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Marc Degens

»Man ist, was man verschweigt.«
@denkkerker
Um neunzehn Uhr sind Herr Rutschky und ich in der »Bar Centrale« in der Yorckstraße in Berlin verabredet. Ich bin schon ein paar Minuten früher am verabredeten Ort, vor der Bierkneipe nebenan sitzt mein früherer Agenturkollege Kristof Magnusson an einem Tisch vor einem Haufen Notizen und schreibt. Wir unterhalten uns kurz, dann sehe ich auch schon Herrn Rutschky um die Ecke kommen und verabschiede mich von Kristof. Ich begrüße Herrn Rutschky, und wir beide setzen uns in das vornehme italienische Restaurant, in dem wir uns schon Ende der neunziger Jahre, noch bevor ich nach Berlin gezogen war, regelmäßig getroffen hatten. Das Treffen ist sehr schön. Er trinkt Weißwein, ich Bier. Wir unterhalten uns über Toronto und das Leben in Kanada, dann endlich kommen wir auch auf seine Krebserkrankung zu sprechen. Herr Rutschky hat keine Haare mehr auf dem Kopf und bereits sechs Chemotherapien hinter sich. Seine prognostizierte Lebenserwartung betrage noch vier Jahre. Dann sei er fast achtzig, erzählt er mir, das reiche, irgendwann müsse auch mal Schluss sein. Ich nicke stumm. Anschließend sprechen wir über unsere Arbeit. Ich erzähle ihm von meinem neuen Romanprojekt, er wiederum berichtet von seinem nächsten Tagebuchband, der die Wendejahre bis 1992 darstellt. Ich frage ihn, ob er es jemals bereut habe, dass er keine Kinder hat. Herr Rutschky schüttelt den Kopf und sagt, er habe ja mich und die anderen jungen Menschen, zu denen er immer den Kontakt gesucht habe. Ich freue mich über diese Antwort. Zum Schluss lädt er mich ein, wie früher so oft, und sagt, wie charmant er den Abend fand. Wir sehen uns wieder, erklärt er zum Abschied zweimal. Ich hoffe, dass das stimmt, und freue mich bereits auf das Wiedersehen. Drei Tage später fliege ich zurück nach Kanada.
Im September bestelle ich mir sein gerade erschienenes zweites Tagebuch In die neue Zeit und lasse es mir nach Toronto schicken. Ein halbes Jahr später, als ich gerade dabei bin, eine E-Mail an Kathrin Passig zu schreiben, erhalte ich die Nachricht, dass Herr Rutschky in der Nacht gestorben sei. Ich fange an zu weinen. Dann ziehe ich seine Bücher aus dem Regal, breite sie auf dem Boden aus, fotografiere sie und veröffentliche das Foto auf Instagram, Twitter und Facebook.
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