- -
- 100%
- +
Noch eine andere Seite in der geschichtlichen Stellung des gotischen Stils, die wir hier freilich nur ganz eilig streifen können, verlangt gewürdigt zu werden. Sie bedeutet ein sehr merkwürdiges Kapitel in der Geschichte der menschlichen Arbeit. Wir wissen, wie sehr den nordischen Völkern der Steinbau ursprünglich etwas Fremdes und Mühsames war. Bis zum Jahr 1100 bleibt der Mauerbau schlecht gefugt, die Meißelführung ungelenk. Von dann ab ist der Fortschritt rapid, mit unverkennbarer Überlegenheit der Romanen. Der gotische Stil ist recht eigentlich ein Triumph der Arbeit, und er stellt seinen Sieg über die Materie mit heller Freude ins Licht. Kann man in runder Summe sagen, dass ein gotischer Bau im Vergleich zu einem gleich großen romanischen dreimal weniger Material braucht, so erfordert er das Zehnfache an Arbeit. Der gotische Stil wurde nur möglich durch einen großen Umschwung aller gewerblichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Die Entstehung des gotischen Stils fällt zusammen mit den Anfängen der Geldwirtschaft. An die Energie, mit der die neuen, nach modernem Maßstab noch immer sehr unvollkommenen Hilfsmitteln ausgenutzt wurden, kann nicht ohne größte Bewunderung gedacht werden.
Der gotische Stil zeigt sich vom romanischen durch einen tieferen Einschnitt nur dort getrennt, wo er als ein fremder eindrang. Im Land seines Ursprungs, in Nordfrankreich, ging er in fließendem Übergang aus den älteren Zuständen hervor. Die Schule der Isle de France war länger als irgendeine andere im Frankenreich dem Wölbungsproblem ausgewichen; frühestens um 1100 hatte sie, in noch rein romanischen Formen, mit ihren ersten Versuchen begonnen, und schon 1140 erstand der Bau, der den Ruhm genießt, der Erstgeborene des gotischen Stils zu sein, die Abteikirche St. Denis. Nebenher hatte auch in mehreren Nachbarschulen der gotische Kerngedanke, d. i. das Kranzrippengewölbe, zu keimen begonnen, in der Normandie, im Anjou, in Nordburgund. Entscheidend war doch, dass die franko-picardische, dank einer eben jetzt einsetzenden, ungemein regsamen Bautätigkeit, sich an die Spitze stellen konnte. Überall sonst war eine gewisse Sättigung eingetreten durch die großartigen Leistungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts: hier im Norden war noch alles nachzuholen. Die Erfahrungen der älteren Schulen hatte man zur Verfügung, man hatte frische Kräfte und freie Bahn. Die Schnelligkeit, mit der das neue System sich entfaltete, mit der der Gedankenprozess sofort in Taten sich umsetzte, stellt das Werden des gotischen Stils in stärksten Gegensatz zu dem trägen Zeitmaß der früheren Jahrhunderte. In wenig mehr als 100 Jahren sind alle Stadien bis zur Vollendung durchlaufen. In dieser Zeit wurden sämtliche Kathedralkirchen Nordfrankreichs (deren Zahl etwa dreimal so groß ist als die aller deutschen Dome zusammengenommen) neu gebaut. Nur diese ungeheure Betriebsamkeit in dichter räumlicher Nähe erklärt die rapide Abwicklung, die durch keine Nebengedanken sich ablenken ließ, die mit unaufhaltsamer Konsequenz die vorgezeichnete Linie bis zum Ziel verfolgte. Angenommen, es hätte gleich zu Anfang das ganze System in einem einzigen Kopf fertig dagelegen, während es doch die stufenweise sich aufbauende Leistung vieler ist, es hätte nicht prompter und nicht einheitlicher in die Erscheinung treten können.
Um den Weg von den ersten klargedachten Äußerungen bis zum Gipfel zurückzulegen, braucht der gotische Stil, wie gesagt, wenig mehr als 100 Jahre. Der jenseits des Gipfels liegende zweite Teil ist dreimal so lang. Jeder dieser Hauptabschnitte kann noch einmal durch zwei geteilt werden, wodurch wir folgende vier Phasen erhalten: Frühzeit 1140 bis 1200; klassische Vollendung 1200 bis 1270; doktrinäres Beharren 1270 bis 1400; Auflösung und letzte Verteidigung gegen neue Kräfte 1400 bis 1550. Die letzte Phase liegt, weltgeschichtlich betrachtet, schon nicht mehr im Rahmen des Mittelalters.
Beginnen wir die Schilderung der Frühgotik mit dem Grundriss, wie üblich, so zeigt sich, dass die neuen Bestrebungen mit diesem sich noch nicht beschäftigten; er bleibt schwankend; auffallend oft wird die auf dem Weg über die südlichen Niederlande aus Köln eingewanderte Kleeblattanlage gewählt; reiche, noch ganz romanisch gedachte Turmgruppierung bleibt beliebt. Das Spezifische ist das System des Aufbaus. Das Prinzip der Zerlegung ist vollständig durchgeführt, aber insofern doch mit Vorsicht, als die Intervalle sowohl in waagerechter als in senkrechter Richtung kurz genommen werden, d. h. die Pfeiler (sie sind rund gestaltet) stehen dicht, und der Aufbau ist in vier Glieder geteilt: Erdgeschossarkaden, Empore, Triforium, Lichtgaden. Den vertikalen Linienzug durchschneidet somit wiederholt ein horizontaler. Die Einzelbildung ist kräftig, der romanischen noch geistig verwandt. Beispiele: die Kathedralen von Paris, Sens, Noyon, Laon.
Der klassische Stil vereinfacht. Das Emporengeschoss wird ausgeschaltet, der Aufbau auf den Dreiklang gestimmt. Zugleich steigern sich die Höhenmaße sowohl relativ als absolut. Es kommen die ganz großen Fenster und in ihnen die Maßwerkgliederungen auf. Das Strebesystem erhält unumwunden die Herrschaft über die Außenansicht. Der Grundriss gewinnt eine Normalgestalt von großer Konzinnität: dreischiffiges Querhaus, fünfschiffiger Chor mit Umgang und Kapellenkranz, fast eine Kirche für sich, glänzender, perspektivischer Reize voll. Dagegen Reduzierung der Türme auf die zwei an der Fassade. Am großartigsten und reinsten ist das Ideal in den drei Musterkathedralen von Chartres (seit 1195), Reims (seit 1210), Amiens (seit 1218) ausgesprochen. Eine interessante, aber keine Nachfolge findende Variation in den Kathedralen von Bourges und le Mans. Am weitesten vorgeschritten, mit schärfster Zuspitzung des Gedankens, schon etwas spitzfindig und etwas virtuosenhaft in den Querschiffsfassaden der Notre-Dame in Paris und im Chor der Kathedrale von Paris.
Die dritte Epoche bringt die Resultate der zweiten in schulmäßig anwendbare Regeln, die, mit gelehrtem Hochmut zur Schau gestellt, über den wirklichen Zweck hinausgetrieben werden. Es ist mehr Verstandesarbeit als Phantasieschöpfung. Die Bautätigkeit ist auch quantitativ im Rückgang. Erst in dieser Epoche werden die Provinzen des Südens und des äußersten Westens für die Gotik gewonnen.
Betrachten wir die Ausbreitung über das übrige Europa. Nicht zu vergessen ist hierbei, dass dem Sieg der Gotik ein merkwürdiges Oszillieren der Entwicklungstendenz vorausgegangen war. In Toskana und Unteritalien, wie in der Provence und in Burgund, doch auch in einigen Gegenden Deutschlands, hatten sich die Blicke der Antike zugewendet, war eine Protorenaissancebewegung in Gang gekommen. Dass sie zurückgedrängt wurde, hat sehr komplizierte Ursachen. Jedenfalls beruhte der Sieg der Gotik nicht auf ihren künstlerischen Eigenschaften allein, er hängt zusammen mit dem Übergewicht, das damals auch auf vielen anderen Gebieten die französische Kultur sich errang.
Es ist sicher, dass der Übergang vom romanischen zum gotischen Stil nirgends spontan eingetreten ist, überall nur durch Berührung mit einer aus Frankreich kommenden Strömung. Gerade für die erste Ausbreitung aber zeigt es sich als wichtig, dass in Frankreich die Wendung zur Gotik in mehreren Schulen gleichzeitig und in verschiedenen Formen ausgelöst worden war. Zu Anfang war keineswegs die (im engeren Sinn) französische, d. i. nordfranzösische Schule, deren überragende Bedeutung für die innere Entwicklung unbestritten ist, auch die einflussreichste in der Richtung auf das Ausland. Die erste große Welle der gotischen Flut setzt sich von Burgund aus in Bewegung, eine zweite kleinere vom Anjou.
Die primitive burgundische Gotik ist ein Produkt des Zisterzienserordens, die jüngere, aber wesentlich anders geartete Schwester der Kluniazenserkunst. Der Zisterzienserorden ist in der zweiten Hälfte des 12. und in der ersten des 13. Jahrhunderts nach der Quantität der Leistung der größte Bauherr im Abendland. Um das Jahr 1200 besaß er, über alle Länder verbreitet, 1800 Klöster, und alle wichtigeren unter ihnen hatten Anlass, in kurzem Abstand dreimal zu bauen: zuerst eine Notkirche, dann eine monumentale und bei der selten ausbleibenden Vergrößerung des Konvents noch eine. Das Meiste ließ er durch seine eigenen Werkleute ausführen, die von Bau zu Bau wanderten, wo sie im Augenblick gerade nötig waren. So erklärt sich, dass die Zisterzienserkirchen aller Länder ein sehr bestimmtes und gleichartiges Gepräge erhielten, auch ohne dass der Orden für ein einzelnes Formensystem Partei ergriffen hätte. Die Benediktinermönche des früheren Mittelalters waren die stolzen Vertreter einer höheren Kultur gewesen, die Zisterzienser wollten die Auswüchse der Kultur wieder beschneiden. Ihre Theorie, in der überweltliche Mystik und scharfer praktischer Verstand einen seltsamen Bund geschlossen hatten, war ausgesprochen kunstfeindlich. Nur der Baukunst ließen sie einen gewissen Raum, insofern sie sich durch Nützlichkeit rechtfertigte. Weshalb sie aus ihr alles entfernten, was nicht unmittelbar zweckmäßig war. Die Kirchen turmlos, bildlos, farblos, andererseits doch wieder von größter technischer Gediegenheit. Sie sind Freunde des Gewölbebaus und für viele Länder die ersten Lehrer darin; denn als nützlich erkennen sie ihn an. Das System, das sie um 1150 in ihrer burgundischen Heimat ausgebildet hatten, unterlag dort dem französischen schon gegen 1200, aber im Ausland lebte es noch lange fort. Der deutsche Übergangsstil ist aufs Stärkste über den engeren Kreis des Ordens hinaus von ihm beeinflusst; Italien hat am frühesten und längere Zeit allein in dieser Gestalt die Gotik gekannt; eben aus dieser Quelle schöpft Spanien und schöpfen die Kreuzfahrerkirchen des heiligen Landes. Der engen Verbindung mit den Zisterziensern schuldet die burgundische Frühgotik beides: die Weite ihres äußeren und die Enge ihres inneren Horizontes, ihre zeitweilig großen Erfolge und ihr entwicklungsloses Verharren im Primitivismus.
Die Frühgotik des Anjou, die nach der Zeit, in die ihre kurze Blüte fiel, auch Plantagenetstil genannt wird, hat in den Kathedralen von Angers und Poitiers Werke von hohem und eigenartigem Wert hervorgebracht. Zu ihrer Klientel gehörte der Südwesten mit Ausläufern auf die Pyrenäenhalbinsel. Einige Anregungen von ihr – wie nicht zu verkennen ist, wenn schon die näheren Umstände im Dunkel bleiben – kamen auch nach Holland und Westfalen. Die Eroberung des Landes durch Philipp August von Frankreich durchschnitt ihr aber den Lebensnerv. – Langsamer, aber unwiderstehlich brachte sich die französische Schule zur Geltung. Am frühesten fielen ihr die südlichen Niederlande zu und so vollständig, dass sie von der Zentralschule kaum zu trennen sind.
Ebenfalls früh, seit 1175, geriet England in die französische Wirkungssphäre. Die normännisch-romanische Baukunst wurde auf einen Schlag beiseite geworfen, ein radikaler Geschmackswechsel trat ein. Aber wenn er auch durch die Berührung mit der französischen Schule hervorgerufen war, so drang der französische Geist doch keineswegs tief ein. Eben weil die Engländer den französischen Stil so früh, in einem noch unfertigen Zustand, sich aneigneten, hatten sie die Freiheit, in die weitere Entwicklung ihren eigenen, erheblich anders gerichteten Willensinhalt zu legen. Die strenge konstruktive Gedankenzucht des Vorbildes blieb ihnen unverständlich oder gleichgültig. Sie fassten die Gotik als eine neue Dekorationsmethode, deren Einzelformen, von ihren logischen Wurzeln losgerissen, zu Wirkungen zusammengestellt wurden, die ihren eigenen Reiz haben; aber von der spezifischen Größe der französischen Auffassung ist darin nichts (Beispiele: Kathedralen von Salisbury, Lincoln, Wallis). – Die mittlere Epoche, die das 14. Jahrhundert einnimmt, nähert sich mehr der festländischen Weise; ein innerlich geschlossener Stil entsteht auch jetzt nicht, wenn auch einzelne ernste Raumschöpfungen für England nach dieser Richtung einen Höhepunkt bedeuten (Kathedrale von York, Westminsterabtei). – Kurz vor 1400 tritt noch einmal eine scharfe Wendung ein; so beginnt die letzte Epoche, die am längsten dauert, von der Zeit Chaucers bis auf die Shakespeares, und die dem kontinentalen Beobachter besonders englisch erscheint, in ihrer kühlen und sauberen Eleganz von der uns geläufigen Spätgotik recht abweichend. Kenntliche Merkmale sind die Häufung gerader, rechtwinklig sich durchkreuzender Glieder (danach: Perpendikular- oder Rektilinearstil), die Abflachung des Spitzbogens zum Tudorbogen, die häufige Lossagung vom Steingewölbe zugunsten zierlich spielender Holzkonstruktionen. (Beispiele: Langhaus der Kathedrale von Winchester, Kapelle Heinrichs VII. in London, St. Georgskapelle in Schloss Windsor.) Ein exklusiver Kirchenstil ist es überhaupt nicht mehr. Die zahlreichen Profanbauten, Königs- und Baronialschlösser, Kapitel- und Universitätsbauten sind fast noch in höherem Grad für seinen Charakter bestimmend gewesen. Bemerkenswert ist, dass die Engländer selbst unter vollster Herrschaft der Renaissance für ihre Gotik immer noch Sympathien behalten haben. Christopher Wren, der Erbauer der Paulskirche in London, hat an gotischen Kirchen durchaus stilgerechte Restaurationsarbeiten ausgeführt; im 18. Jahrhundert ließen sich englische und schottische Lords Schlösser in einem Stil bauen, der gotisch wenigstens sein sollte. 1740 gab Langley ein gotisches Musterbuch heraus, und dass das 19. Jahrhundert selbst auf dem Festland bei seinen neugotischen Repristinationen, wenigstens im Schlossbau, am liebsten durch die englische Brille sah, dafür sind uns die Belege nur zu bekannt.
Am längsten leistete Deutschland dem gotischen Stil Widerstand; Widerstand ist das richtige Wort; denn die deutschen Bauleute waren besser als die irgendeines anderen Landes mit den Neuerungen der Franzosen bekannt; es sind sichere Anzeichen dafür vorhanden, dass sie als Wanderarbeiter damals in ziemlicher Menge auf den französischen Bauplätzen sich einfanden. Der Grund ist der, dass in Deutschland der romanische Stil sich noch keineswegs ausgelebt hatte, ja eben im Begriff war, durch Wiederaufnahme antiker Baugedanken sich neu zu stärken. Seine glänzendste Zeit geht der französischen Frühgotik, zum Teil noch dem klassischen Stil, parallel. Hypothetisch darf wohl an die Möglichkeit gedacht werden, dass mit dem deutsch-romanischen Stil bei ungestörter Weiterentwicklung ein selbständiger Parallelstil zur französischen Gotik hervorgetreten wäre. Aber der Zug der Zeit zu weltbürgerlicher Kulturgemeinschaft und der zeitliche Vorsprung der Franzosen wurden entscheidend für die Rezeption. Der historische Vorgang ist sehr verwickelt. Wir werden den besten Überblick gewinnen, wenn wir drei Rezeptionsstufen unterscheiden, mit denen aber nicht ohne weiteres ein zeitliches Nacheinander, vielmehr ein prinzipieller Unterschied in der Art der Annäherung gemeint ist.
Die erste Stufe befasst den sog. Übergangsstil, von dem bereits oben die Rede war. Bestimmte Vorzüge des französischen Systems werden freudig anerkannt, man will sie als Hilfsmittel zur Erreichung der eigenen, wesentlich anders gearteten Ziele benutzen. Ein schönes Beispiel, wie viel entlehnt werden konnte ohne Verlust der Selbständigkeit, bietet die Stiftskirche zu Limburg an der Lahn. Das französische Vorbild (die Kathedrale von Laon) ist in ihr ebenso wahr und innerlich verdeutscht, wie auf ihrem Gebiet es die Gedichte Wolframs und Gottfrieds tun.
Auf der zweiten Stufe wird der Gedanke an die Verschmelzung romanischer und gotischer Formen aufgegeben. Der französische Formenapparat wird vollständig rezipiert, aber die mit ihm geschaffenen Raumkompositionen bewegen sich auf der Linie der deutschen Überlieferung; so die Liebfrauenkirche in Trier, ein Zentralbau, desgleichen in der französischen Gotik weder früher noch später versucht worden ist, und die Elisabethkirche in Marburg, eine Hallenkirche, d. i. ein Typus, den die französische Schule förmlich perhorreszierte; denn im Anjou und Poitou, wo sie ihn vorfand, hat sie ihn ausgerottet.
Erst die dritte Stufe lässt jede nationale Klausel fallen und bekennt sich rückhaltlos zum französischen Ideal, und zwar zu der glänzendsten Fassung desselben. Die Meister dieser Stufe arbeiten in voller Beherrschung des Stils, mit seinem Wesen innerlich so verwachsen wie nur irgendein Franzose selbst, nicht als Kopisten, sondern als freie Künstlerindividuen. Und deshalb vermögen sie gewisse Probleme, welche die französische Entwicklung nicht erledigt hatte, völlig kongenial und aufs Herrlichste weiterzuführen. Zeugnis: die Fassade von Straßburg, der Turm von Freiburg.
Der Punkt größter Annäherung an die französische Kunst, der im Dom von Köln erreicht war, bedeutet zugleich den Beginn einer Rückbiegung der Bahn. Sobald die Rezeption vollendet, der gotische Stil in allgemeinen Gebrauch genommen war – im Westen Deutschlands bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, im Norden und Osten etwa 25 Jahre später – musste notwendig eine Umbildung im Sinn der Vereinfachung eintreten (besonders augenfällig die Ausschaltung des Triforiums). Die Baumaterialien, die das deutsche Gebiet zur Verfügung hatte, eigneten sich bei weitem nicht überall für die reiche französische Formenbehandlung; der Wohlstand der Nation war nicht auf der Höhe, sich einen so ausgesprochenen Luxusstil zu erlauben; durch die Umwälzungen in Staat und Gesellschaft nach der Katastrophe des Kaisertums waren die alten aristokratischen Mächte gelähmt, war einer großen repräsentativen Kunst der Boden entzogen. Die jetzt der Baukunst die meiste Beschäftigung und die geistige Richtung gaben, waren das Bürgertum und die mit diesem in die Höhe gekommenen Bettelorden. Es wurde sehr viel gebaut – so viel, dass Deutschland bis zur großen Volksvermehrung im 19. Jahrhundert seinen Bedarf an Kirchenbauten zu einem großen Teil mit dem vom Mittelalter hinterlassenen Bestand decken konnte – aber nicht von innen heraus groß. Die Basilika, den früheren Jahrhunderten in ihrem vornehmen räumlichen Rhythmus eine unersetzlich wertvolle Kunstform, wurde mehr und mehr aufgegeben, und an ihre Stelle trat die Hallenkirche, d. i. die Anlage mit Schiffen von gleicher Höhe, ein zweckmäßiger, aber, wenigstens so wie er behandelt wurde, meist herzlich schwungloser Typus. Als eine Ehrensache des großen Gemeinwesens wurde es empfunden, die städtische Hauptkirche mit einem hohen, reichverzierten Turm zu begeben, bei dem aber nicht mehr an Harmonie mit dem Gebäude, sondern an die Silhouette des Stadtbildes gedacht wurde. Das Beste dieser Art reifte jedoch erst im 15. Jahrhundert. Das 14. Jahrhundert zeigt ein zunehmend unerfreulicher werdendes Bild: die Volksphantasie ernüchtert, die reichlich vorhandene Arbeitstüchtigkeit in schulmäßigen Formeln erstarrt.
Nur in einem Teil Deutschlands war noch eine höhere monumentale Gesinnung lebendig, wenn auch in rauer und harter Form: im äußersten Norden und Osten, im Herrschaftsgebiet der Hansa und des deutschen Ordens. Es ist merkwürdig, wie die einst in der romanischen Epoche so milde und harmonische Stimmung der niedersächsischen Architektur sich in der gotischen verwandelte. Der lange Kampf mit den Slawen und die Besitzergreifung der See hatte andere Geister wachgerufen. Die Baukunst der norddeutschen Tiefebene beruht auf der Backsteintechnik. Viel eigenster Reiz der ursprünglichen, durchaus auf die Eigenschaften des Hausteins gegründeten Gotik war dem Backsteinbau ein für allemal unerreichbar. Er machte eine sehr selbständige Umarbeitung der gotischen Formen nötig. Der norddeutsche Backsteinbau bietet weitaus nicht die glänzendste, aber sicher die originellste unter den Spielarten der deutschen Gotik. Er ist Massenbau. Kolossal in den Abmessungen, im Sinn der Massengliederung auch kraftvoll belebt, in der plastischen Ausbildung des Zierwerks sehr beschränkt. Die Denkmäler der Mark Brandenburg zeigen, dass unter Ausnutzung farbiger Kontraste aus dem Material, das die Ziegelöfen fertig liefern, sehr zierliche und reiche Flachdekorationen zusammengesetzt werden können. Echter und großartiger jedoch spricht der besondere Geist dieses Stiles aus den schmucklosen, aber gewaltigen Stadtkirchen der Ostsee, ein Geist des Stolzes und der Kühnheit auch in der Entsagung. Diese Kirchen drängen das Hallensystem, das der Übergangsstil aus Westfalen eingeführt hatte, wieder zurück, sie sind hochräumige Basiliken, und vor ihre Fassaden stellten sie mächtige Doppeltürme mit schlanken, kupfergedeckten Holzhelmen, weithin sichtbare Landmarken für die Schiffer. Rathäuser werden errichtet, denen das übrige Deutschland nichts Ähnliches entgegenzustellen hat. Der Burgenbau, anderorts gegen die Hohenstaufenzeit künstlerisch tief gesunken, stellt eine lange Reihe von Denkmälern hin, die Marienburg an der Spitze, durch deren Schlichtheit ein Atemzug echter Größe geht. In dieser kolonialen Kunst ist die Gotik, so schroff einseitig immer, wirklich verdeutscht.
Skandinavien besaß eine Holzarchitektur, die im Kirchenbau zu quasimonumentalem Charakter sich erhob. Ob die norwegischen »Stabkirchen« völlig autochthon oder von den irisch-schottischen Holzkirchen ausgegangen sind, ist nicht ausgemacht. Durch Eintragung von Motiven des Schiffbaus erhielten sie einen sehr eigentümlichen Charakter. Der Steinbau ist importiert und duldete Einfluss vonseiten des Holzbaues ebenso wenig, wie er ihn ehemals in Deutschland geduldet hatte. Zu nennenswerter Eigenart brachte er es nicht, es blickt immer der Stil des Ursprungslandes durch. Norwegen liegt in der englischen, Dänemark und Schweden, wie schon in der romanischen, so erst recht in der gotischen Zeit, in der deutschen Einflusssphäre; am Dom von Upsala waren vorübergehend sogar Franzosen tätig, und einige Zisterzienserkirchen bewahren merkwürdig treu den burgundischen Stempel.
So hatte sich die ganze germanische Welt dem zuerst im Norden Frankreichs formulierten »gotischen« Stil unumwunden angeschlossen; hie und da mit einiger Laxheit, öfters mit logisch gedachten Vereinfachungen, nirgends mit der Absicht, an seinen Grundgesetzen zu rütteln. Dieses zu tun, war Sache der Südfranzosen und Italiener. Beide haben den gotischen Stil nicht herbeigerufen, sondern ihn an sich kommen lassen als ein »Schicksal«, und beide stehen innerlich in tiefster Opposition zu ihm.
Ganz schroff zeigt sich diese Lage der Dinge in Südfrankreich. Hier, wo man nahe an die Renaissance der Antike herangekommen war, hatten die Albigenserkriege und die ihnen folgende Gewaltherrschaft der Nordfranzosen einen fast hundertjährigen Stillstand herbeigeführt. Von 1270 ab ließen Bischöfe, welche die Gunst der Krone suchten, eine Reihe von Kathedralen in rein nordfranzösischem Stil durch nordfranzösische Meister errichten. Keine derselben gelangte weiter als bis zur Vollendung des Chores (Kathedralen von Toulouse, Narbonne u. a. m.). Erst ganz zum Schluss des 13. Jahrhunderts war das Selbstbewusstsein der Südländer soweit wieder belebt, dass sie das Bauwesen in die eigene Hand nahmen. Ihre erste Tat ist die Wiederherstellung des nationalen Kirchentypus, des einschiffigen Saales (Alby, Toulouse, Carcassonne, Perpignan; nahe verwandt einige besonders großartige Bauten in Katalonien). Er wird jetzt gotisch konstruiert, aber ästhetisch hat er mit der Gotik wenig gemein. Der mit schmalen Kreuzgewölben überdeckte, fast immer gewaltig große Raum wird eingeschlossen von breiten, nur durch magere Dienste schwach gegliederten Wandflächen, darin stehen in weiten Abständen hohe schmale Fenster; der gotische Formenapparat ist auf ein Weniges zusammengeschmolzen; das Äußere sieht festungsartig aus, ist turmlos. Der Kunstgehalt dieser pseudogotischen Architektur liegt durchaus im Raumfaktor, nicht im Gliederorganismus. Ein spezifisch südliches, der Antike nahe gebliebenes Gefühl spricht daraus, in seiner trotzigen Proteststimmung freilich zum Herben und Harten gewendet.
Dasselbe Gefühl, doch freudig und schwungvoll, lebt in der italienischen Gotik. Viel älter als das, was man allein so nennen darf, ist eine gotische Importkunst, die gleichsam nur zufällig auf italienischem Boden steht, aber innerlich dem italienischen Genius fremd bleibt. Sie wurde sehr früh, seit 1187, durch die Zisterzienser eingeführt. Die umfänglichste Gruppe befindet sich im Süden Roms, in den Volskerbergen und in den Abruzzen, einzelne Denkmäler sind über die ganze Halbinsel zerstreut. Eine zweite Gruppe steht in Zusammenhang mit den Kreuzfahrerbauten im heiligen Land; zu ihr gehören die prachtvollen Schlösser, die Kaiser Friedrich II. in Apulien und Sizilien errichten ließ. Eine dritte, ohne Zusammenhang mit der vorigen, rührt von der Eroberung Neapels durch die Anjou her. Sie alle vermochten keinen lebensfähigen Nachwuchs zu erzeugen. Wirkliche Einbürgerung des nordischen Stils vollzog sich erst dadurch, dass die Bettelorden, die neue Großmacht im Geistesleben Italiens, für ihn Partei ergriffen. Sie empfingen ihn aus den Händen der Zisterzienser, haben ihn aber sofort in italienischem Geist umgestaltet. Das System wechselt – bald sind es Basiliken, bald einschiffige Kirchen, bald sind sie flach gedeckt, bald gewölbt – der Charakter ist gleichartig. Er kann mit denselben Worten definiert werden, die wir oben von den südfranzösischen Bauten brauchten: der Schwerpunkt liegt in der Raumerscheinung, der sich dem (viel einfacher als im französischen System behandelten) Gliederbau ganz unterordnen muss. (Beispiele: Santa Maria novella und Santa Croce in Florenz, Frari und Santi Giovanni e Paolo in Venedig, Carmine in Pavia.) Die letzten und entscheidenden Schritte zur Italisierung taten dann die großen, seit Ende des 13. Jahrhunderts in Angriff genommenen, wesentlich im 14. Jahrhundert ausgeführten Kathedralbauten, an der Spitze der Dom von Florenz. Hier handelt es sich nicht etwa um eine neue Abwandlung und besondere Interpretation des gotischen Bauideals, sondern um eine Abkehr von ihm: Raumbegrenzung durch ruhige, von wenigen und kleinen Fenstern nur unterbrochenen Wandflächen, Raumgliederung in wenige, aber große und scharf gegeneinander isolierte Abteilungen, Beschränkung des konstruktiven Apparats und überhaupt Stillung des Bewegungsdranges, große Vereinfachung der Außenansicht durch Wegfall des Strebewerkes und der Türme, ganz neu die Steigerung durch einen gewaltigen Kuppelbau. Genug: in allem, was wesentlich ist, keine Gotik – auch keine missverstandene – sondern eine sehr bewusst antigotische Gotik – in Wahrheit latente Renaissance.