen aufwacht, sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster, um einen Schluck frischer Luft zu nehmen, wie er zu sagen pflegte.
Die Häuser in der Rue de Rome gerade gegenüber, jenseits des breiten Eisenbahndammes, leuchteten im hellen Schein der Morgensonne, als wären sie mit Licht weiß gemalt. Rechts in der Ferne sah er den Hügel von Argenteuil, die Höhen von Sannois und die Mühlen von Orgemont in leichtem, bläulichem Dunste, wie hinter einem dünnen, durchsichtigen Schleier, der auf den Horizont geworfen war.
Ein paar Minuten blieb Duroy in der Betrachtung der weiten Landschaft versunken und murmelte: »Es wäre doch verdammt schön da draußen an einem solchen Tag wie diesem.« Dann fiel ihm ein, daß er arbeiten müßte, und zwar sofort, und daß er für zehn Sous den Jungen des Concierge zu seinem Bureau schicken müßte, um sich krank zu melden. Er setzte sich an den Tisch, tauchte die Feder in das Tintenfaß, stützte den Kopf mit der Hand und suchte nach Einfällen. Alles vergebens. Nichts fiel ihm ein.
Trotzdem verlor er nicht den Mut. Er dachte: »Es ist nicht so schlimm, ich bin eben nicht daran gewöhnt. Das ist ein Handwerk, das man wie jedes andere lernen muß. Die ersten paarmal muß ich mir helfen lassen. Ich werde Forestier aufsuchen, und er macht mir meinen Artikel in zehn Minuten zurecht.





