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Seit der Lungenentzündung hält mich eine bleierne Müdigkeit gefangen. Ich komme abends erst spät zum Schlafen. Mein Bett steht in der Stube, und da ist häufig noch lange Betrieb, der mich vom Schlafen abhält. Hedi und Walter kommen vom Orchester heim und spielen gleich noch ein bisschen weiter, Klavier und Geige. Ich stelle mich schlafend, damit sie nicht aufhören, ich mag es, wenn sie spielen. Aber am Morgen liegt die Müdigkeit zentnerschwer auf mir.
Die Bucherin weckt mich und ärgert sich, dass ich liegenbleibe. «Kommst zu spät in die Schule!» schimpft sie. Ich mag einfach nicht aus der warmen Höhle kriechen, meine Glieder, mein Kopf, alles ist so schwer. Da zerrt sie mich kurzerhand aus dem Bett – «Dich kriege ich schon wach!» –, setzt mich in die Badewanne und lässt das eiskalte Wasser über mich einlaufen. Mir bleibt die Luft weg, ich kann nicht einmal schreien. Zum Glück ist Walter auf das Schimpfen der Mutter aufmerksam geworden und kommt ins Badezimmer gelaufen.
«Um Gottes willen, Mutter, du bringst das Kind ja um!»
Er reisst mich aus dem Wasser und wickelt mich in ein Tuch. Was nachher geschehen ist, weiss ich nicht mehr. Die Folge ist – wieder eine doppelte Lungenentzündung.
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Im Frühling wird aller Hausrat auf die Strasse hinaus gestellt, wir ziehen wieder einmal um, in die Stadt, an die Denzlerstrasse. Mitten zwischen den Möbeln und Kisten entdecke ich meinen heissgeliebten Puppenwagen. Ich habe oft und oft danach gefragt. «Was brauchst du den!» hat die Bucherin bloss gebrummt. Also ist er doch noch da, und sie hat ihn mir das ganze Jahr einfach nicht gegeben! Mich packt die helle Wut. Dann will ich ihn jetzt auch nicht mehr! Ich hole ihn zwischen den Kisten hervor und schiebe ihn in die Nachbarsgasse. Dort biete ich ihn einer Frau mit zwei Mädchen an:
«Wollen Sie diesen Puppenwagen? Ich will ihn nicht mehr.»
«Ja meinst du? Wart, ich gebe dir etwas.» Sie verschwindet im Haus, und als sie wieder herauskommt, sind wir handelseinig: Ich verkaufe meinen Puppenwagen für fünfzig Rappen und ein Konfibrot.
Mit dem Umzug wechsle ich auch die Schule. Ich komme in eine bestehende Klasse im Ämtlerschulhaus und muss mich als «Spätling « in die hinterste Bank setzen, vorne ist kein Platz frei. Die Lehrerin ist eine gestrenge Frau. Nun soll ich schreiben.
«Was schreiben?»
«Dort ist das Tintenfass und der Federhalter, schreib!»
«Ich weiss nicht, wie man das macht.» Ich habe bisher nur auf die Schiefertafel geschrieben. Sie wird ungeduldig.
«Jetzt schreib schon!» fährt sie mich an.
Ich suche tastend das Tintenfass, tauche die Feder ein – und habe schon den ersten Tolggen auf der Bank. Wie die Frau schimpfen kann! Merkt sie denn nicht, dass ich fast nichts sehe? Sie trägt doch selbst eine Brille. Doch, sie merkt es und verklagt mich prompt beim Schularzt. Es ist ein schlimmer Fehler, wenn man nicht gut sieht!
An einem Nachmittag werde ich zum Schularzt befohlen. Der ist ein barscher Mann, ich kann es ihm nicht recht machen.
«Stell dich da hinten an die Wand, was hat es vorn auf dieser Tafel?»
Ich schüttle den Kopf:
«Nichts.»
Ich sehe ja kaum zwei Meter weit. Menschen, die weiter entfernt sind, kann ich nur an ihren Bewegungen erkennen. Er will mir nicht glauben, schüttelt mich:
«Was steht da vorn auf der Tafel?»
«Wenn ich doch sage, dass ich es nicht sehe!»
«Wie, du gehst zur Schule und siehst nichts? Das geht doch nicht!» wettert er und schickt mich nach Hause.
Ich weine auf dem ganzen Heimweg vor mich hin. Was habe ich bloss falsch gemacht? Was kann ich dafür, dass ich nicht sehe?
Ich werde in eine Sonderschule umgeteilt, dort sind Schwerhörige, Schwachsichtige, vielleicht auch Schwachbegabte, ich weiss das nicht so genau. «Schwachsinnige», erzählt meine Mutter in der Verwandtschaft herum! Die Sonderschule ist im selben Schulhaus untergebracht wie meine bisherige Klasse. Die Lehrerin, Fräulein Otter, gewinnt sofort mein Herz. Sie erzählt uns das «Heidi» und singt mit uns «Da höch uf den Alpe». Wie ich das Heidi liebe! Ich bin doch auch so verlassen in der Welt, wenn ich nur einen Alpöhi hätte, der mich auf starken Armen auf die Alp trüge! Bei Fräulein Otter gehöre ich zu den Klassenbesten. Rechnen – das kann ich! Das habe ich bei Lehrer Binz gelernt.
Die Lehrerin sorgt dafür, dass mich endlich der Augenarzt, der vom Schularztamt für Kinder mit Augenproblemen beigezogen wird, untersucht. Er verschreibt mir eine Brille, und Fräulein Otter kommt selbst an einem Samstagnachmittag mit mir zum Optiker, dort wird mir die Brille angepasst. Ich darf das kostbare Stück nach Hause nehmen.
«Oh, dazu musst du Sorge tragen!» sagt die Bucherin und nimmt mir die Brille ab. Sie legt sie, damit ihr nichts passiere, ins Körbchen zuoberst auf dem Sekretär.
Da stehe ich nun ohne Brille und brenne darauf, endlich zu wissen, wie die Welt durch die Zaubergläser aussieht. Hat nicht Fräulein Otter gesagt, ich solle sie schon ein wenig tragen und am Montag in die Schule mitbringen? So steige ich am Sonntag heimlich auf einen Stuhl und angle das Körbchen vom Sekretär herunter. Ehrfürchtig bestaune ich das Wunderwerk. Es ist ein Nickelgestell, die Gläser sind sehr dick, und zwar am Rand dicker als in der Mitte. «Gebrochene Linsen» nennt man das, habe ich später gelernt. Das rechte Glas ist stärker als das linke. Und was kann man nun alles sehen?
In der Wohnung will ich nicht bleiben, da hätte mir die Bucherin die Brille gleich wieder abgenommen, also schleiche ich mich nach draussen. Das gibt ein Hallo unter den Kindern!
«Das Trudi hat eine Brille!»
«Brillenschaaggi, Brillenschaaggi!»
«Komm, zeig, ich will sie auch mal probieren!»
«Nein, pass auf, sonst geht sie kaputt!»
Ein Bub reisst sie mir von der Nase, um sie sich selber aufzusetzen, ein anderer will sie ihm wegnehmen, er lässt sie fallen, und in dem Gerangel tritt jemand drauf. Wie ich sie aufhebe, sind die Gläser zerbrochen und das Gestell verbogen. Ich wickle sie in ein Taschentuch und lege sie in die Schultasche. Ach, wenn ich am Montag nur nicht zur Schule müsste! Wenn ich doch sterben könnte!
«Trudeli, hast du deine Brille vergessen?» fragt die Lehrerin. Statt einer Antwort breche ich in Tränen aus.
«Komm schon, komm, erzähl mir, was ist passiert?» beschwichtigt sie.
Die andern Kinder kommen mir zu Hilfe und berichten, was vorgefallen ist. Fräulein Otter bringt dann die Brille eigenhändig zum Optiker und lässt auf ihre Kosten eine neue anfertigen. Sie sorgt dafür, dass ich sie ungestört tragen kann. Ich fühle mich zu Beginn recht unsicher, ich habe immerzu das Gefühl, der Boden senke sich vor meinen Füssen weg, der lange Schulhausgang sieht aus wie eine Rampe, und ich fürchte, ins Leere zu treten. Nach einigen Tagen gewöhne ich mich daran, und auch die andern Kinder vergessen, dass ich eine Brille trage. Sie verbessert meine Sehfähigkeit merklich, vor allem auf die Nähe. Von der vordersten Bank aus kann ich jetzt immerhin einigermassen erkennen, was auf der Wandtafel steht.
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An der Denzlerstrasse wohnen viele Kinder, sie holen mich oft zum Spielen. Einmal kommen sie ganz aufgeregt:
«Komm, das musst du sehen!»
Sie nehmen mich in ihre Mitte und erzählen mir den schrecklichen Vorfall:
«Ein grosser Bub hat einen Stein nach einem Kätzchen geworfen …»
«… es ist umgefallen. Vielleicht ist es tot?»
«… dann ist er hingegangen und hat ihm die Äuglein ausgestochen!»
Da liegt es. Ich knie nieder und beuge mich ganz nah darüber, streichle es. Das schöne Tigerkätzchen! Ja, es ist tot. Und das Äuglein …, es hängt an der Sehne in der Augenhöhle, blutverschmiert.
«Sieh mal, da ist ja noch der Draht!»
Ja, ich spüre ihn. Mich schüttelt es vor Ekel, Grauen und Empörung. Die andern Kinder sind jünger als ich, sie erwarten, dass ich etwas unternehme.
«Das müssen wir dem Polizist sagen», erkläre ich, «um drei Uhr kommt er immer hier vorbei.»
Wir stellen uns an den Gartenzaun und warten und bereden miteinander wieder und wieder das grauenvolle Ereignis. Wer kann bloss so etwas tun? Und warum?
Da, der Polizist! Die Kinder schieben mich vor.
«Kommen Sie, Mann», spreche ich ihn mutig an und erzähle ihm die ganze Geschichte.
«Was, was, was», brummt er ungläubig, folgt uns aber dann und besieht sich die schreckliche Tat.
«Wisst ihr, wem das Kätzchen gehört hat?» Niemand weiss es.
«Dann geht in der Nachbarschaft nachfragen, ob jemand ein Tigerli vermisst.»
Ich muss mir das Tierchen beschreiben lassen, so genau kann ich es ja nicht sehen. Zufälligerweise bin ich dann diejenige, die die Besitzerin ausfindig macht und ihr die Hiobsbotschaft überbringt. Das Bild des toten Kätzchens verfolgt mich bis heute.
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Meine Mutter hat alle zwei Wochen den Sonntagnachmittag frei, dann kommt sie mich bei Buchers abholen. An den andern Sonntagen kommt manchmal Onkel Fritz. Wir gehen miteinander ins Bethanienheim hinauf zur Mutter. Manchmal gehen wir auch nur zu zweit spazieren, kehren irgendwo ein, und der Onkel bestellt mir ein Glas Sirup.
Onkel Fritz ist mein Lieblingsonkel, er ist Buchprüfer und wohnt, noch ledig, in Zürich. Er ist immer zu Spässen aufgelegt und weiss viel zu erzählen, von der Grossmutter, von der Mutter und den Geschwistern. Eigentlich ist es mir genauso lieb, nur mit dem Onkel irgendwohin zu fahren statt zur Mutter. Oder fast noch ein bisschen lieber. Die Mutter hat immer so viel zu jammern und zu kritisieren. Sie macht auch Spässe, aber andere, so in der Art von: «Schau, da kommt ja die Tante Rosa», und ich freue mich, gehe auf sie zu, und dann ist es eine wildfremde Person, und ich schäme mich. Die Mutter findet das lustig.
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An Ostern 1924, ich bin knapp acht Jahre alt, gibt es ein grosses Familientreffen in Bern, einzigartig in unserer Familiengeschichte. Mir prägt sich dieses Ereignis tief ein, ist es doch das erste Mal, dass ich mich inmitten einer grossen Familie vorfinde und dazugehöre. Manche dieser Verwandten treffe ich zum ersten Mal in meinem Leben.
Das Fest beginnt sehr aufregend für mich. Onkel Fritz steht nämlich am Karsamstag um drei Uhr bei Buchers vor der Tür, aber die Bucherin hat versäumt, mich bereitzumachen, und ich weiss von nichts. Waschen, das Sonntagsröckchen anziehen, das Nachthemd einpacken … das muss nun alles in Windeseile gehen, ausserdem hat Onkel Fritz in der Bäckerei einen grossen Biskuit-Osterhasen für die Grossmutter bestellt, den er noch vor der Abfahrt abholen muss. Onkel Fritz zerrt mir, immer vor sich hin schimpfend, das Kleid über den Kopf und knöpft mir die Pelerine zu. Dann klemmt er mich sozusagen unter den Arm und eilt zuerst in die Bäckerei und dann zum Bahnhof, wo die Mutter auf uns wartet. Mit knapper Not erreichen wir den Zug.
In Bern treffen wir uns mit einigen Verwandten, die ebenfalls von Zürich hergereist sind, in einem Café. Es gibt etwas zu trinken, und ein Mann spielt die Handharmonika. Der übermütige Onkel Fritz packt mich und tanzt mit mir herum. Ach, tut das gut, von starken Armen herumgewirbelt zu werden, ohne Furcht, gleich wieder schmerzhaft an ein Hindernis zu stossen! Ausgelassen herumtoben und lachen, lachen! Ich bin wie berauscht von so viel Menschen, so viel Aufmerksamkeit. Aber zwei der Frauen erheben Einspruch, Tante Vreni, die ängstliche, befürchtet, es könne mir schwindlig werden (und wenn schon!), und die Mutter schimpft, das schicke sich nicht, dass der Fritz mich tanzen lehre. Der Onkel hört nicht auf sie, aber mir ist der Spass verdorben. Warum muss sie mir jedes Vergnügen schlecht machen?
Dann kommt uns Tante Rosa abholen. Die Mutter und ich sollen bei ihr und Onkel Konrad in Bümpliz übernachten. Da gibt es noch ein Lili, eine Cousine, ein Jahr älter als ich, von der haben sie mir erzählt. Wir sind schon da, als Lili vom Einkaufen heimkommt. Es bleibt auf der Türschwelle stehen und mustert mich aus kritischer Distanz. Die Erwachsenen stehen um uns herum, gespannt, wie wir zwei aufeinander zugehen werden. Ich halte es nicht mehr aus. «Saliii!» rufe ich laut, laufe auf Lili zu und umarme es. Die Erwachsenen lachen schallend. Lili weicht geniert zurück.
«Zeig dem Trudi deine Sachen», sagt Tante Rosa und gibt uns damit die Möglichkeit, den Erwachsenen zu entrinnen. Lili führt mir seine grosse Puppenstube vor.
«Das hat mein Vati alles selbst gemacht», erklärt es stolz.
Wunderbare Sachen gibt es da, es juckt mich in den Fingern, damit zu spielen. Aber berühren darf ich nichts. Als könnten die Sachen schon vom blossen Anschauen kaputt gehen. Die mag mich auch nicht, weil ich schiele, denke ich.
«Ja, der hat halt Zeit», brummt die Mutter, als ich ihr später von Onkel Konrads Wunderwerk schwärme, «der ist arbeitslos und findet keine Stelle, weil er Kommunist ist.» Was ist ein Kommunist? Ich möchte auch einen Vater haben, der Kommunist ist und Zeit hat zum Puppenstuben-Basteln.
Ich schlafe bei Lili im Bett. Mutter hat mich ermahnt, mein Nachtgebet nicht zu vergessen, und so singe ich ebenso innig wie falsch «I ghöre-n-es Glöggli». Lili hält sich die Ohren zu.
Am Ostersonntag fahren wir mit der Bremgartenbahn wieder in die Stadt hinein. Hier treffen wir einige Verwandte, Tante Ida und Onkel Adolf mit seinem schwäbischen Dialekt. Das klingt lustig, aber man muss genau hinhören, um ihn zu verstehen. Gemeinsam bummeln wir durch die Laubengänge und kommen zum Zytgloggeturm. Alle warten gespannt auf den Glockenschlag und das Spiel der Figuren.
«Siehste da oben? Siehste?» spricht Onkel Adolf auf mich ein, «du musst nauf schaue, siehste nich?»
«Lass sie doch in Ruhe», wehrt Tante Ida, «sie kann das doch nicht sehen.»
«Ach was, warum denn nicht?»
«Weil sie doch fast blind ist.»
Da beginnt er laut zu jammern und kann es nicht fassen. Er hat mich auch später immer gut gemocht und Mitleid mit mir gehabt.
Zum Mittagessen treffen wir uns in einem Saal mit Bühne. Ich staune, wer da alles zusammenkommt, manche Namen kenne ich erst vom Erzählen, von der Mutter oder Onkel Fritz. Meine Mutter hat fünf Brüder – der älteste ist gestorben – und vier Schwestern. Die meisten sind verheiratet. Onkel Alfred und Tante Fanny sind da, Tante Ida mit Onkel Adolf, Tante Vreni und Tante Sophie, die Grossmutter natürlich und der junge Onkel Ernst, Tante Rosa mit Onkel Konrad und Lili, Onkel Ruedi. Sie sind allesamt kleingewachsen, die Mosimannen, die meisten von Mutters Brüdern konnten keinen Militärdienst leisten, weil sie das Mindestmass von 156 cm nicht erreichten, nur der älteste, der Hans, und der starb 1918 im Aktivdienst an der Grippe.
Wir sind vier Kinder, das Lili und ich und die beiden Buben von Onkel Ruedi, die rennen im Saal und auf der Bühne herum, ist das ein Leben! Sie tragen Matrosenanzüge, die will ich mir ansehen, ich hätte zu gerne gewusst, was ein Matrose ist. Aber die Buben sind ständig in Bewegung, und ich halte immer am falschen Ort Ausschau nach ihnen.
Onkel Ernst hat jedem Kind etwas mitgebracht, nämlich einen Scherenschleifer, ein eisernes Männchen mit einem Hut und einem Messer in der Hand, das auf einem Brettchen steht. Daran ist ein Schleifstein befestigt, den kann man aufziehen und die Messer daran schleifen, dass die Funken sprühen. Das gefällt mir, ich mag so Bubenzeug gern.
Am Ostermontag ist ein Teil der Verwandten bereits abgereist. Wir anderen wandern miteinander die Taubenlochschlucht bei Biel hinauf, Grossmutter und Mutter sind dabei und Onkel Fritz, Tante Vreni, Tante Fanny mit Onkel Alfred, Onkel Liebi und der lustige Onkel Ernst. Es ist ein schmaler Fussweg, damals noch ohne Geländer, und die Schlucht an einigen Stellen eng und tief. Ich gehe mit Onkel Ernst voraus.
«Pass auf das Trudi auf!» rufen die andern von hinten, während er seine Spässe mit mir treibt.
Es juckt ihn, die ängstlichen Gemüter hinter uns ein wenig in Aufregung zu versetzen. Ich fühle mich vollkommen in Sicherheit bei ihm. Es ist regnerisch, ich trage eine Pelerine mit Kapuze, da legt er seine silberbeschlagene Tabakdose hinein.
«So, nun bist du mein Lasteselchen.»
Nimmt er sie heimlich wieder heraus, so spüre ich, dass das Gewicht nicht mehr da ist, und fürchte, jemand könnte sie gestohlen haben.
Oben, im Restaurant beim Eingang der Schlucht kehren wir ein, ich bekomme Sirup und Guetzli, das schmeckt so süss wie das Lachen und die Spässe von Onkel Ernst und das Funkeln in den Augen der Erwachsenen.
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Im Sommer 1924 liegen Veränderungen in der Luft. Die Bucherin wird immer verluderter und lässt den Haushalt schlittern. Walter hat eine Lehre begonnen und ist ausgezogen. Er wohnt jetzt bei seinem Onkel. Für mich ist die Hauptsache, dass Hedi noch da ist, aber wie lange? Es soll auch bald eine Lehre beginnen.
Einmal kommt das Fräulein Boller von der Vormundschaft mit einer Tante Rosa, nicht Mutters Schwester, auf Besuch. Die Bucherin beklagt sich lauthals über mich, was ich für ein unzuverlässiges, unordentliches Kind sei, wie ich dauernd die Haarspängeli verlöre – sie hat mir deswegen die Haare kurz schneiden lassen –, und überhaupt, ich sei immer auf der Strasse. Ich werde nicht gefragt, kann mich nicht rechtfertigen und weiss auch nicht, was der Besuch zu bedeuten hat.
Erst später habe ich es von meiner Mutter erfahren: Die Tante Rosa war Mutters Jugendfreundin und die Schwester meines Vaters, also eine echte Tante. Sie hatte anerboten, mich zu sich nach Biel zu nehmen. Meine Mutter hegte den Verdacht, dass sie mich als billiges Kindermädchen für ihre zwei kleinen Kinder benützen wollte, sah es wohl auch nicht gern, dass ich so fern von ihr und so nahe beim Vater leben würde. So kam ihr die Klage der Bucherin gelegen, man konnte mich als verwahrlostes Kind bei der Rosa unbeliebt machen.
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Es stimmt, dass ich viel auf der Strasse bin. Die Bucherin kümmert sich wenig um mich, sie schickt mich oft mit einer Scheibe Brot und ein paar Stück Zucker hinaus, und ich treibe mich gern mit den Kindern herum. Einmal spielen wir in einem der dunklen Hausdurchgänge das Dökterlispiel, da erwischt sie uns und macht ein Riesenlamento daraus. Ich weiss nicht, warum sie nachher mit mir den Arzt aufsucht, vielleicht hat sie ein schlechtes Gewissen und versucht es auf mich abzuwälzen, indem sie mich verklagt. Es ist der Vertrauensarzt der Vormundschaftsbehörde, er hat dort im Amt ein Sprechzimmer, ein freundlicher, väterlicher Mann, der mich von klein auf kennt. Der stellt der Bucherin unangenehme Fragen. Wie es komme, dass ich mich so viel auf der Gasse herumtreibe, wenn ich doch so wenig sähe, ob denn niemand zu mir schaue?
«Momoll, das Hedi», mische ich mich ein.
Ich habe aufgeschnappt, dass er gesagt hat, es sei wohl besser, wenn ich von Buchers wegkäme.
«Ich will beim Hedi bleiben.»
Dann wolle er dieses Hedi auch einmal sehen, sagt er, ich solle das nächste Mal mit dem Hedi kommen.
Das passt der Bucherin gar nicht. An dem Tag, da wir beide, Hedi und ich, uns für den Arztbesuch bereit machen, tobt sie vor Eifersucht und schlägt mit dem Handtuch auf Hedi ein. Ich kann es nie ertragen, wenn die Bucherin mein Hedi schlägt, ich schreie und zerre an ihr herum:
«Du darfst Hedi nicht schlagen!» Hedi nimmt mich an der Hand und beschwichtigt mich:
«Sei nur still, wir gehen jetzt.»
Der Arzt sieht, wie fürsorglich das Hedi mit mir umgeht, und erfährt von ihm auch allerlei über die Familienumstände und die Krankheit der Mutter. Hedi hat im Sinn, im kommenden Frühling eine Schneiderinnenlehre zu beginnen und dann mit dem Zwillingsbruder zusammen beim Onkel zu wohnen.
«Geh aber nicht weg von zu Hause, ohne es uns zu sagen», bittet der Arzt.
Er veranlasst, dass auf der Vormundschaft ein anderer Pflegeplatz für mich gesucht wird, und so komme ich im Herbst 1924 nach Freienstein. Ein halbes Jahr später stirbt die Bucherin in der psychiatrischen Klinik Burghölzli, wo sie ihre letzten Monate verbracht hat.
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